1917-1977

Bilanz einer Revolution

(»Kommunistisches Programm«, Nr.15/16, Oktober 1977)

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  Inhalt:

 

Vorbemerkung

I.   Die großen Lehren der Oktoberrevolution

II.  Die falschen Lehren aus der Konterrevolution in Russland

III. Die sowjetische Wirtschaft vom Oktober bis heute

 

 

II. Die falschen Lehren aus der Konterrevolution in Russland

 

 

NUR DER MARXISMUS ZIEHT DIE LEHREN AUS DER GESCHICHTE

 

 

Bis jetzt hatte das XX. Jahrhundert ein nur äußerst unvollkommenes Bewusstsein von der Bedeutung und Tragweite der Revolution und der Konterrevolution, die sich seit 1917 in Russland abspielten und in denen sich fünfzig Jahre nach dem Oktober leider nach wie vor das Wesentliche des proletarischen Klassenkampfes der imperialistischen Epoche zusammenfasst.

Sieht man von den Vertretern der Sowjetunion und von ihren engstirnigsten Gegnern ab, so wird man allerdings keine Partei, Strömung oder Schule finden, die nicht mehr oder weniger klar empfunden hätte, dass die historischen Endergebnisse der russischen Revolution von den Zielen, die die bolschewistische Partei des Jahres 1917 verfolgte, nicht nur abweichen, sondern ihnen diametral entgegengesetzt sind. Dass dieser Widerspruch gleichzeitig der Beweis dafür ist, dass die Oktoberrevolution von einer Konterrevolution abgelöst wurde, statt siegreich auf dem ursprünglichen Weg fortzuschreiten, wurde jedoch kaum verstanden - oder man hatte kein Interesse, es zu sagen. Und selbst von denjenigen, die sich von der Verschleierung dieser Konterrevolution hinter dem scheinbaren Verbleib derselben Partei an der Macht in der UdSSR nicht völlig täuschen ließen, war wohl keiner imstande, sie - sei es im politischen oder im ökonomischen Bereich - genau zu kennzeichnen, denn außerhalb der kleinen proletarischen Partei von heute stellen Alle dem »bürokratischen Nationalismus« der Partei Stalins einen vermeintlichen, internationalistischen »Demokratismus« der Partei Lenins entgegen und erblicken andererseits in der russischen Ökonomie und Gesellschaft eine Form von »Sozialismus« oder von »Postkapitalismus«.

Diese wissenschaftliche Ohnmacht der bürgerlichen Welt hat sie wohlgemerkt nicht daran gehindert, auf ihre Art die »Lehren« der stalinistischen Konterrevolution zu »ziehen«, die Lehren eines historischen Prozesses also, den sie nicht verstanden und oft nicht einmal konstatiert hat - so groß ist die politische Umnachtung des Klassenfeindes des Proletariats.

Die traditionellen bürgerlichen Strömungen sehen in der Kluft zwischen Zielen und Ergebnissen der Oktoberrevolution die »Bestätigung« dafür, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die Teilung der Gesellschaft in Klassen und das Staatswesen einen natürlichen und somit unzerstörbaren Charakter haben, mit anderen Worten dass der Kommunismus eine absolut unrealisierbare Utopie ist. Für die Sozialdemokraten würde diese Kluft »beweisen«, dass die Revolution im allgemeinen ein Wahnsinn ist, zumal die Revolution in einem kapitalistisch schwach entwickelten Land; für die Anarchisten würde sie «beweisen«, dass die Revolution zur Niederlage verurteilt ist, wenn man nicht auf der Stelle jede Staatsform - welche auch immer - abschafft; für die Ouvrieristen (Anarchosyndikalisten, Rätekommunisten und Selbstverwaltungskommunisten aller Schattierungen) würde sie »beweisen«, dass die Diktatur des Proletariats eine unbegrenzte politische Demokratie für die Arbeiter, bzw. der Sozialismus eine unbegrenzte Wirtschaftsdemokratie für die Produzenten im allgemeinen sein muss; für die Trotzkisten würde sie »beweisen«, dass der Kommunismus politisch entarten kann, wenn er die Demokratie verbannt: Er bestünde dann nur in der Wirtschaftssphäre weiter und bedürfe einer rein politischen Revolution als Kurskorrektur.

Seit vierzig Jahren (Seit dem Sieg des Stalinismus Ende der 20er Jahre sind inzwischen 50 Jahre verstrichen.) erdrückt die bürgerliche Welt die Arbeiterklasse unaufhörlich mit der Last dieser vermeintlichen Lehren aus der Konterrevolution in Russland. Doch schon aus der blossen Formulierung geht deutlich genug hervor, dass sie nichts Neues darstellen. Das ist erklärlich, denn aus einem verständlichen Klassenhass oder infolge der Kapitulation der »Meister« des Proletariats vor der herrschenden Ideologie kann die bürgerliche Welt aus der geschichtlichen Erfahrung nichts anderes »Hervorlocken« als ihre eigene Klassenweisheit. Die Schlussfolgerungen, die sie daraus zieht, sind lauter Wiederholungen uralter Thesen, Wiederholungen ihrer eigenen Prämissen. Und so werden diese verschiedenen »Lehren« trotz aller Unterschiede doch durch ein gemeinsames Charakteristikum vereint: Sie richten sich ausnahmslos gegen den Marxismus, den revolutionären Kommunismus, ob sie nun dessen Zusammenbruch oder Irrtum verkünden, oder - was noch schlimmer ist - den Stalinismus als Vorwand benutzen, ihn zu entstellen und zu verwässern: Um den Marxismus von der »Verantwortung für das Aufkommen des Stalinismus zu befreien«, um die »Ehre des Marxismus zu retten«, zögern sie nicht davor, große Kommunisten wie Lenin und Trotzki nachträglich in »authentische Demokraten« zu verwandeln.

Objektiv erscheint die proletarische Niederlage in Russland als ein erneutes Scheitern des Emanzipationskampfes des Proletariats, wie im 19. Jahrhundert die Niederlagen von 1848 und 1871 und am Anfang dieses Jahrhunderts die von 1905. Wenn jedoch diese Niederlage die große Niederlage des 20. Jahrhunderts gewesen ist, so weil die Oktoberrevolution der erste große Sieg war. Und wenn sie zugleich die größte Niederlage in der Geschichte der Arbeiterbewegung darstellt, so weil der russische Oktober der einzige Sieg im gesamtstaatlichen Maßstab eines großen Landes war. Was dem Kommunismus anlässlich der früheren proletarischen Niederlagen den Vorwurf des theoretischen und praktischen Zusammenbruchs erspart hatte, war ganz einfach die Tatsache, dass er als Partei noch nicht stark genug gewesen war, die Bewegung zu führen. Und wenn heute die bürgerliche Welt versuchen kann, ihn angesichts der Entwicklung des russischen Oktobers unter diesem Vorwurf zu erdrücken, so musste der Kommunismus doch zunächst soweit erstarken, dass er zur einzigen Partei der Revolution und des Sieges wurde. Dies war kein Zufall - doch gerade das vergessen die Revisionisten. Wenn die Bourgeoisie versucht, unter den Trümmern der russischen Revolution den Kommunismus im Allgemeinen zu begraben, so macht sie nur einen logischen Gebrauch vom Kriegsrecht: Wehe den Besiegten! Wenn aber die »Führer« des Be­siegten sich an »Revisionen« heranmachen, so ziehen sie ebensowenig wie die Bourgeoisie »die Lehren der Geschichte« - sie senken ganz einfach den Kopf unter dem Schmähruf !

Die ganze bürgerliche Welt reagiert so, als liefere die Kommunistische Partei Lenins das einzige geschichtliche Beispiel dafür, dass man die und die Ziele verfolgt und völlig entgegengesetzte Ergebnisse erzielt. Wäre dem so, so würde dies ohne Zweifel gegen uns sprechen. lm Verlauf der ganzen Geschichte der Klassengesellschaft haben jedoch die Ergebnisse der Kämpfe nur im Ausnahmefall den verfolgten Zielen entsprochen, der Widerspruch zwischen beiden war immer die Regel. Und erst der historische Materialismus hatte das Verdienst, diese Wahrheit hervorzuheben und den Beweis zu erbringen, dass der Lauf der Geschichte wie die Entwicklung der Natur objektiven Gesetzen und nicht dem Bewusstsein oder dem Willen der Menschen - Klassen und Parteien - unterworfen ist (1). Mit anderen Worten: Erst der historische Materialismus stellte klar, dass die Menschen zwar ihre Geschichte machen, dass sie dabei aber keineswegs frei sind. Diese Wahrheit steht allerdings außerhalb der Verständnissphäre nicht nur der Bourgeoisie sondern aller Sorten des Revisionis­mus. Keiner kann in der Tat begreifen, dass, wenn die Niederlage unserer Partei in Russland etwas beweist, dann eben ganz einfach, dass wie die anderen Menschen auch die Kommunisten dem Determinismus unterworfen sind (2).

Wenn man wissen will, wie die proletarische Partei an die Niederlagen ihrer eigenen Klasse herangeht, so kann man nichts besseres tun, als sich mit dem hervorragenden Passus zu beschäftigen, in dem Friedrich Engels (»Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, 1886-1888) die spezifische Methode des dialektischen Materialismus erklärt:

»Nun aber erweist sich die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft in einem Punkt als wesentlich verschiedenartig von der der Natur. In der Natur (...) sind es lauter bewusstlose blinde Agenzien, die aufeinander einwirken und in deren Wechselspiel das allgemeine Gesetz zur Geltung kommt. Von allem, was geschieht (...), geschieht nichts als gewollter bewusster Zweck. Dagegen in der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewusstsein begabte, mit Überlegenheit oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichts geschieht ohne bewusste Absicht, ohne gewolltes Ziel. Aber dieser Unterschied, so wichtig er für die geschichtliche Untersuchung namentlich einzelner Epochen und Begebenheiten ist, kann nichts ändern an der Tatsache, dass der Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht wird. Denn auch hier herrscht auf der Oberfläche, trotz der bewusst gewollten Ziele aller einzelnen, im Ganzen und Großen scheinbar der Zufall. Nur selten geschieht das Gewollte, in den meisten Fällen durchkreuzen und widerstreiten sich die vielen gewollten Zwecke oder sind diese Zwecke selbst von vornherein undurchführbar oder die Mittel unzureichend. So führen die Zusammenstöße der zahllosen Einzelwillen und Einzelhandlungen auf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbei, der ganz dem in der bewusstlosen Natur herrschenden analog ist. Die Zwecke der Handlungen sind gewollt, aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt, oder soweit sie dem gewollten Zweck zunächst doch zu entsprechen scheinen, haben sie schließlich ganz andere als die gewollten Folgen. Die geschichtlichen Ereignisse erscheinen so im Ganzen und großen ebenfalls von der Zufälligkeit beherrscht. Wo aber auf der Oberfläche der Zufall sein Spiel treibt, da wird er stets durch innere verborgene Gesetze beherrscht, und es kommt nur darauf an, diese Gesetze zu entdecken.«

»Die Menschen machen machen ihre Geschichte, wie diese auch immer ausfalle, indem jeder seine eignen, bewusst verfolgten Zwecke verfolgt (...) Es kommt also auch darauf an, was die vielen einzelnen wollen (...) Aber einerseits haben wir gesehen, dass die in der Geschichte tätigen vielen Einzelwillen meist ganz andere als die gewollten - oft geradezu die entgegengesetzten - Resultate hervorbringen (...) Andererseits fragt sich Welter, welche treibenden Kräfte wieder hinter diesen Beweggründen stehen, welche geschichtlichen Ursachen es sind, die sich in den Köpfen der handelnden zu solchen Beweggründen umformen?«

»Diese Frage hat sich der alte Materialismus nie vorgelegt.« (3) Die modernen Revisionisten ebensowenig!

Die »inneren verborgenen Gesetze« der Konterrevolution in Russland zu entdecken; die »treibenden Kräfte«, die »geschichtlichen Ursachen« für die »Beweggründe« zu suchen, die sich die Menschen - Massen, Parteien und Führer - für ihre Handlungen und Kämpfe selbst gaben - allein die proletarische Partei kann sich diese Aufgabe stellen. Und, um sie zu bewältigen, geht sie von folgendem entscheidenden Leitfaden aus, den Engels im »Anti-Dühring« so formuliert:

»Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, dass die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert wird und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen (...), sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise.« (4)

Dies ist all jenen Strömungen nicht zugänglich, die, zwischen einigen marxistischen Wahrheiten und der überlieferten Anschauung hin und her gerissen, zwar die Klassen und Parteien anstelle der Individuen und der Führer zu den Trägern des Bewusstseins und des Willens machen, diese aber nach wie vor in idealistischer Manier als beherrschende Instanz betrachten und sich dessen nicht gewahr werden, dass das Problem des Determinismus dadurch nicht gelöst, sondern nur verlagert wird. Ihnen bleibt deshalb die Einsicht verwehrt, dass die Geschichte zu verstehen - und sei es die der zeitweiligen Niederlage des eigenen Lagers - heißt, den zwangsläufigen Charakter des Geschehenen zu beweisen, und dass die Lehren der Geschichte zu ziehen keineswegs bedeutet, das Programm des wissenschaftlichen Sozialismus zu revidieren, sondern im Lichte der Tatsachen die Bedingungen seines Sieges noch genauer zu zeichnen. Ihnen bleibt daher nichts anderes übrig, als auf uralte Vorurteile zurückzugreifen und im Abstrakten zu suchen, welches andere Bewusstsein, welcher andere Wille den Lauf der vergangenen Geschichte ihren selbst mehr oder weniger willkürlichen Wünschen näher gebracht hätte und in der Zukunft den Sieg unfehlbar sichern würde. An diesem Punkt wird die geschichtliche Sache des Proletariats durch das Sektendogma, bzw. durch die individuelle Phantasie je nach Tagesmode ersetzt, während anstelle der revolutionären Militanten Propheten treten, halb beseelt durch offenbarte Wahrheiten, die nie etwas anderes sein können als ebenso viele Revisionen - und die Bourgeoisie triumphiert!

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DIE KLASSISCHE BÜRGERLICHE »LEHRE«

 

 

Heute hängt sich selbst die Bourgeoisie einen »sozialistischen« Mantel um, und es wäre deshalb sicherlich schwierig, ein aktuelles Beispiel für die »Lehre« der russischen Konterrevolution im Sinne des klassischen bürgerlichen Denkens zu bringen. Es ist aber leicht, diese »Lehre« zu rekonstruieren. Sie hat zwei Fassungen: Eine ist grösser, die andere raffinierter; und, wenn beide zwar immer nebeneinander auftraten, so entspricht die erste doch besser der »stalinistischen« Phase der Konterrevolution und die zweite der Phase, die sich mit dem Namen Chruschtschows und seiner Nachfolger verbindet.

Die größere Fassung besagt ganz schlicht: »Der Kommunismus ist schlechter als der Kapitalismus«. Der Umfang des Elends, der Stumpfsinn, die Unterdrückung und - um mit Trotzki zu reden - die finstere Irrationalität der stalinistischen Ära sicherten dieser These einen Erfolg, den sie in ihrer Grobschlächtigkeit nicht verdient hätte, obwohl ihrerseits auch die stalinistische Weltbewegung nicht die Verteidigung des Kommunismus vor Augen hatte, als sie jahrzehntelang die unglaublichsten Fälschungen betrieb in der Hoffnung, die Wahrheit würde den Arbeitern des Westens verdeckt bleiben.

Dieser Fassung der bürgerlichen »Lehre« entgegnet die proletarische Partei zweierlei. Zunächst selbstverständlich, dass das stalinistische Russland (und das gilt in noch stärkerem Masse für das »entstalinisierte« Russland) nichts, aber auch nichts mit dem Kommunismus oder mit irgendeiner Zwischenstufe zu dieser ökonomischen und gesellschaftlichen Formation zu tun hat (5). Für sich genommen braucht diese Behauptung allerdings kein Alleingut der proletarischen Partei zu sein; die zweite ist ihr jedoch eigen: Sie zeigt, dass die Phase der russischen Geschichte, die nicht nur der Stalinismus, sondern auch die Bourgeoisie und selbst der Trotzkismus in einer absoluten Begriffsverwirrung für Kommunismus ausgaben, auch nicht die absurde und sinnlose Agonie eines ganzen Volkes, oder etwa die von der idiotischen westlichen Propaganda hingemalte Reihe von überflüssigen, von der »Willkür« des Despoten Stalin verursachten Erschütterungen darstellte, sondern eine große soziale Revolution. Und wenn die Klassennatur dieser Revolution derjenigen, die von den Kommunisten um Lenin verfolgt wurde, entgegengesetzt war, so war sie dennoch alles andere als geschichtlich steril, war sie ja vielmehr reich an explosiven Entwicklungen für die fernere Zukunft: Es handelt sich nämlich um dieselbe kapitalistische Revolution, die alle fortgeschrittenen Länder selbst in der Vergangenheit durchmachten, deren Schrecken und maßlose Qualen sie aber seit langem vergessen haben. Was die »raffiniertere« Fassung angeht, so hätte sie die Bourgeoisie ohne die Hilfe der pedantischen deutschen und österreichischen Sozialdemokraten aus Stalins Zeiten nicht ausarbeiten können; heute hat sie es insofern leichter, als es ihr diesbezüglich genügt, an die Gedankengänge der »Kommunisten« des Ostens selbst anzuknüpfen. Diese »Lehre« besagt im Grunde folgendes: Wenn Russland (und der Ostblock) sich den kapitalistischen Gesetzen (Wertgesetz, allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, Reproduktionsgesetz des Kapitals ) nicht entziehen konnte, wenn es Russland nicht gelang, Produktion und Konsumtion anders als durch den Austausch zu verbinden, wenn es neben dem Handel zwischen Stadt und Land auch den Kauf und Verkauf der Arbeitskraft, d.h. die Lohnarbeit, die der Kommunismus abschaffen wollte, beibehielt, so bedeutet das, dass diese Gesetze und diese Gesellschaftsordnung so naturgegeben und damit unveränderbar sind wie beispielsweise das Planetensystem. Mit anderen Worten die russische Konterrevolution wäre keine Konterrevolution gewesen, sondern die Rückkehr zu einer Ordnung, die die Bolschewiki vergeblich und irrsinnigerweise zu verändern versucht hatten, und zugleich der historische Beweis für den utopischen und wirklichkeitsfremden Charakter dessen, was wir wissenschaftlichen Sozialismus nennen.

In ihrem Versuch, aus unserer Klassenniederlage eine Bestätigung ihrer konservativen und antiproletarischen Thesen zu ziehen, macht die Bourgeoisie so vom Siegerrecht ohne unnötige Bedenken Gebrauch; als »Lehre der Geschichte« sind ihre Ergebnisse jedoch gleich null, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens haben sich die bolschewistische Partei und Lenin niemals eingebildet, sie hätten in Russland kurzfristig den Kapitalismus aus Ökonomie und Gesellschaft verbannen können, wie sie es mit der zaristischen und bürgerlichen politischen Herrschaft getan hatten (hat denn die bürgerliche Welt im Laufe eines halben Jahrhunderts wirklich keinen blassen Schimmer von dieser Tatsache bekommen?). Sie haben im Gegenteil immer erklärt, sie hätten eine internationale proletarische Revolution begonnen, und erst der Sieg dieser Revolution würde erlauben, zwar nicht eines schönen Tages den Sozialismus im rückständigen Russland zu »erlassen«, sondern die notwendige Phase der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung unter politischer Kontrolle des Proletariats auf ein Mindestmaß zu kürzen. Die bürgerliche »Lehre« beweist also lediglich, dass die »demokratischen Freiheiten« dem Westen keineswegs erlaubt haben, sich von der bolschewistischen Revolution eine weniger idiotische Auffassung zu bilden als die, die Russland jahrzehntelang von der so verschrieen stalinistischen Diktatur als Staatsdogma aufgezwungen wurde.

Desweiteren ist diese Lehre gleich null aus dem wesentlichen Grund, dass der wissenschaftliche Sozialismus eine vollständige Geschichts- und Weltanschauung darstellt, welche die Ideologen der Bourgeoisie weder vor noch nach dem Oktober 1917 theoretisch widerlegen konnten. Im Gegenteil, sie wurden von der Wirklichkeit gezwungen, ihr gewisse Wahrheiten zu entnehmen. Man kann also nichts Besseres tun, als dem leichtfertigen bürgerlichen Vorwurf des »Utopismus« den wirklichen Kommunismus entgegenzustellen. Damit will man selbstverständlich nicht den Klassenfeind »überzeugen«, sondern den Defätismus innerhalb des Proletariats bekämpfen und zunächst die theoretischen Grundlagen klar zeichnen, von denen in der Folge ausgegangen wird, um die revisionistischen »Lehren« zu widerlegen. Diese haben zwar niemals dieselbe abstumpfende Verwegenheit der klassischen bürgerlichen »Lehren« zu Tage bringen können, drücken jedoch dieselbe Ablehnung des wissenschaftlichen Sozialismus oder dieselbe Unfähigkeit, ihn zu verstehen, aus.

Zu diesem Zweck werden wir die klassische, unübertreffliche aber verkannte Ausarbeitung zusammenfassen, die Engels davon im zweiten Kapitel des dritten Teils (»Sozialismus«) des »Anti Dühring« gibt. Wir werden dabei den Text etwas anders ordnen, um die verschiedenen Momente einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hervorzuheben, die, weit davon entfernt, zu allen Zeiten bestanden zu haben und einer unwandelbaren »Vernunft« zu entsprechen, aus genau umrissenen historischen Bedingungen entstand und von Anbeginn unter der Irrationalität leidet, welche dieser Ursprung implizierte und welche sie selbst vergeblich zu überwinden sucht, eine Produktionsweise, die schließlich keine ewige Zukunft hat, sondern aufgrund ihrer Entwicklung ihrer inneren Widersprüche dazu bestimmt ist, in der größten sozialen Revolution der Geschichte zugrunde zu gehen.

 

Die Warenproduktion: Wiege des Kapitalismus

 

Vor der kapitalistischen Produktion bestand allgemeiner Kleinbetrieb auf Grundlage des Privateigentums der Arbeiter an ihren Produktionsmitteln. Die Arbeitsmittel - Land Ackergerät, Werkstatt, Handwerkszeug - waren Arbeitsmittel des einzelnen, nur für den Einzelgebrauch berechnet, also notwendig kleinlich, zwerghaft beschränkt. Wo aber die naturwüchsige Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft Grundform der Produktion ist, da drückt sie den Produkten die Form der Waren auf, deren gegenseitiger Austausch, Kauf und Verkauf die einzelnen Produzenten in den Stand setzt, ihre mannigfaltigen Bedürfnisse zu befriedigen. In der Warenproduktion konnte die Frage gar nicht entstehen, wem das Erzeugnis der Arbeit gehören solle. Der einzelne Produzent hatte es, in der Regel aus ihm gehörenden, oft selbst erzeugten Rohstoff, mit eigenen Arbeitsmitteln und mit eigener Handarbeit oder der seiner Familie hergestellt. Es brauchte gar nicht erst von ihm angeeignet zu werden, es gehörte ihm ganz von selbst. Das Eigentum der Produkte beruhte also auf eigener Arbeit. Aber jede auf Warenproduktion beruhende Gesellschaft hat das Eigentümliche, dass in ihr die Produzenten die Herrschaft über ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen verloren haben. Jeder produziert für sich mit seinen zufälligen Produktionsmitteln und für sein individuelles Austauschbedürfnis. Keiner weiß, wieviel von seinem Artikel auf den Markt kommt, wieviel davon überhaupt gebraucht wird, keiner weiß, ob sein Einzelprodukt einen wirklichen Bedarf vorfindet, ob er seine Kosten herausschlagen oder überhaupt wird verkaufen können. Es herrscht Anarchie der gesellschaftlichen Produktion. Aber die Warenproduktion, wie jede andere Produktionsform, hat ihre eigentümlichen, inhärenten, von ihr untrennbaren Gesetze und diese Gesetze setzen sich durch, trotz der Anarchie, in ihr, durch sie. Sie kommen zum Vorschein in der einzigen fortbestehenden Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs, im Austausch, und machen sich geltend gegenüber den einzelnen Produzenten als Zwangsgesetze der Konkurrenz. Sie sind diesen Produzenten also anfangs selbst unbekannt und müssen erst durch lange Erfahrung nach und nach von ihren entdeckt werden. Sie setzen sich also durch ohne die Produzenten und gegen die Produzenten, als blindwirkende Naturgesetze ihrer Produktionsform. Das Produkt beherrscht die Produzenten.

 

Die kapitalistische Revolution ist lediglich eine halbe Revolution

 

Diese zersplitterten, engen Produktionsmittel zu konzentrieren, auszuweiten, sie in die mächtig wirkenden Produktionshebel der Gegenwart umzuwandeln, war gerade die historische Rolle der kapitalistischen Produktionsweise. Die Bourgeoisie konnte aber jene beschränkten Produktionsmittel nicht in gewaltige Produktivkräfte verwandeln, ohne sie aus Produktionsmitteln des einzelnen in gesellschaftliche, nur von einer Gesamtheit von Menschen anwendbare Produktionsmittel zu verwandeln. Und wie die Produktionsmittel so verwandelte sich die Produktion selbst aus einer Reihe von Einzelhandlungen in eine Reihe gesellschaftlicher Akte und die Produkte aus Produkten einzelner in gesellschaftliche Produkte. Kein einzelner kann von ihm sagen: Das habe ich gemacht, das ist mein Produkt. Diese neue Produktionsweise schob sich also in die Gesellschaft der Einzelproduzenten ein. Mitten in die naturwüchsige planlose Teilung der Arbeit, wie sie in der ganzen Gesellschaft herrschte, stellte sie die planmäßige Teilung der Arbeit, wie sie in der einzelnen Fabrik organisiert war; neben die Einzelproduktion trat die gesellschaftliche Produktion. Die Einzelproduktion erlag auf einem Gebiet nach dem anderen, die gesellschaftliche Produktion revolutionierte die ganze alte Produktionsweise.

Aber dieser ihr revolutionärer Charakter wurde so wenig erkannt, dass sie im Gegenteil eingeführt wurde als Mittel zur Hebung und Förderung der Warenproduktion. Sie entstand in direkter Anknüpfung an bestimmte, bereits vorgefundene Hebel der Warenproduktion und des Warenaustausches: Kaufmannskapital, Handwerk, Lohnarbeit. Indem sie selbst auftrat als eine neue Form der Warenproduktion, blieben die Aneignungsformen der Warenproduktion auch für sie in voller Geltung. Die gesellschaftlichen Produktionsmittel und Produkte wurden behandelt, als wären sie nach wie vor die Produktionsmittel und Produkte einzelner. Hatte bisher der Besitzer der Arbeitsmittel sich das Produkt angeeignet, weil es in der Regel sein eigenes Produkt war, so fuhr jetzt der Besitzer der Arbeitsmittel fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Produkt war, sondern ausschließlich Produkt fremder Arbeit. Produktionsmittel und Produktion sind wesentlich gesellschaftlich geworden. Aber sie werden unterworfen einer Aneignungsform, die die Privatproduktion einzelner zur Voraussetzung hat, wobei also jeder sein eigenes Produkt besitzt und zu Markte bringt. Die Produktionsweise wird dieser Aneignungsform unterworfen, obwohl sie deren Voraussetzung aufhebt.

 

Die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung: Schlüssel für den tragischen Verlauf der bürgerlichen Herrschaft

 

In diesem Widerspruch, der der neuen Produktionsweise ihren kapitalistischen Charakter verleiht, liegt die ganze Kollision der Gegenwart bereits im Keim. Je mehr die neue Produktionsweise auf allen entscheidenden Produktionsfeldern und in allen ökonomisch entscheidenden Ländern zur Herrschaft kam, desto greller musste auch die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung an den Tag treten.

Mit dem Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise traten auch die bisher schlummernden Gesetze der Warenproduktion offener und mächtiger in Wirksamkeit. Die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion trat an den Tag und wurde mehr und mehr auf die Spitze getrieben. Das Hauptwerkzeug aber, womit die kapitalistische Produktionsweise diese Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion steigerte, war das ge­rade Gegenteil der Anarchie: Die steigende Organisation der Produktion als gesellschaftlicher in jedem einzelnen Produktionsetablissement. Wo sie in einem Produktionszweig eingeführt wurde, litt sie keine ältere Methode des Betriebs neben sich. Das Arbeitsfeld wurde ein Kampfplatz. Nicht nur brach der Kampf aus zwischen den einzelnen Lokalproduzenten; die lokalen Kämpfe wuchsen ihrerseits an zu nationalen. Die grolle Industrie endlich und die Herstellung des Weltmarktes haben den Kampf universell gemacht und gleichzeitig ihm eine unerhörte Heftigkeit gegeben. Zwischen einzelnen Kapitalisten wie zwischen ganzen Industrien und ganzen Ländern entscheidet die Gunst der natürlichen oder geschaffenen Produktionsbedingungen über die Existenz. Der Unterliegende wird schonungslos beseitigt. Es ist der Darwin’sche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. Der Naturstandpunkt des Tieres erscheint als Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung reproduziert sich als Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der Produktion in der ganzen Gesellschaft.

Vermittels der Anarchie der Produktion in der Gesellschaft verwandelt sich die aufs höchste gesteigerte Verbesserungsfähigkeit der modernen Maschinerie in ein Zwangsgebot für den einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie stets zu verbessern, ihre Produktionskraft stets zu erhöhen. In ein ebensolches Zwangsgebot verwandelt sich für ihn die bloße faktische Möglichkeit, seinen Produktionsbereich zu erweitern. Die enorme Ausdehnungskraft der großen Industrie tritt uns jetzt vor Augen als ein qualitatives und quantitatives Ausdehnungsbedürfnis, das jeden Gegendruckes spottet. Der Gegendruck wird gebildet durch die Konsumtion, den Absatz, die Märkte für die Produkte der großen Industrie. Aber die Ausdehnungsfähigkeit der Märkte, extensive wie intensive, wird beherrscht zunächst durch ganz andere, weit weniger energisch wirkende Gesetze. Die Ausdehnung der Märkte kann nicht Schritt halten mit der Ausdehnung der Produktion. Die Kollision wird unvermeidlich - und das sind die Krisen. In den Krisen kommt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung zum gewaltsamen Ausbruch. Der Warenumlauf ist momentan vernichtet; das Zirkulationsmittel, das Geld, wird Zirkulationshindernis; alle Gesetze der Warenproduktion und Warenzirkulation werden auf den Kopf gestellt. Die ökonomische Kollision hat ihren Höhepunkt erreicht: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschweise, die Produktivkräfte rebellieren gegen die Produktionsweise, der sie entwachsen sind.

 

Vergebliche Harmonisierungsbemühungen der Bourgeoisie

 

Es ist dieser Gegendruck der gewaltig anwachsenden Produktivkräfte gegen ihre Kapitaleigenschaft, dieser steigende Zwang zur Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Natur, der die Kapitalistenklasse selbst nötigt, mehr und mehr, soweit dies innerhalb des Kapitalverhältnisses überhaupt möglich, sie als gesellschaftliche Produktivkräfte zu behandeln. Es ist diese Form der Vergesellschaftung, die uns in den verschiedenen Arten von Aktiengesellschaften gegenübertritt. Sowohl die industriellen Hochdruckperioden als auch die Krisen treiben die Vergesellschaftung noch weiter: Ganze Industriezweige werden von Kartellen und Trusts beherrscht, die die Produktion reglementieren, dem Umfang nach bestimmen und unter sich aufteilen; die Konkurrenz verschwindet aus diesen Branchen, um dem Monopol Platz zu machen, die Planlosigkeit der kapitalistischen Produktion kapituliert hier vor der planmäßigen Leitung. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe genügt auch diese Form nicht mehr: Der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, muss ihre Leitung übernehmen. Wenn die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur ferneren Verwaltung der modernen Produktivkräfte aufdeckten, so zeigt die Verwandlung der großen Produktions- und Verkehrsanstalten in Aktiengesellschaften und Staatseigentum die Entbehrlichkeit der Bourgeoisie für jenen Zweck. Alle gesellschaftlichen Funktionen werden jetzt von besoldeten Angestellten versehen.

Aber weder die Verwaltung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er ans. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getriebe.

 

Der Grundwiderspruch des Kapitalismus verlangt eine revolutionäre Lösung

 

Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts (6), aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung.

Diese Lösung kann nur darin liegen, dass die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt, dass also die Produktions-, aneignungs- und austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsmittel. Und dies kann nur dadurch geschehen, dass die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den jeder anderen Leitung außer der ihrigen entwachsenen Produktivkräften (7).

Solange wir uns hartnäckig weigern, die Natur und den Charakter der heutigen gewaltigen Produktivkräfte zu verstehen - und gegen dieses Verständnis sträuben sich die kapitalistische Produktionsweise und ihre Verteidiger -, solange wirken diese Kräfte sich aus trotz uns, gegen uns. Aber einmal in ihrer Natur begriffen, können sie aus dämonischen Herrschern in willige Diener verwandelt werden.

 

Die geschichtliche Aufgabe des Proletariats

 

Aber ohne die Aktion einer sozialen Macht kann sich die objektiv empfundene Notwendigkeit einer revolutionären Lösung des Widerspruchs nicht in der Geschichte durchsetzen. Und diese Macht selbst muss in den veränderten Produktionsverhältnissen vorhanden sein. Die kapitalistische Revolution vollzog die Scheidung zwischen den in den Händen der Kapitalisten (oder ihres Staates) konzentrierten Produktionsmitteln hier und den auf den Besitz von nichts als ihrer Arbeitskraft reduzierten Produzenten dort. Indem die kapitalistische Produktionsweise damit mehr und mehr die grolle Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung bei Strafe des Untergangs zu vollziehen genötigt ist. Im Laufe der ganzen Geschichte des Kapitalismus tritt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung als Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie an den Tag. Und da dieser Widerspruch immer mehr auf die Spitze getrieben wird, ist ja auch der daraus resultierende Klassengegensatz dazu bestimmt, sich zu vertiefen. Auf dem Höhepunkt seines Kampfes ergreift das Proletariat die politische Macht, zerstört den Staatsapparat der Bourgeoisie und errichtet seine eigene Staatsgewalt. Alle Produktionsmittel werden nach und nach den besitzenden Klassen entrissen und in Eigentum des proletarischen Staates verwandelt. Aber damit schafft das Proletariat diese Klassen als solche ab und hebt sich demzufolge selbst als Proletariat auf. In dem Masse, in dem alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze aufgehoben werden, verwandelt sich der proletarische Staat von einem Klassenstaat endlich tatsächlich in einen Repräsentanten der ganzen Gesellschaft und macht sich damit selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu unterdrücken, das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat, nötig macht. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht »abgeschafft«, er stirbt ab.

Mit der Besitzergreifung aller Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewusste Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch - in gewissem Sinn - endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche.

Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen und damit ihre Natur selbst zu ergründen und so der zur Aktion berufenen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eigenen Aktion zum Bewusstsein zu bringen, ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.

Den düsteren Träumen der Bourgeoisie von der ewigen Herrschaft des Kapitals mit seiner Klassen­unterdrückung, seinen Krisen und wiederholten Massenausrottungen infolge seiner reaktionären imperialistischen Konflikte setzt der Kommunismus diese kolossale Auffassung entgegen. Und weder die schliessliche Niederlage der Oktoberrevolution noch selbst eine ganze Reihe von neuen eventuellen Niederlagen könnten diese Aufgabe erschüttern, beruhte sie ja vom Ursprung her auf einer gewaltigen Vorwegnahme der Zukunft, dieser letzten Phase des Kapitalismus, deren Zeitgenossen wir sind, und von der die seit der Oktoberrevolution verstrichenen fünfzig Jahre, mögen sie einem auch unendlich vorkommen, nichts anderes als den Anfang darstellen.

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DIE SOZIALDEMOKRATISCHE »LEHRE«

 

 

Wie der klassisch-bürgerlichen, so wird man auch der sozialdemokratischen »Lehre« der stalinistischen Konterrevolution kaum in reiner Form begegnen; sie lässt sich nichtsdestotrotz ebenso leicht rekonstruieren und ist für die Untersuchung aller angeblich modernen »Revisionen« von ebenso großem Nutzen, denn letztere haben in der Tat nichts Neues erfunden und beschränken sich vielmehr darauf, die Schlussfolgerungen der großen klassischen Strömungen der Vergangenheit wie auch immer zu übernehmen.

Die Sozialdemokratie war jene Abweichung der Arbeiterbewegung, die, als historisches Produkt des reformistischen Kampfes in der relativ idyllischen Atmosphäre des Kapitalismus der Jahre vor 1914, auf die Vorbereitung der Arbeiterklasse auf ihre revolutionäre Aufgabe verzichtete. Unter den veränderten Bedingungen, die der erste große imperialistische Krieg herbeiführte, erfüllte sie dann die genau entgegengesetzte Aufgabe, nämlich die revolutionären Energien zu ersticken, die proletarische Bewegung politisch zu bekämpfen (wie die Menschewiki in Russland) oder gar zu unterdrücken (wie die Noske und Scheidemann in Deutschland). Zur Zeit der russischen Revolution wurde diese Abweichung weniger von dem rechten sozialdemokratischen Flügel, der offen zum Feind übergelaufen war, vertreten, als vielmehr vom versöhnlerischen Zentrum, dessen »internationaler« Theoretiker Kautsky war. Von den traditionellen bürgerlichen Strömungen unterschied sie sich insofern, als sie sich noch nicht zur Behauptung des unüberwindlichen Charakters des Kapitalismus, bzw. des utopischen Charakters einer Gesellschaft ohne Klassen und ohne Staat hatte hinreißen lassen; eine Klassen- und Parteidiktatur, die die Prinzipien des Parlamentarismus und der repräsentativen Demokratie verletzen würde, wurde von ihr jedoch als Weg zum Sozialismus strikt verworfen: Dadurch vereinigte sie sich in der Praxis, d.h. im realen Klassenkampf, mit den bürgerlichen Parteien. Wenn sie auch zumindest im Abstrakten das »Recht auf Revolution« nicht unbedingt negierte (8), so musste sie sich dennoch der Bourgeoisie anschließen, da sie sich niemals zur Erkenntnis durchringen konnte, die Bedingungen für diese Revolution seien reif. Reichte ihr in Russland die Ökonomische Entwicklung für eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht aus und war die Revolution damit nicht auf der Tagesordnung, so verhielt es sich im Westen aus umgekehrten Gründen ebenso: Hier würde die Revolution (wegen des damit einhergehenden bewaffneten Kampfes oder wegen der vermeintlich mangelnden Vorbereitung der Arbeiterklasse auf die Aufgaben einer herrschenden Klasse) die Wirtschaft vom erreichten Niveau zurückwerfen usw.; und in den Augen der rechten Sozialdemokraten ließ sich die Revolution im zwanzigsten Jahrhundert ohnehin nicht mehr rechtfertigen, da die Arbeiterklasse ja nunmehr anders als früher »Errungenschaften« der bürgerlichen Gesellschaft zu verteidigen hätte. Kurzum, konnte man damals von Arbeiterbewegung sprechen - was heute nicht mehr und noch nicht wieder der Fall ist - so kann man die Sozialdemokratie nicht treffender kennzeichnen, als als Negation dieser Bewegung, die, wie Marx sagte, entweder revolutionär ist oder gar nichts.

Die sozialdemokratische »Lehre« der russischen Konterrevolution ergibt sich in aller Logik aus den eben rekapitulierten Charakteristika. Die Sozialdemokratie hatte die bolschewistische Revolution unter dem Vorwand bekämpft, Russland sei für den Sozialismus noch nicht reif. So konnte sie die ganze ökonomische Entwicklung zum Kapitalismus in der UdSSR seit der NEP als einen Beweis für die Richtigkeit ihrer Opposition zur Revolution auslegen, bzw. auch den vermeintlichen nationalen Aufbau des Sozialismus unter  Stalin als eine kapitalistische Entwicklung erkennen (9). Diese »wissenschaftliche« Überlegenheit kann jedoch nicht über den vordergründigen Charakter und noch weniger über die ganze Niederträchtigkeit dieser scheinbaren Lehre hinwegtäuschen. Auch wir haben die ökonomische Entwicklung Russlands seit dem Ende des Bürgerkrieges bis heute als kapitalistisch gekennzeichnet; auch wir haben dies als geschichtlich unvermeidlich betrachtet. Wir haben es aber bedauert als eine Folgeerscheinung der proletarischen Klassenniederlage in der Nachkriegszeit, während die konservativ gewordene Sozialdemokratie die Unverfrorenheit besaß, sich darüber zu freuen; wichtiger ist jedoch, dass wir es nur für den Fall als unvermeidlich betrachtet haben, dass es dem europäischen Proletariat nicht gelingen sollte, seine eigene Revolution zum Sieg zu führen - und für diese Revolution haben wir mit all unseren Kräften gekämpft, während die Sozialdemokratie einerseits die russische Revolution als sozialistische Revolution von vornherein für geschlagen erklärte und andererseits im Westen gegen die Revolution kämpfte.

Die grenzenlose Falschheit der sozialdemokratischen »Lehre« aus der Konterrevolution in Russland geht schon aus der Tatsache mit voller Deutlichkeit hervor, dass sie trotz ihrer wissenschaftlichen Ansprüche gerade vom wesentlichen Faktor »absieht«, nämlich vom lähmenden Einfluss der Sozialdemokratie selbst auf das westliche Proletariat, der die Ausbreitung der Revolution verhinderte und Russland somit dem Kapitalismus auslieferte. »Abstrahiert« man aber von dieser Tatsache, dass nämlich ohne die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herrschaft in Europa eine nationalistische Strömung wie der Stalinismus in Russland nicht hätte triumphieren können, erklärt man diesen verhassten Stalinismus als Strafe für die revolutionären Sünden des russischen Proletariats, während er in Wirklichkeit das authentische Produkt der vom Reformismus geförderten bürgerlichen Reaktion war, dann verflacht man die Lehren der Geschichte zu einer elenden Binsenwahrheit: »Ohne Revolutionen hätte es niemals Konterrevolutionen gegeben«; und nur daran kann man diese »wissenschaftliche Überlegenheit« ermessen, deren sich der europäische Reformismus seinerzeit, als er noch als »Arbeiterpartei« existierte, gegenüber dem Bolschewismus so rühmte.

Um überhaupt plausibel zu sein, hätte die platte sozialdemokratische »Lehre« zunächst beweisen müssen, dass die Oktoberrevolution keiner historischen Notwendigkeit entsprach und so lediglich einen vom bolschewistischen »Voluntarismus« verschuldeten Betriebsunfall der Geschichte dargestellt hätte; sie hätte ferner den Beweis erbringen müssen, dass das weltweite Fortbestehen des Kapitalismus nach der Oktoberrevolution erstens für das Proletariat (und im allgemeinen für die Menschheit) etwas Günstiges dargestellt und zweitens alle jene sozialdemokratischen Prognosen über ein fortschreitendes und friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus eindeutig bestätigt hat.

Nun, die Sozialdemokratie hat den ersten Beweis nie erbracht; mehr noch, sie - oder mindestens ihre zentristische Strömung, die sogenannten Zweieinhalb-Internationalisten, die eine Selbständige Position zwischen dem rechten Sozialismus und dem Kommunismus zu behaupten wähnten - wagte in den Jahren der Revolution nicht einmal, den Oktober eindeutig zu verurteilen.

Um dies zu veranschaulichen, werden wir den kennzeichnenden Artikel von H. Weber, einem erklärten Kautsky-Verehrer, zitieren, der März 1918 in der österreichischen sozialdemokratischen Zeitschrift »Der Kampf« (10) mit dem Titel »Die Bolschewiki und wir« erschien:

»Theorie und Praxis der Bolschewiki« - liest man in diesem alten zentristischen Artikel - »sind die Anpassung des Sozialismus an ein Land, in dem der Kapitalismus noch jung und unentwickelt ist, das Proletariat daher noch eine Minderheit der Nation darstellt.« Und was soll daraus folgen? Nämlich dass der russische Sowjet, wie die Pariser Kommune, »das notwendige Staatsideal des revolutionären Proletariats in Ländern ist, in denen das Proletariat noch eine Minderheit der Bevölkerung ist. Der Bestand der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist unvereinbar mit den Interessen des Proletariats. Im Besitz der politischen Macht musste das Proletariat die industrielle Produktion unter seine Herrschaft zu bringen bestrebt sein. Aber die Revolution hatte den alten bürokratischen Herrschaftsapparat zerstört, ohne eine neue demokratische Verwaltungsorganisation aufzubauen. Die Bolschewiki konnten daher die Industrie nicht der Kontrolle der Organe eines demokratischen Gemeinwesens unterwerfen; sie unterwarfen jeden Industriebetrieb der Kontrolle der Arbeiter, die in ihm beschäftigt sind: Die Eisenbahnen den Eisenbahnern, die Textilfabriken den Textilarbeitern usw. Aber damit gaben sie das Organisationsprinzip des Sozialismus auf, der jeden Industriezweig der Gesamtgesellschaft unterwerfen will, und näherten sich dem Gesellschaftsideal des Syndikalismus. Die französischen Arbeiter, eine Minderheit der Nation, die dank dem langsamen Bevölkerungswachstum Frankreichs nicht hoffen kann, bald zur Mehrheit zu werden, sehen ihr Ideal nicht in der Unterwerfung der Industrie unter die demokratische Republik, die ja die Herrschaft der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Mehrheit der Nation über die Industriearbeiter bedeuten würde, sondern in der Unterwerfung jedes einzelnen Industriezweiges unter die Herrschaft der Gewerkschaft dieses Industriezweiges. Dieses Ideal des französischen Syndikalismus versuchen heute die russischen Arbeiter zu verwirklichen. Die von den Bolschewiki dekretierte »Arbeiterkontrolle in den Fabriken« ist das Prinzip der industriellen Organisation, dass sich die Arbeiterklasse dort zum Ziel setzen muss, wo sie nicht hoffen kann, ein demokratisches Gemeinwesen und durch dieses die Industrie beherrschen zu können.«

»Der deutsche Sozialismus verdankt seine theore­tische Überlegenheit der Tatsache, dass das deutsche Proletariat die Mehrheit, eine schnell wachsende Mehrheit der deutschen Nation ist und darum hoffen kann, auf Grundlage der Demokratie die Macht im Staate zu gewinnen und durch den demokratischen Staat die Industrie zu beherrschen. Wo das Proletariat nur eine Minderheit der Nation ist und dennoch vorübergehend die Staatsgewalt an sich reißen kann, wie 1848 und 1871 in Frankreich, heute in Russland, gewinnt der Sozialismus ein anderes Aussehen; dort verficht er die Klassenorganisation des Proletariats (Kommune oder Sowjet) gegen die Demokratie, die syndikalistische »Arbeiterkontrolle in den Fabriken« gegen die sozialistische Unterwerfung der Industrie unter das demokratische Gemeinwesen... So unvermeidlich dieses Unternehmen (die Kapitalherrschaft zu brechen, den Sozialismus zu verwirklichen) ist, so gewiss muss es misslingen. Karl Marx hat uns erklärt, warum die proletarische Revolution in Frankreich 1848 und 1871 misslingen musste: »Die Entwicklung des industriellen Proletariats ist überhaupt bedingt durch die Entwicklung der industriellen Bourgeoisie. Unter ihrer Herrschaft gewinnt es erst die ausgedehnte nationale Existenz, die seine Revolution erheben kann.« (K. Marx, »Die Klassenkämpfe in Frankreich«, Berlin 1895, S. 28). In einem Land, in dem die kapitalistische Industrie noch ein »partielles Faktum« ist, kann die Aufhebung der Kapitalherrschaft nicht zum Inhalt der nationalen Revolution werden.«

Und welche politische Schlussfolgerung zieht man aus dem Ganzen, wenn man ein Pedant ist, von der Überlegenheit des »deutschen Sozialismus« erfüllt, jedoch die Übertreibungen der Rechten, derzufolge die Oktoberrevolution nur ein irrsinniges Abenteuer war, nicht mitmachen möchte? Eine Schlussfolgerung, die die Verlegenheit ihres Autors schroff offenlegt: »Die Menschewiki hatten vor ihren Gegnern die Einsicht voraus, dass die soziale Revolution erst auf einer be­stimmten Stufe der kapitalistischen Entwicklung möglich ist (sic!) und dass Russland diese Entwicklungsstufe noch nicht erreicht hatte. Aber in der Überzeugung, dass Russland in einer bürgerlichen Revolution stehe, forderten sie vom Proletariat den kampflosen Verzicht auf die Macht, die Abdankung zugunsten der Bourgeoisie. In ihrer stetigen Furcht vor der Konterrevolution, die jedes allzu kühne Auftreten des Proletariats herbeiführen könne, haben sie darauf verzichtet, im Rahmen der bürgerlichen Revolution eine folgerichtige, mutige proletarische Politik zu machen. So haben sie selbst das Proletariat von sich gestoßen, es in die Arme der Bolschewiki getrieben

»Die Bolschewiki haben sich in dem Klassenkampf gegen die Bourgeoisie, den die bürgerliche Revolution unvermeidlich entfesseln musste, an die Spitze des Proletariats gestellt. Sie haben in den Stürmen der Revolution den Stimmungen, dem Willen, den Idealen des russischen Proletariats getreuen Ausdruck gegeben. Aber im Proletariat aufgehend, haben sie auch seine Illusionen geteilt. So haben sie das Proletariat zu Experimenten geführt, die nur mit einer Niederlage des Proletariates enden können. « Ach, wie die Wirklichkeit für einen »aufgeklärten« Sozialdemokraten von 1918 enttäuschend ist; er kann trotzdem einen Lichtstrahl der Hoffnung erblicken - im »goldenen Mittelweg«, versteht sich:

»Es gibt auch in Russland Sozialdemokraten, die von den Illusionen von rechts und links frei sind. Das sind die Menschewiki-Internationalisten unter der Führung Martows, Martinows, Semkowskys; die Internationalisten, die sich um Maxim Gorkis »Nowaja Shisn« scharen (…); die Minderheit der Bolschewiki, die heute unter Rjasanows Führung die Diktatur von Lenin und Trotzki bekämpft (sic!). Wir fassen diese Gruppen als »Internationalisten« zusammen (sic sic!) (…) sie haben gegen rechts und gegen links die Aufgabe erfüllt, die dem Marxisten obliegt: sich nicht, wie die Menschewiki, gegen das Proletariat zu stellen (3x sic!) (…), aber auch nicht, wie die Bolschewiki, selbst in den jeweiligen Illusionen des Proletariats aufzugehen (???), sondern gegen diese Illusionen die überlegene Einsicht zu verfechten, die die marxistische Analyse der Entwicklungs- und Kampf - Bedingungen uns verleiht

»In stürmischen Zeiten siegen stets die Extreme von rechts und links: Das Zentrum ist vorübergehend immer zur Machtlosigkeit verurteilt (Tja). Aber nur Erfolgsanbeter sehen darin den Beweis, dass das Zentrum, der »Sumpf«, im Unrecht sei (nanu!) (…) Die Geschichte wird schließlich, in Russland wie überall, dem »marxistischen Zentrum« (…) recht geben.«

Aber was sollten dann die österreichischen und sonstigen Gesinnungsgenossen der Menschewiki à la Martow in den fortgeschrittenen Ländern tun? Der Artikel schließt vorsichtig ab:

»Die Oktoberrevolution war ein Sieg des russischen Proletariats. Die Bolschewiki sind heute die Wortführer des russischen Proletariats, an ihr Schicksal ist das Schicksal der russischen Arbeiterklasse gebunden. Darum gebühren ihnen unsere Sympathie und, soweit wir sie zu leisten vermögen, unsere Hilfe, wie sie dem kämpfenden Proletariat aller Länder gebühren. Gehässige Angriffe auf die Bolschewiki (...) sind eine große Verletzung der Pflichten, die aus der internationalen Solidarität des Proletariats erwachsen. Gegen die Bourgeoisie, die die Bolschewiki (...) bekämpft, müssen wir uns an die Seite der Bolschewiki stellen (...) Aber daraus folgt natürlich nicht, dass wir alle Illusionen der Bolschewiki teilen. Der Marxismus hat gegen die Illusionen, die der Augenblick hervorruft, die Lehren zu verfechten, die in der geschichtlichen Erfahrung, in dem Einblick in die historischen Entwicklungstendenzen begründet sind. Indem der Marxismus diese Aufgabe erfüllt, gerät er unvermeidlich in den Kampf gegen Verirrungen rechts und Illusionen links (…) Die österreichischen Marxisten, die sich auf dem Parteitag (der SPÖ) als »die Linke« bezeichnet haben, haben die Grundsätze der marxistischen Politik zu vertreten, sowohl gegen den Opportunismus zu unserer Rechten, der unsere Aufgabe in der Anpassung des Proletariats an den kapitalistischen Staat überhaupt und den österreichischen Nationalitätenstaat im Besonderen erblickt, wie gegen den »Linksradikalismus«, der links der »Linken« liegt und dessen Grundirrtum der Wahn ist, das Proletariat brauche, ohne die objektiven Bedingungen seiner Kämpfe und seines Sieges zu beachten, nur zu wollen, um die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben

Was für ein trauriges Bild zeigt sich da fünfzig Jahre später beim Lesen dieses alten, verstaubten Artikels! Von der Überzeugung getragen, eine Revolution im europäischen Maßstab zu beginnen, die der Bourgeoisie die geschichtliche Rechnung für den von ihr entfesselten imperialistischen Krieg präsentieren würde, hatte sich das russische Proletariat mit den Bolschewiki an der Spitze heldenhaft geschlagen und bereitete sich darauf vor, den Kampf mit unvermindertem Siegeswillen fortzusetzen; es hatte den imperialistischen Krieg in seinem Lande revolutionär abgebrochen und rief das internationale Proletariat dazu auf, diesem Beispiel zu folgen; es hatte einen vollkommen neuen Staat errichtet, der selbst die Mängel der Pariser Kommune überwand und die marxistische Losung der »Diktatur des Proletariats« mit Leben erfüllte. Dieser Staat zeigte der Arbeiterklasse der ganzen Welt, wie man ein großes Land ohne Parlamentarismus regieren kann und regieren muss, wie man der Großbourgeoisie alle Macht entreißen kann und entreißen muss, wie man den Schwankungen der Kleinbourgeoisie widerstehen kann und widerstehen muss; und sehr bald sollte er zeigen, wie ein entschlossenes und diszipliniertes Proletariat den Sieg im Bürgerkrieg davon trägt. Und worin sehen die »sozialistischen Führer« des Westens demgegenüber ihre ganzen revolutionären Pflichten? Darin, dass sie dem russischen Proletariat »vergeben«, dass es sich der kleinbürgerlichen Mehrheit nicht unterworfen hat, dass es die heiligen Prinzipien der Demokratie verletzt hat; darin, dass sie den Bolschewiki einräumen, diese hätten eine breite und begeisterte Unterstützung im Proletariat und in den Volksmassen (und das war sowieso nicht zu leugnen); darin, dass sie in ihr Lob für die Menschewiki einige Worte des Tadels einfließen lassen! Ihnen scheint aber nichts dringender zu sein, als den Bannfluch zu schleudern gegen den revolutionären Willen, die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben, als ausgerechnet die Bolschewiki über den Unterschied zwischen dem jeweiligen »Prinzip der industriellen Organisation« des Syndikalismus und des Sozialismus aufzuklären und dozierend über den zentralistischen Charakter des Sozialismus zu belehren! Geht es um die Aufgaben einer marxistischen Partei zu Zeiten des auf die Spitze getriebenen Klassenkampfes, so beschränkt sich ihre Weisheit allerdings darauf, dass sich diese Partei nicht gegen das Proletariat stellen soll. Dass diese Partei den Kampf organisieren und führen muss, weil die Revolution sonst nicht einmal stattfindet, das fällt ihnen nicht im Traume ein; im Gegenteil, sie erheben die ewigen Schwankungen, die ewige Zaghaftigkeit der »Menschewiki-Internationalisten« à la Martow zum universellen Vorbild. Die Krönung des Ganzen liegt aber darin, dass sie die russische Revolution, nachdem sie ihre geschichtliche Notwendigkeit feststellten, doch auf die übliche heuchlerische Art verurteilen, weil die »objektiven Bedingungen« der russischen Wirtschaft die Einführung des Sozialismus nicht erlauben. Sie gehen aber mit keinem Wort auf die Frage ein, warum eigentlich die »objektiven Bedingungen« des industriellen und fortgeschrittenen Westens ihrerseits auch jede Hoffnung auf eine Abschaffung des Kapitalismus nach der Eroberung der politischen Macht untersagen sollten. Die Meister des Kampfes gegen die »Illusionen« haben als Antwort auf diese Kernfrage nur eine Hoffnung zu bieten: In einer fernen Zukunft, wenn das Proletariat die absolute Mehrheit der Gesellschaft stellen wird, kann es hoffen, »auf Grundlage der Demokratie die Macht im Staate zu gewinnen und durch den demokratischen Staat die Industrie zu beherrschen (!!!)« Das soll die »überlegene« Einsicht sein, die »die marxistische Analyse der Entwicklungs- und Kampfbedingungen« bietet, die einzige »realistische« Einsicht! Nach dem Geheimnis für die Übermacht der weltweiten bürgerlichen Reaktion nach dem Oktobersieg, für die Schwäche der sozialen Bewegung des Westens in der Nachkriegszeit, wovon der Stalinismus nichts anderes war als die lokale Manifestation in Russland, braucht man nicht länger zu suchen: Als die Stunde des Todeskampfes geschlagen hatte, fuhr die Mehrheit des Proletariats fort, »Führern« dieser Sorte zu folgen!

Dies einmal gesagt, so bleibt noch die Frage, ob die fünfzig darauffolgenden Jahre die sozialdemokratischen Vorhersagen bestätigt haben. Denen zufolge sollte ja die »Zukunft dem Zentrum gehören", was so viel bedeutet, als dass das Proletariat demokratisch, ohne bewaffnete Revolution, an die Macht gelangen würde, um mit Hilfe des vorhandenen Staatsapparates nach dem Taktschlag der Kautsky, Bauer, Martow usw. die sozialistische Umgestaltung (ohne Abwehrversuche seitens der Bourgeoisie!) zu vollziehen. Hätte die Geschichte diese Prognose bestätigt, so bliebe dem Kommunismus nichts anderes übrig, als den Kopf zu senken, den eigenen Fehler zuzugeben und gleichzeitig den sozialdemokratischen Vorwurf einzustecken, er trage die geschichtliche Verantwortung für die schreckliche stalinistische Phase (11). Wie wir oben ausführten, könnte die sozialdemokratische »Lehre« nur unter dieser Bedingung als eine geschichtliche Lehre eingestuft werden, statt die langweilige Wiederholung eines Schlagwortes der Sorte: »Wenn man nicht geschlagen werden will, soll man sich nicht schlagen«, darzustellen.

Ein auch nur flüchtiger Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre dürfte jedoch ausreichen, um zu beweisen, dass die Wirklichkeit die sozialdemokratischen Erwartungen einer fortschreitenden Auflösung aller möglichen Gegensätze, eines Siegeszuges der friedlichen Methoden, eines idyllischen gesellschaftlichen Fortschritts völlig zerschlagen hat. Denkt man an die unerhörten Schrecken der Krisen, des zweiten imperialistischen Weltkriegs, der Kolonialkriege, der brutalen Unterdrückung, die sich nicht nur in Russland (wegen der »Verwüstungen der kommunistischen Revolution«, wie die Sozialdemokraten zu verstehen geben) entfesselte, sondern auch in Italien, in Spanien und nicht zuletzt in Deutschland, dem verheißenen Land der Sozialdemokratie, kurzum denkt man an die ganze Atmosphäre von Tragödie und Abstumpfung, die unser schönes Jahrhundert charakterisiert und durch den militärischen Sieg der demokratischen Mächte über die faschistischen keineswegs weniger erdrückend wurde, dann erscheint das völlige Fiasko des Sozialdemokratismus schon deutlich genug.

Und deshalb, weit davon entfernt, den geschichtlichen Vorteil des Fortbestehens des Kapitalismus, bzw. des Scheiterns einer europäischen Revolution nach dem Oktober 1917 beweisen zu können, sah sich die Sozialdemokratie vielmehr von der Geschichte genötigt, sich selbst zu liquidieren, nicht nur als »Arbeiterpartei«, sondern überhaupt als die eigenständige Partei und politische Strömung, die sie zum Unheil des Proletariats gewesen ist. Sie lebt nunmehr entweder als Gespenst der Vergangenheit, das im Schatten der großen bürgerlichen Parteien ein verachtetes Dasein fristet, oder lieferte selbst lediglich den Apparat für eine der großen bürgerlichen Parteien unserer Tage.

Sollte die Betrachtung der zeitgenössischen Wirklichkeit den Leser vielleicht noch nicht von dieser Tatsache überzeugt haben, so braucht er sich nur für einen Augenblick mit dem sozialdemokratischen Selbstverständnis der eigenen Geschichte zu befassen. Ausgehend von dem Gesamtbild seiner Partei, das der Ideologe Carlo Schmid (Vorstandmitglied der SPD) periodisch wiederholt, skizzieren wir nachstehend diesen Liquidierungsprozess, dessen Ursachen einzig und allein im schreienden Widerspruch zwischen dem ursprünglichen Zukunftsbild des sozialdemokratischen Opportunismus und der geschichtlichen Wirklichkeit liegen.

In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg - erzählt Herr Schmid zur Erbauung seiner Parteigenossen - »erlaubte ein gezähmter »Marxismus« die Fiktion des revolutionären Charakters der Sozialdemokratie aufrechtzuerhalten. Auch konnte man damit die verschiedenen Strömungen der sich immer mehr differenzierenden Partei ohne sichtbaren Bruch in einer in sich geschlossenen Organisation integrieren.«

Es kam der Krieg, und die Partei fiel bekanntlich in den Sozialchauvinismus, was schließlich zur Spaltung und später zur Entstehung der spartakistischen kommunistischen Partei führte. Beides erfolgte übrigens im Lichte des Marxismus viel zu spät.

»Es kam die Revolution des November 1918. Sie war von der Partei weder geplant noch gewollt.«  Man bedenke, dass es sich nicht einmal um eine Revolution handelte, sondern nur um die Agitationswelle, die zur Abdankung des Kaisers und zur Ausrufung der parlamentarischen Republik im November 1918 führte! »Aber als sie kam, hat sie (die SPD) mutig die Verantwortung für Deutschland übernommen« (12). »Die erste Etappe der Überführung des autoritären Bismarckreichs in ein parlamentarisches System war im Wesentlichen ihr Werk.« Die »Erbitterung breiter Schichten des Volkes« war groß und ebenso die »Versuchung«, auf eine »extremistische Linie«, die zur Diktatur des Proletariats geführt hätte, einzuschwenken. Die Sozialdemokratie hat sich dieser Versuchung widersetzt und die Demokratie vor der Diktatur des Proletariats gerettet - besser könnte sie ihre konterrevolutionäre Rolle übrigens nicht zeigen.

Und zu welchen »sozialistischen« Ergebnissen führte diese »patriotische« Politik, die »jede Gewaltherrschaft, von wem sie auch komme«, bekämpfen wollte? lm Laufe der vierzehn Jahre Lebensdauer der Weimarer Republik beteiligten sich die Sozialdemokraten mit Unterbrechungen zweieinhalb Jahre an der Reichsregierung. Sie wurden an die Macht gerufen, wenn die Lage -wie Herr Schmid sagt - »prekär« war. Der Leser wird sich noch daran erinnern, dass der eingangs zitierte Austromarxist vorausgesagt hatte, die Zukunft werde dem Zentrum gehören. Er hatte seiner »Hoffnung« Ausdruck verliehen, man werde »auf Grundlage der Demokratie die Macht im Staate gewinnen und durch den demokratischen Staat die Industrie beherrschen«. Die Gründe, weshalb die Bourgeoisie in »prekären« Lagen die Sozialdemokratie an die Macht ruft, sind offensichtlich: In solchen Lagen sind die Massen »erbittert« und unterliegen der »Versuchung einer extremistischen Linie», die zur Diktatur des Proletariats führen könnte. Die Bourgeoisie braucht dann die tatkräftige Hilfe einer »Arbeiterpartei», welche diesen »undemokratischen Versuchungen« widersteht. Es zeigt sich wieder einmal, dass die Wählermasse zwar abstimmt, die Bourgeoisie aber bestimmt. Zur »theoretischen Überlegenheit des deutschen Sozialismus« sagt Herr Schmid ein erhellendes Wort: »Die Programme führten gelegentlich eine andere Sprache, wohl aber vor allem aus der Befürchtung, es könnten Arbeiterwähler in radikalere Parteien abwandern. Das Heidelberger Programm von 1925 gab sich noch genug sozialistisch (...) Die Partei war (aber) nun dezidiert reformistisch geworden. Der Leipziger Parteitag von 1931 hat dieses ausdrücklich bestätigt.« Mit anderen Worten, für die Sozialdemokratie war die Demokratie nunmehr ein Wert an sich (13).

»Es kam das Jahr 1933. Es kam das Ermächtigungsgesetz (...) Die Konzentrationslager taten sich für die Mitglieder der Partei auf; andere mussten ins Elend fliehen.« Was tat diese Partei, die verkündet hatte: »Jede Gewaltherrschaft, von wem sie auch komme, werden wir bekämpfen bis zum äußersten« (Ebert) ? Sie hielt eine parlamentarische Rede: »Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht (...) «. Gegen die Drohung einer proletarischen Gewaltherrschaft hatte sie schon andere Mittel eingesetzt.

Nach dem Krieg musste die Partei ihre ganze Ideo­logie neu durchdenken. Das ist verständlich, denn eine durch eine Parlamentsrede gerettete Ehre war wohl keine ausreichende Grundlage mehr für die Aufrechterhaltung der alten Ideologie. Die Ergebnisse dieser Revision (die Revision einer Revision) liegen im »Godesberger Programm« von 1959 verankert. Die Partei betrachtet sich nicht mehr als marxistisch. Bereits seit Kriegsende war »der Übergang von der Klassenpartei zur Volkspartei endgültig vollzogen«. Bereits 1949 hatte die Partei »ein rückhaltloses Bekenntnis zur Demokratie mit alten ihren Konsequenzen« beschlossen. Die wichtigste Konsequenz liegt wohl darin, dass man die Demokratie vor dem Faschismus zwar nicht retten kann, wohl aber deren Ehre (sprich Fassade), während man angesichts des revolutionären Proletariats die Mittel von Noske und Seeckt einsetzt.

Aber die Demokratie, die die Sozialdemokraten anstreben, ist keine »Sammlung von Spielregeln für den Austrag widerstreitender Interessen«. Man müsse vielmehr »taugliche Gesetze schaffen (...) die den Arbeiter und den Angestellten im Wege der wirtschaftlichen Mitbestimmung vom Untertan im Betrieb zum Betriebsbürger (sic!) machen. Wir halten das Privateigentum für eine Voraussetzung dafür, dass der einzelne sein persönliches Dasein im vollen Umfang sittlich zu verantworten vermag, und wir wollen darum Eigentum so breit wie streuen.« (Wer hatte die russische Revolution bekämpft, weil sie angeblich das Privateigentum nicht würde überwinden können?). »Wir sind für die Freiheit des Unternehmens; aber wir halten Ballungen wirtschaftlicher Macht für eine Gefahr für die reale Demokratie, und wir wollen sie darum durch demokratische Einrichtungen kontrolliert wissen.«

Die Sozialdemokratie war die Negation des proletarischen Marxismus und sah nach dem 1. Weltkrieg ihr vornehmstes Werk darin, diejenigen zu bekämpfen, die den Kapitalismus revolutionär abschaffen wollten. Sie begründete ihre konterrevolutionäre Rolle mit der Theorie einer automatischen Wirtschaftsentwicklung zum Sozialismus hin. Jetzt, an dem obigen Punkt angelangt, vollbringt sie das Kunststück, sich selbst zu negieren: »Wir (...) glauben nicht mehr an die Magie einer zielstrebigen Dialektik der Geschichte; die Geschichte hat nichts »im Sinn« (...) Aber gemacht wird sie von Menschen, die etwas bestimmtes »im Sinne haben«, nämlich eine Vorstellung des Schönen, des Guten, des Nützlichen und so fort. Die Idee, nicht die »Tatsächlichkeit« ist das Prinzip der Handlungen, mit denen wir Geschichte machen. Die Idee aber ist nicht eine Ableitung aus ökonomischen Tatbeständen; diese sind der Idee gegenüber sekundär: In ihnen realisiert sich nach und nach im Material der Geschichte das Ideal der Menschheit.« Und so weiter, und so fort.

Zusammenfassend: Zum Zeitpunkt der russischen Revolution proklamierte der deutsche Sozialdemokratismus sehr erhaben seine »wissenschaftliche Überlegenheit« und damit seine praktische Überlegenheit gegenüber dem Kommunismus. Aus der stalinistischen Konterrevolution meinte er den Beweis dafür ziehen zu können, dass man mittels gewaltsamer Revolution und Diktatur nicht zum Sozialismus gelangen kann, den Beweis dafür, dass eine Verletzung der heiligen Prinzipien der Demokratie uns dem Sozialismus nicht näher bringt, sondern im Gegenteil von ihm unwiderruflich entfernt. Nun, nach dem Geständnis einer ihrer angesehensten offiziellen Vertreter - einer der wenigen, die sich mit »theoretischen« und »geschichtlichen Fragen befassen - sah sich die Sozialdemokratie mindestens zweimal (1931 und 1959) gezwungen, ihre eigene Liquidierung öffentlich bekannt zu geben; mit anderen Worten, sie musste anerkennen, dass die Wirklichkeit selbst ihre Auffassungen liquidiert hatte und ihr für die Vertretung ihrer politischen Linie keinen anderen Weg offenließ, als die vollständige Übernahme der gesamten Doktrin der kapitalistischen Bourgeoisie mit all ihren Konsequenzen. Diese war die sozialdemokratische »Lehre« aus der Konterrevolution in Russland. Und das soll die »Lehre der Geschichte« selbst sein! Nein, Herrschaften! Einer derartigen »Lehre« kann man nicht das geringste Zugeständnis machen; in den kommunistischen Reihen darf man nicht die geringste demokratische Kritik an dem Bolschewismus dulden. Das ist es, was euer Weg erneut bestätigt. Doch das haben all diese »Linken« unserer Tage, die sich sämtlichst im Schlepptau der demokratischen Ideologie befinden, nicht begriffen und nicht begreifen können.

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DIE ANARCHISTISCHE »LEHRE«

 

 

In der Zeit der zweiten Internationale konnte der Anarchismus oder »libertäre Kommunismus« für eine revolutionäre Bewegung, ja für eine radikalere Bewegung als der wissenschaftliche Sozialismus gelten; und nach dem Sieg des Stalinismus in der dritten Internationale kam er wieder in den Genuss dieses alten Ruhms. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Anarchismus hat zu keinem Zeitpunkt der Gewaltanwendung und dem bewaffneten Aufstand abgeschworen; die sozialdemokratische und später die stalinistische Abweichung vom Marxismus haben im Gegenteil die parlamentarische und legale Aktion für Sozialreformen, schlimmer noch für die Verteidigung der parlamentarischen Demokratie vor den Angriffen der bürgerlichen Rechten in den Vordergrund gestellt und sind schließlich so weit gegangen, jede gewaltsame Aktion des Proletariats als Abenteuer und Provokation zu denunzieren. Wenn in unseren Tagen das Vorurteil, der Anarchismus sei viel extremistischer als der Marxismus, fest verankert ist, so hängt das mit diesen historischen Gründen zusammen. In Wirklichkeit doch verhält sich die Sache genau umgekehrt. Ursprünglich, d.h. in der Epoche der Polemik Marx’ gegen Proudhon (1847), musste der wissenschaftliche Sozialismus den Anarchismus als einen »bürgerlichen Sozialismus« entlarven, dessen Führer sich gegen den Klassenkampf und die Revolution stellte. Später, in der ersten Internationale (1864-1872) mussten Marx, Engels und ihre Anhänger gegen Bakunin, den Schüller Proudhons, kämpfen, aber nicht etwa weil er »viel zu radikal« wäre, sondern weil er einem inkonsequenten Revoluzzertum nachging (das er selbst als »einen weiter entwickelten und bis zu den äußersten Konsequenzen geführten Proudhonismus« bezeichnete). Dasselbe gilt auch für die Beziehungen zwischen Lenin und den Anarchisten und Anarchosyndikalisten seiner Zeit. Sofern er, wie in jenen Epochen, aus keiner schändlichen Abweichung des Marxismus Kapital schlagen kann, muss sich der Anarchismus auf einen einzigen Vorwurf beschränken: Der wissenschaftliche Sozialismus sei nämlich »autoritär«. Nun hatte sich allerdings die proletarische und bolschewistische Republik des Jahres 1917 in einen nationalen Polizeistaat verwandelt, wo der Personenkult des großen Stalin gepflegt wurde. Dies musste dem Anarchismus zwangsläufig wie eine schlagende Bestätigung für seine alte Kritik am Marxismus, bzw. für die Richtigkeit seiner eigenen Auffassung vom Sozialismus vorkommen. Ja, es gibt sogar wenige »Lehren« aus der russischen Konterrevolution, deren Suggestivkraft so groß wäre; ihr unterliegen selbst Leute, die die Revolution nicht abschreiben möchten. Allerdings liegt der erste und wesentliche Haken schon darin, dass die anarchistische »Lehre« aus der Konterrevolution nicht erst diese Konterrevolution abgewartet hat, um sich in ihrer ganzen Tragweite zu zeigen: Mitten im Bürgerkrieg, als das russische Proletariat gegen die vereinten Kräfte der internationalen Bourgeoisie kämpfen musste, nutzten die russischen Anarchisten die schwierige Lage, in der sich die rote bolschewistische Macht befand, rücksichtslos aus, um ihrer sogenannten »dritten Revolution« nach zum Sieg zu verhelfen. Sie leisteten damit den Feinden des Kommunismus, die gemeinsam versuchten, die bürgerliche Ordnung wiederherzustellen, eine irrsinnige und unbewusste Unterstützung.

Diese geschichtliche Tatsache darf man nicht vergessen, selbst wenn man zur Ehre mancher russischer und europäischer (und insbesondere italienischer) Anarchisten festhalten muss, dass sie sich nicht so weit kompromittierten (14).

Aber der anarchistischen »Lehre« zufolge soll ja der Stalinismus eben den »Nachweis« für die inhärenten reaktionären Implikationen des »autoritären« Sozialismus von Marx und Lenin erbracht haben. Was kann das bedeuten? Es gibt in der Tat zwei Möglichkeiten: Entweder besagt das gar nichts, oder es bedeutet, dass die russischen Massen, wenn sie die Warnungen der Anarchisten erhört hätten, auch imstande gewesen wären die stalinistische Konterrevolution zu vermeiden und den Sozialismus zu errichten. Diese zweite Möglichkeit könnte nur unter einer Bedingung plausibel sein, nämlich dass die Anarchisten im Kampf gegen die proletarische und kommunistische Macht, gegen die nicht-parlamentarische Macht im Russland der Jahre 1917-1921, durch ihre Aktion wirklich einen dritten Weg eröffnet hätten. Dieser Weg müsste sich also sowohl von dem Weg der Vertreter der bürgerlichen Konstituante als auch von dem Weg der Verfechter der Diktatur des Proletariats unterscheiden. Er müsste aber auch nicht weniger als die Diktatur des Proletariats imstande sein, die Restauration zu verhindern. Dies haben die Anarchisten aber keineswegs getan und konnten es auch nicht tun. So begnügten sie sich damit, die Reihen eines der kämpfenden Lager - nämlich des kommunistischen Proletariats! - zu desorganisieren, womit sie gleichzeitig bewiesen, dass es nach dem roten Oktober keinen Platz für eine »dritte Revolution« gab.

Die anarchistische Kritik scheint sich gegen ein Prinzip des wissenschaftlichen Sozialismus, das politische Prinzip der Diktatur des Proletariats, zu richten. In Wirklichkeit richtet sie sich jedoch gegen die gesamte neue Auffassung, die der wissenschaftliche Sozialismus seit seiner Entstehung vertreten hat: Sie richtet sich gegen die materialistische Geschichtsauffassung. Heute, hundert Jahre später, haben sich die mehr oder weniger erklärten, mehr oder weniger treuen Schüler Bakunins jene »Neuheit« immer noch nicht angeeignet, hat sie ja die Niederlage der proletarischen Revolution in Russland wieder die Arme ihrer antiquierten libertären Auffassungen zurückgeworfen.

Marx lieferte einmal eine lapidare Definition des wissenschaftlichen Sozialismus. Anhand dieser Definition kann man sehr gut zeigen, dass die Anarchisten, wenn sie ihn als »autoritären Sozialismus« kennzeichnen, doch nichts anderes tun, als der wirklichen Frage auszuweichen. Worauf es in Wirklichkeit ankommt, ist nicht, ob man sich im Absoluten und Abstrakten zum Anhänger der Autorität oder im Gegenteil der Freiheit erklären soll, sondern ob der Sozialismus ein Ideal oder eine geschichtliche Notwendigkeit und Unentrinnbarkeit darstellt. »Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats fuhrt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.« (Brief an Weydemeyer, 5. März 1852). Jeder hat selbstverständlich das »Recht«, mit diesen drei grundsätzlichen Thesen nicht übereinzustimmen; niemand darf aber davon absehen, dass sie für Marx und alle wirklichen Marxisten aus der wissenschaftlichen Entdeckung eines objektiven Prozesses resultieren. Wenn die Marxisten diese Thesen als Parteiprogramm angenommen haben, so hängt das folglich nicht damit zusammen, dass die Thesen etwa einer geheimnisvollen Vorliebe für die Autorität entsprechen, sondern weil nach ihrer Überzeugung darin der ganze Sinn der Geschichte enthalten ist. Dieser Auffassung vorzuwerfen, sie sei »autoritär«, ist barer Unsinn. Hier wäre ein einziges Argument zulässig, nämlich der Beweis, dass die Geschichte selber nicht »autoritär« ist, sondern sich faktisch dem mit der großen französischen Revolution entstandenen Freiheitsideal unterordnet, was in unserem imperialistischen und totalitären Jahrhundert eine freilich besonders unhaltbare These ist. Es geht also um das gestellte Dilemma: Entweder hat es überhaupt keinen Sinn, zu behaupten, die russische Konterrevolution habe die anarchistische Kritik am Marxismus bestätigt, oder es bedeutet ganz einfach, dass die Konterrevolution bewiesen hat, der historische Materialismus sei falsch und entspreche nicht den wirklichen Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung. Nun, einen solchen Beweis hat der Anarchismus niemals erbracht; er hat ja nicht einmal versucht, an die Beweisführung überhaupt heranzugehen. Das war von ihm allerdings auch nicht zu erwarten, denn er hat sich immer auf den abstrakten Boden des Ideals und niemals auf den Boden der Wirklichkeit einer Klassengesellschaft gestellt. lm übrigen genügt es, die Frage richtig zu stellen, und schon wird ersichtlich, dass die russische Konterrevolution einen solchen Beweis auch niemals hätte liefern können: Mann hat der wissenschaftliche Sozialismus bitte je behauptet, dass das Proletariat, wenn es nun einmal die Macht erobert und seine Diktatur errichtet hat, dann auch unfehlbar zum Sozialismus gelangen wird, unabhängig von den national und international vorhandenen ökonomischen und politischen Bedingungen, unter denen sich dieses Ereignis abgespielt haben würde?

Dass aber der Gegensatz von Marxismus und Anarchismus alles andere ist als ein Gegensatz zwischen Autoritätsanbetern auf der einen und in Freiheitsanbetern auf der anderen Seite, geht schon aus einigen anarchistischen Zitaten, bzw. aus ihrer Gegenüberstellung mit dem obigen Marxzitat hervor. A tout seigneur tout honneur: Wir fangen mit Proudhon, dem Vater des Anarchismus, an, selbst wenn er seinen ehemaligen Rang inzwischen schon lange an Bakunin und an die Anarchosyndikalisten abtreten musste. Warum bekämpft, Proudhon den Kommunismus oder, nach seinen Worten, das bürokratische, diktatorische, autoritäre, doktrinäre System des Staatskommunismus? Weil der Kommunismus, wie »der Sklave, der von jeher den Herrn nachgeäfft hat«, »wie ein Heer, das dem Feinde seine Kanonen weggenommen hat«, vorhabe, »gegen das Heer der Besitzenden dessen eigene Artillerie« - d.h. die Staatsmacht - »zukehren«; weil die Diktatur des Proletariats ihre »Formeln und Grundsätze dem alten Absolutismus entliehen« habe: »Herrschaft einer unteilbaren Staatsgewalt - völlige Zentralisierung - systematische Zerstörung jedes persönlichen, korporativen und lokalen, Möglicherweise die Eintracht gefährdenden Gedankens - inquisitorische Polizei«; weil die Diktatur des Proletariats schließlich nichts anderes sei, als »eine feste Demokratie, scheinbar auf der Diktatur der Massen begründet, aber in der die Massen nur so viel Macht haben, wie zur Sicherung der allgemeinen Sklaverei notwendig ist«. Sicherlich Können die heutigen Anarchisten, nachdem Marx vor nunmehr 20 Jahren die bürgerliche Natur des Proudhonschen Sozialismus (15) aufgezeigt hat (der arme Proudhon hat übrigens nie versucht, Marx’ Kritik an seiner »Philosophie des Elends« zu entgegnen), gut auf Proudhon verzichten. Nicht jedoch auf den aufständischen Bakunin, den unbestreitbaren Helden jedes Libertären. Und doch singt Bakunin unverwechselbar dasselbe Lied wie Proudhon; er muss es singen, denn, wie er einmal ohne falsche Rücksichten zum Besten gab: »Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist, und weil ich mir nichts Menschenwürdiges ohne Freiheit vorstellen kann. Ich bin deshalb nicht Kommunist, weil der Kommunismus alle Macht der Gesellschaft im Staat konzentriert und aufgehen lässt, weil er notwendig zur Zentralisation des Eigentums in den Händen des Staates führen muss, während ich die Abschaffung des Staates wünsche, die radikale Ausrottung des Autoritätsprinzips und der Vormundschaft des Staates, die, unter dem Vorwand, die Menschen sittlich zu erziehen und zu zivilisieren, sie bis heute versklavt, unterdrückt, ausgebeutet und verdorben hat. Ich wünsche die Organisation der Gesellschaft und des kollektiven und sozialen Eigentums von unten nach oben auf dem Weg über die freie Assoziation und nicht von oben nach unten mit Hilfe irgendeiner Autorität, wer immer sie sei ... genau in diesem Sinne bin ich Kollektivist und keinesfalls Kommunist« (von uns hervorgehoben, IKP).

Für Proudhon bildet also die Staatsgewalt die spe­zifische Waffe der »Besitzenden«, d.h. der Bourgeoisie, und die Unterdrückten könnten sie nicht mit Nutzen gebrauchen; für Bakunin ist sie das »Prinzip«, das zur Verderbtheit führt. Nun, der Staat ist weder das eine noch das andere. Alle in Klassen geteilten Gesellschaften haben den Staat gekannt, und die Gesellschaft, die aus dem Sturz der bürgerlichen Herrschaft entstehen wird, kann nicht von heute auf morgen jede Klassenteilung überwinden: Sie wird daher ebensowenig auf eine Staatsgewalt völlig verzichten können. Wenn diese Institution alle Klassengesellschaften charakterisiert, so ist das in der Tat nicht darauf zurückzuführen, dass die Menschheit solange unter einer Prinzipienverwirrung litt, bis eines Tages die Doktrinäre Proudhon und Bakunin als neue Erlöser erschienen, um sie davon zu heilen. Der Grund liegt woanders: Solange es Klassen gibt, solange kämpfen diese Klassen versteckt oder offen, aber immer zwangsläufig gegeneinander, und der Staat ist notwendig, um den Bestand der jeweiligen Gesellschaft zu sichern. Es genügt, im »Anti-Dühring« oder im »Ursprung der Familie« die herrlichen Sätze nachzulesen, die Engels über diese Frage schreibt, um sich der ganzen Überlegenheit der materialistischen Erklärung der Geschichte über die Wahrsagungen der anarchistischen Propheten zu überzeugen: »Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebenen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unserer Zeit der Bourgeoisie« (»Anti-Dühring«). »Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungener Macht; ebensowenig ist er »die Wirklichkeit der sittlichen Idee«, »das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft«, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende macht nötig geworden, die den Konflikt dampfen, innerhalb der Schranken der »Ordnung« halten soll« (»Ursprung der Familie«).

Nicht anders als die Ausbeuterklassen der Vergangenheit wird sich auch das Proletariat mit dieser Notwendigkeit konfrontiert sehen, allerdings nur im Laufe einer geschichtlichen Übergangsperiode. Revolutionär zu sein bedeutet nur, dies zu erkennen, zu akzeptieren und zum gegebenen Zeitpunkt in die Praxis umzusetzen, wie Lenin und die Bolschewiki es in Russland getan haben. Wer dem Proletariat das Recht abspricht, die »Artillerie«, die der Staatsapparat darstellt, gegen den Klassenfeind zu kehren, wer die folgenreiche Originalität der Forderung Diktatur des Proletariats nicht einsieht und darin lediglich eine Nachahmung der Vergangenheit, einen Rückschritt gegenüber der bürgerlichen Demokratie, ja eine Rückkehr zum alten Absolutismus erblickt, der muss schon wie Proudhon »die revolutionäre Aktion als Mittel zu sozialen Reformen« ausdrücklich verwerfen! Also muss das Proletariat seinen eigenen Staat aufrichten, d.h. es muss organisierte Gewalt anwenden, um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen; es darf nicht die »Abschaffung des Staates« verkünden, die Waffen strecken, um dann wehrlos zuzusehen, wie die ganze alte Ordnung von Neuem wiederhergestellt wird. Was als eine irrsinnige Auffassung erscheinen könnte, eine bloße Nachwirkung überholter Gedanken, ist in Wirklichkeit, in der harten Wirklichkeit des Klassenkampfes, eine Frage, die über Leben und Tod entscheidet. Wie weit aber die doktrinäre Blindheit der Anarchisten, geht, zeigt sich sehr deutlich am Beispiel Volins, eines russischen Anarchisten, der gegen die Bolschewiki für die vermeintliche »dritte Revolution« gekämpft hat. In seinem Buch »Die unbekannte Revolution« liefert Volin die anarchistische Fassung der großen Ereignisse, die sich zwischen 1917 und 1920 in Russland abspielten. Ausgerechnet aus diesen Ereignissen meinte Volin den »formalen Beweis« dafür ziehen zu können, dass die Frage einer neuen politischen Macht keine Rolle in der Revolution spielt. Er schreibt: »Wenn die soziale Revolution dabei ist, den Sieg zu erringen, wenn Kapital, Grund und Boden, Fabriken Verkehrsmittel und Geld dabei sind, in die Hände des Volkes überzugehen, und die Armee gemeinsame Sache mit dem Volk macht, dann sind die Sorgen um die »politische Macht« restlos überholt. Welche Rolle könnte es dann noch spielen, wenn die geschlagenen Klassen aus Tradition versuchen sollten, eine zu bilden?« Soll man sich denn nicht darum »sorgen«, der Bourgeoisie die Kontrolle über Verwaltung, Polizei und Armee zu entreißen? Nein, lautet im Wesentlichen die Antwort, die der russische Anarchist Volin im Feuer des Gefechtes gab. Und die Umtriebe der zaristischen und bürgerlichen Kräfte, der ausländische Imperialismus, die drohende politische Konterrevolution? Keine Sorge, das ist alles traditionalistisches, überholtes Gedankengut, sagte Volin und beeilte sich zu erklären: »Die politische Macht ist keine Macht an sich; sie ist nur solange eine Macht, solange sie sich auf Kapital, Staatsgerüst, Armee und Polizei stützen kann. Fehlen diese Stützen, so bleibt sie »in der Luft« hängen, ist machtlos und kann keine Initiative entfalten. Dafür liefert die russische Revolution ja den formalen Beweis.« Es war kein Verrückter und auch kein Vertreter der Bourgeoisie, der so gesprochen hat: Es war ein russischer Anarchist, der davon überzeugt war, »revolutionär« zu sein!

Nun, selbst im Laufe einer unaufhaltsamen sozi­alen Revolution bleiben die Bourgeoisie und ihre Parteien keineswegs »in der Luft hängen«, sie verlieren nicht absolut und definitiv ihre Stützen in der Bevölkerung. Dafür hat die russische Revolution den »formalen Beweis« geliefert. Deshalb bleibt auch nach dem militärischen Sieg über den Hauptfeind die Notwendigkeit einer Staatsmacht bestehen, damit die Gesellschaft »sich nicht in einem fruchtlosen Kampf verzehre«, damit sie »in den Schranken der Ordnung« bleibe. Und darin liegt auch das ganze Geheimnis der NEP, der Politik, die im Rahmen einer Industrialisierung Russlands unter der Kontrolle der proletarischen Partei dem Proletariat die Unterstützung der Bauernschaft sichern wollte. Die spätere Entwicklung war sicherlich verheerend, dies hat aber nichts mit der »Zentralisation des Eigentums in den Händen des Staates« zu tun, denn gerade der riesige Sektor der russischen Landwirtschaft entzog sich in der Praxis völlig einer Kontrolle durch den Arbeiterstaat. Aber so verheerend die spätere Entwicklung auch gewesen sein mag: Was die russische Revolution formal und endgültig bewies, war nicht zuletzt die Unfähigkeit des Anarchismus, die Wirklichkeit zu begreifen und sich auf die Höhe der Anforderungen des radikalen proletarischen Kampfes zu stellen; war nicht zuletzt seine konterrevolutionäre Rolle, sobald er versucht, die Wahnvorstellung seiner Ideologen in den Massen zu verbreiten und gegen die Geschichte durchzusetzen.

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DIE »LEHRE« DER SELBSTVERWALTUNGSSOZIALISTEN

 

 

Wie wir oben gesehen haben, verwarf der Anarchist Bakunin die »Zentralisation des Eigentums in den Händen des Staates«; er charakterisierte seinen »Sozialismus« als eine »Organisation der Gesellschaft und des kollektiven und sozialen Eigentums von unten nach oben auf dem Weg über die freie Assoziation«. Ähnliches sollte später (in den Jahren 1920-1921) eine sogenannte Arbeiteropposition (u.a. Kollontai, Miasnikow und Chliapnikow, auf die sich in jüngster Zeit einige Gruppen berufen haben) innerhalb der bolschewistischen Partei vertreten. Diese Opposition verwarf die Autorität von Partei und Staat über die Wirtschaft und bekämpfte die zentrale Leitung der Industrie. Ihr zufolge sollten die Entscheidungen in diesem Bereich von den »Produzenten selbst« getroffen werden, d.h. von einem »Gesamtrussischen Kongress der Produzenten«, dem einerseits die Bauern, andererseits die Betriebsräte angehören sollten. Was Bakunin im Namen der Freiheit gefordert hatte, forderte jetzt die »Arbeiteropposition« im Namen der proletarischen Interessen und als einzige Garantie gegen eine Verwandlung der Diktatur des Proletariats in eine Diktatur über das Proletariat. Die ökonomische Auffassung ist jedoch in beiden Fällen dieselbe, und man kann sie auch in Italien bei Gramsci wiederfinden (16). Das Unglück liegt darin, dass die Revolution von 1917 zumindest als sozialistische Revolution scheiterte. Die von den Bolschewiki eingeführte zentrale staatliche Leitung der Industrie (es war ja leider nicht möglich gewesen, die ganze Wirtschaft zentral zu leiten) mündete nicht im Sozialismus sondern im modernen nationalen Kapitalismus Russlands. Das scheint unzähligen Leuten als ein historischer Beweis für die »prophetische Richtigkeit« der Auffassungen Bakunins, darunter vielen Leuten, die sich nicht auf den Anarchismus berufen. So geschah es, dass unsere selige Epoche in Sachen Sozialismus voll in den Proudhonismus zurückfiel (eingestandenermaßen war Proudhon der Meister Bakunins, uneingestandener Massen von nicht wenigen Leuten). Seine große Formel lautet: »Sozialismus ja, aber in Freiheit« der sich bestenfalls diese andere Formel zugesellt: »Diktatur des Proletariats ja, aber nicht über das Proletariat.« Dieser liberale Sozialismus der »freien Assoziation« der verschiedenen Betriebe, dieser »Selbstverwaltungssozialismus« zog eine »ganz große Lehre« aus der stalinistischen Konterrevolution: Der marxistische »Etatismus« führt nicht zur Abschaffung des Kapitalismus, sondern nur zur grausamen Herrschaft einer allmächtigen Bürokratie, oder mit anderen Worten: Die Klassenpartei hat keine Rolle in der ökonomischen Umgestaltung zu spielen, diese soll vielmehr der »Arbeiterklasse selbst« und den Produzenten im allgemeinen überlassen werden. Infolge der Suggestivkraft der Konterrevolution, und vor allem nachdem der Stalinismus die marxistische Auffassung von der Rolle der Partei in eine voluntaristische Karikatur verwandelt hat, d.h. die Partei so dargestellt hat, als könne sie den Sozialismus nach freier Verfügung aufbauen, vorausgesetzt, man gehorche ihr, ist diese »Lehre« wohl am schwersten zu entkräften. Und doch ist sie theoretisch so erbärmlich und praktisch so verheerend wie alle anderen, die wir bisher untersucht haben.

Die Anarchisten und ihre bewussten oder unbewussten Anhänger stellen ihre »Wirtschaft auf der Grundlage der freien Assoziation« und die »staatliche Wirtschaft« des marxistischen Kommunismus einander gegenüber; damit gehen sie aber von völlig falschen Voraussetzungen aus. Von »Assoziation«, von Vereinigung (oh sie nun frei ist oder nicht) kann man nur reden, wenn man die Existenz von selbständig verwalteten Produktionseinheiten voraussetzt. Man kann sich leider vorstellen, wie solche Produktionseinheiten aussehen würden nach dem Sturz der Ausbeuterklasse: Infolge der Revolution wären die bisherigen Betriebsleitungen verjagt worden, sodass die alten kapitalistischen Betriebe sich nunmehr ganz einfach in den Händen der Arbeiter befänden; an ihrer Seite stünden jene unzähligen kleinen Unternehmen von Stadt und Land, die trotz der vom Kapitalismus durchgeführten Konzentration der Produktivkräfte noch bestehen würden. Was heißt es, dass diese Produktionseinheiten sich nicht in »Staatseigentum« verwandeln sollen? Ganz einfach, dass sie ihre Verwaltungsautonomie beibehalten, d.h. keiner zentralen Reglementierung, keiner zentralen Autorität unterordnet werden sollen. Nur ihr Personal, das sich wahrscheinlich demokratisch nach Stimmenmehrheit ausdrücken wird, ist für sie zuständig, oder bestenfalls ein lokales Verwaltungskomitee, irgendeine (natürlich »gewählte«) örtliche Verwaltungsinstanz (vorausgesetzt, die Anarchisten sehen ein, dass ein so komplexer Organismus wie ein moderner Großbetrieb nicht jeder Autorität entbehren kann, was allerdings fraglich ist). Wollen wir annehmen, eine solche Organisation gibt den Arbeitern in der Euphorie der Revolution das Gefühl, »frei« zu sein, haben sie sich ja der Wachhunde der Betriebsleitung entledigt. Wollen wir das provisorisch annehmen. Das Hauptproblem bleibt bestehen: Wie werden diese autonomen Betriebe zueinander in Verbindung treten? Unter dem Vorwand, die »Bürokratisierung« zu vermeiden, soll jede zentrale Entscheidung und Kontrolle beseitigt werden. Wie soll sich aber die Gesamtproduktion unter diesen Bedingungen dem Gesamtbedarf anpassen? Im Kapitalismus geschah das über den Umweg des Marktes, nebenbei gesagt nicht ohne jede zentrale Reglementierung. In der absurden Vorstellung, dass sich die Wirtschaft nach der Revolution den verrückten Auffassungen der Ideologen des »liberalen« oder »libertären« Kommunismus anpassen sollte, könnte es auch nicht anders gehen. Wenn aber die Verhältnisse zwischen den Betrieben und zwischen den zwei großen Wirtschaftssektoren (Landwirtschaft und Industrie) über den Markt geregelt werden, dann können die marktwirtschaftlichen Verhältnisse auch innerhalb der einzelnen Betriebe und Sektoren keineswegs abgeschafft werden: Es gelten die Gesetze der Warenproduktion. Unter solchen Bedingungen können Lohnhöhe, Arbeitszeit, Arbeitsintensität, ja das Gewicht der Autorität in jeder Produktionseinheit keineswegs von den Arbeitern »frei« bestimmt werden, sie hängen nicht vom »Willen« der Arbeiter ab, »nicht ausgebeutet zu werden«! Man muss schon völlig ahnungslos sein, um etwas anderes anzunehmen. Die kapitalistische Ausbeutung, die Mehrwertauspressung, hängt unlöslich mit der Tatsache zusammen, dass der Kapitalismus ein System der Warenproduktion ist. Weil die Produkte Waren sind, ist auch die Arbeitskraft ebenso eine und damit der Proletarier ein Lohnsklave. Es ist geradezu absurd, zu glauben, man könnte die Lohnarbeit - d.h. das System, in dem die materielle Lage des Proletariers vom Wert seiner Ware, seiner Arbeitskraft und zugleich von den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals abhängt - abschaffen, ohne die Warenproduktion abzuschaffen; und es ist nicht weniger absurd, zu glauben, man könne die Warenproduktion dadurch abschaffen, dass man die Bedingungen, aus denen sie resultiert, beibehält, nämlich die Existenz Selbständiger Betriebe.

Man kann den Arbeitgeber und die bürgerliche Betriebsleitung durch jeden beliebigen »Betriebsrat« ersetzen, man kann diesen »Betriebsrat« nach dem demokratischsten Verfahren wählen lassen, mit anderen Worten man kann den kapitalistischen Betrieb durch einen genossenschaftlichen Betrieb ersetzen - damit wird die notwendige Umgestaltung der sozialen Ökonomik um keinen Schritt vorankommen. lm vorigen Jahrhundert gab es mehrere Versuche der Arbeiter, Produktionsgenossenschaften zu errichten. Sie hatten das Verdienst, zu zeigen, dass der Kapitalist als Person überflüssig war; sie konnten der bürgerlichen Konkurrenz jedoch nicht widerstehen und scheiterten kläglich. Genau dasselbe wurde sich ergeben, wenn jeder Betrieb eine Genossenschaft wäre; die Konkurrenz würde dann nicht mehr zwischen Arbeitergenossenschaften und bürgerlichen Fabriken, sondern lediglich unter den Arbeitergenossenschaften stattfinden. Diese hätten dann zwei Alternativen. Entweder könnten sie versuchen, anders zu funktionieren als kapitalistische Betriebe: Unter sonst bürgerlichen Bedingungen (Verbindung über den Markt) würden sie jedoch zugrunde gehen. Oder sie würden zu überleben verstehen: Aber dann würden sie zwangsläufig wie kapitalistische Unternehmen funktionieren mit Betriebskapital, Löhnen, Profiten, Abschreibungs- und Investitionsfonds, Kredit, Zinsen usw. Die Konkurrenz unter ihnen wäre nicht abgeschafft, folglich auch nicht das Vertragswesen und ebensowenig das ganze Zivilrecht und die Staatsinstitution, die notwendig wäre, um dieses Recht zu schützen. Es stellt sich also sofort die Frage, worin denn diese »Assoziationen« wohl »freier« sein könnten als die kapitalistischen Unternehmen. Das ganze kapitalistische Zeitalter wurde von einem Prozess der Konzentration in immer größeren Produktionseinheiten begleitet. Dieser Prozess vollzog sich unter dem Zwang der Konkurrenz und hatte demzufolge nichts »freies« oder »freiwilliges« an sich. Wie könnte er nun - unter Beibehalt dieser Konkurrenz - einem freiwilligen, man weiß nicht von welcher hohen Sozialethik beseelten Prozess einer »freien Assoziation von unten nach oben« Platz machen? Die ganze Vergesellschaftung der Produktion (im Sinne von Anwendung assoziierter Arbeit und von Massenproduktion), die »auf dem Weg über die freie Assoziation von unten nach oben« zu vollziehen war, wurde bereits unter dem Kapitalismus vollzogen, vorbehaltlich des Ausdruckes »Freiheit« in Bezug auf einen so unentrinnbar determinierten Prozess. Eine »soziale Revolution«, die sich ganz einfach vornehmen würde, auf diesem selben Weg und mit diesen selben Mitteln fortzuschreiten, um irgendwann mal zur verschwommen erträumten kollektiven Wirtschaft zu gelangen; eine »soziale Revolution«, die sich darauf beschränken würde, die Akteure des gesellschaftlichen Dramas zu wechseln und anstelle der bürgerlichen Unternehmer und Konzerne die Betriebsräte oder die Arbeiterkooperative treten zu lassen, wäre so wenig eine soziale Revolution, dass sie sehr bald zwangsläufig zur Wiederherstellung aller alten Produktionsverhältnisse führen würde, und zwar um den Preis von Erschütterungen, die man sich am Beispiel der Spanischen »Revolution« vorstellen kann. Eine solche »Revolution« würde den Staat nicht abschaffen, sondern im Gegenteil alle Bedingungen wiederherstellen, die ihn unerlässlich machen: Gerade die Freiheit und Autonomie der Assoziationen, die sie ja schützen will, wäre die Quelle aller möglichen Konflikte und inneren Reibereien; die Notwendigkeit einer allgemeinen und zentralen Autorität, um sie zu reglementieren, würde sich von selbst aufzwingen, was sogar ein individualistischer Anarchist wie Stirner noch fähig war, zu verstehen. Die Errichtung einer kollektivistischen Wirtschaft auf dem Weg über die freie Assoziation ist die Auffassung eines Heilpredigers; sie übernimmt die Theorien, die die Bourgeoisie in der Zeit ihrer eigenen Revolution gegen den alten absolutistischen Dirigismus richtete. Aber wenn die bürgerliche Konkurrenz das feudale Monopol sprengte, so führte sie in der Folge zum modernen kapitalistischen Monopol. Es ist absurd, zu glauben, man könne den kapitalistischen Zyklus hinter sich lassen und das Reich der Freiheit betreten, indem man das Rad zurückdreht, als könnte die Rückkehr zur Konkurrenz, auch unter veränderten Bedingungen, etwas anderes herbei führen als das kapitalistische Monopol. Schon Marx hatte Proudhon auf das alles hingewiesen; »Freiheitssozialisten« können es jedoch nicht verstehen. Eine solche Auffassung entbehrt jedes Wirklichkeitsbezugs; sie bildet keineswegs jene verheißene geschichtliche Möglichkeit, die man den Selbstverwaltungssozialisten zufolge in Russland verpasst hätte (wofür natürlich der »Fehler von Lenin« und von den Bolschewiki und letztendlich die »etatistischen und autoritären Auffassungen des Marxismus« verantwortlich seien). Aber auch hier gibt es in der Tat nur zwei Möglichkeiten: Entweder gab es in Russland wirklich eine Alternative, und man versteht dann nicht, wie es möglich ist, dass selbst ein Stalin und eine noch so »totalitäre« Partei ausgerechnet die schlechteste Lösung - die kapitalistische - durchsetzen konnten, es sei denn, der historische Materialismus enthält nur Blödsinn; oder der historische Materialismus hat im Gegenteil Recht, wenn er behauptet, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse von der Entwicklungsstufe der Produktivkräfte abhängig sind: Wenn die Konterrevolution gesiegt hat, dann war kein anderer geschichtlicher Ausweg möglich, dann war die Alternative rein illusorisch. Wir können hier nicht die ganze Geschichte der Oktoberrevolution nachzeichnen. Will man aber die obige Behauptung verstehen, so braucht man sich nur an die verheerenden Folgen der naiven Selbstverwaltungsversuche der russischen Arbeiter zu erinnern. Die bolschewistische Partei musste sie bekämpfen, nicht nur um den Wirtschaftsruin als solchen aufzuhalten, sondern vor allem um zu verhindern, dass mit ihm die Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Weißen, die Kräfte des Zarismus und der bürgerlichen Konstituante, einherginge.

Wir haben den ersten Terminus von Bakunins Gegenüberstellung untersucht und gezeigt, dass dahinter eine reine Illusion steckt. Der zweite, nämlich die Kennzeichnung des Kommunismus als »staatliche Wirtschaft«, ist ein nicht zu übertreffendes Missverständnis. Die kommunistische Bewegung verleiht dem Arbeiterstaat und der revolutionären Partei, die diesen Staat regieren muss, eine erstrangige Rolle in der sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaft; für sie hat die Diktatur des Proletariats die Aufgabe, diese Umgestaltung durchzuführen, mehr noch, für sie ist diese Umgestaltung ohne die Diktatur des Proletariats unmöglich. Man kann den Kommunismus jedoch nicht als eine »staatliche Wirtschaft« bezeichnen, als eine Wirtschaftsordnung, die - wie Bakunin sagte - »alle Macht der Gesellschaft im Staat aufgehen lässt« bzw. in welcher der Staat als Eigentümer der Produktionsmittel ad aeternum der Gesellschaft Gegenüberstehen würde. Diese Auffassung ist typisch für den Philister, der den wirklichen Zusammenhang von Produktionsverhältnissen und Gesellschafts- und Staatsform nicht verstehen kann, weshalb auch ihre Vertreter uns seit vierzig Jahren unaufhörlich vorsingen, die »russische Erfahrung« habe nur allzu gut die wohlbegründeten Befürchtungen Bakunins im Hinblick auf die kommunistischen Auffassungen bestätigt und den prophetischen Charakter seiner Kritik gezeigt.

Und doch ist der Grund dafür, dass der Kommunismus keine »staatliche Wirtschaft« sein kann, sehr einfach. Wenn das Proletariat, wie alle vor ihm herrschenden Klassen, seine eigene Macht und seinen eigenen Staat notwendig errichten muss, so unterscheidet er sich doch in einem wesentlichen Punkt grundlegend von allen diesen Klassen: Das Proletariat ist keine Ausbeuterklasse und kann es nicht werden; es ist im Gegenteil die erste Klasse, die dazu berufen ist, jede gesellschaftliche Klassenteilung und damit jede Klassenunterdrückung abzuschaffen. Das hat in der Frage des Staates eine entscheidende Folge: Der Staat des Proletariats wird zwangsläufig einen Übergangscharakter haben; in gleichem Masse, wie dieser Staat seine Aufgaben erfüllt, d.h. die Klassen und damit den Klassengegensatz allmählich verschwinden lässt, verschwindet auch die Notwendigkeit, die anderen Klassen zu beherrschen, also die Voraussetzung für die Existenz eines politischen Staates Überhaupt. Im Kommunismus wird es keinen Staat oder politische Autorität geben, was so viel bedeutet, als »dass die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in rein administrative Funktionen verwandeln werden, die die sozialen Interessen überwachen« (Engels in der Polemik gegen die Anarchisten, zitiert von Lenin in »Staat und Revolution«) Und dessen absterbenden Staat, bemerkt Lenin sehr treffend, »kann man auf einer gewissen Stufe seines Absterbens als unpolitischen Staat bezeichnen«. Das bedeutet, dass die kommunistische Gesellschaft nicht jede Administration entbehren wird, diese wird aber nicht mehr wie in der Vergangenheit einen Klassencharakter, den Charakter einer Unterdrückung haben. Sie wird im Gegenteil in zweifacher Hinsicht eine soziale Administration sein. Erstens weil sie nicht mehr das Monopol einer besonderen sozialen Gruppe sein wird, denn das hing mit Trennung von Hand- und Kopfarbeit zusammen, die mittlerweile längst Überwunden sein wird; zweitens und vor allem weil sie nicht mehr nach den Bedürfnissen einer privilegierten Oberschicht sich richten wird, sondern nach denjenigen der Gesellschaft als Ganzes. Den Kommunismus als das »Staatseigentum« (ohne Staat!) kennzeichnen zu wollen, ist barer Unsinn; schließlich wird der Kommunismus nicht einmal durch das »gesellschaftliche Eigentum« charakterisiert werden: Wenn die Gesellschaft nicht mehr durch innere Gegensätze zerrissen wird und damit als Ganzes ihre Existenzbedingungen beherrscht, dann haben wir es nicht mit einem »gesellschaftlichen Eigentum« zu tun, sondern mit der faktischen Abschaffung des Eigentums Überhaupt und folglich auch des Eigentumsbegriffs. Das Eigentum kann man in der Tat nicht anders definieren, als durch den Ausschluss anderer vom Gebrauch oder von der Nutznießung des Eigentum Objekts. Wenn man keinen Menschen mehr davon ausschließen kann, gibt es kein mögliches Eigentum und keinen möglichen Eigentümer mehr, auch nicht die »Gesellschaft«.

Daraus folgt etwas Grundlegendes: Solange der Staat Eigentümer ist oder sich für einen solchen ausgibt, kann man mit Sicherheit sagen, dass es keinen Kommunismus gibt. Dafür kann es zwei Gründe geben:

1. Man befindet sich auf dem Weg dahin, ist aber noch weit vom Ziel entfernt, d.h. das Proletariat kämpft immer noch gegen andere Klassen, um den Weg zu seinem Ziel, zur vollständigen sozialen Wirtschaft, zu bahnen. In diesem Fall besteht ein proletarischer Staat, der von einer revolutionären Partei getragen wird. Das kann man leicht erkennen, wenn nicht an den von dieser Partei unmittelbar getroffenen ökonomischen Maßnahmen als solchen, so doch an ihrer Theorie und an der Ausrichtung ihrer Aktion im inneren wie im internationalen Maßstab: Siehe die bolschewistische Partei unmittelbar nach der Oktoberrevolution, im Laufe des Bürgerkrieges und selbst während der allerersten NEP-Jahre.

2. (entgegengesetzter Grund) Der Staat, der als proletarischer Staat entstanden war, hat unter dem Druck der feindlichen Klassen seine ursprüngliche Funktion geändert und dem kommunistischen Endziel den Rücken gekehrt. Das kann sehr wohl geschehen, und in diesem Fall kann das Staatseigentum gleichwohl sehr lange als kapitalistisches Eigentum, d.h. als eine dem Proletariat und gewisser Massen dem größten Teil der Gesellschaft feindlich gegen Überstehende Macht fortbestehen. Siehe den stalinistischen und halbwegs poststalinistischen Staat.

Daran kann man die ganze Blödsinnigkeit der »Lehre« erkennen, welche die »Selbstverwaltungssozialisten« aus der russischen Konterrevolution gezogen haben. Zunächst kennzeichnet sie den Kommunismus als das, was er nicht ist, nämlich ein System des »Staatseigentums«. Dann rufen sie gegenüber dem in Russland halbwegs existierenden System des Staatseigentums aus: Schaut doch mal an, zu welch monströsen Ergebnissen der Kommunismus führt! Stellt euch bloß vor, was uns alles erspart geblieben wäre, wenn man den Weg der freien Assoziation beschritten hätte!

Das schreckliche Elend - das in Russland nach 1920 herrschte - das drakonische Arbeitsgesetz der stalinistischen Ära - die Erhebung der Polizeiherrschaft und der Praxis des politischen Mordes zum Prinzip - die Agrarrevolution »von oben« in den Jahren 1928-1829, ihre schrecklichen Folgen und die »stalinsche Hungersnot« des Jahres 1932 - die Massenrepression, die grausame Farce der politischen Prozesse, die Alptraumartigen Selbstanklagen der Opfer - die Litanei vom siegreichen Kurs der UdSSR zum befreienden Sozialismus unter Führung ihrer großen Partei und ihres innig geliebten Führers als abscheuliche und unveränderliche Begleitmusik zu diesem ganzen Grauen - kurzum all das, was die Mehrzahl unserer Zeitgenossen beim blossen Anhören des Wortes »Stalinismus« erschaudern lässt: all das hätte eine geradezu magisch einfache und bequeme Erklärung: Die zentralisierte Staatsleitung, oder, was aufs selbe hinausläuft, die unkontrollierte Herrschaft der Bürokratie. Und die von der Revolution aus der Kriegskatastrophe geerbten Bedingungen, das Gewicht der russischen Bauernschaft, die vom Aderlass des Bürgerkrieges verschlimmerte zahlenmäßige Schwäche des Proletariats, die technische Rückständigkeit, das niedrige Niveau der Allgemeinbildung, das Gewicht der feudalen Trägheits- und Brutalitätstraditionen, die Isolierung der marxistischen proletarischen Partei, die internationalen Bedingungen, die barbarische Staatstradition des asiatischen Despotismus, die Folgen und Zwänge der politischen Konterrevolution? Lappalien, in den Augen der Selbstverwaltungssozialisten nichts als Lappalien, die im Vergleich zu den Zauberworten »Staatsleitung« und »unkontrollierte Bürokratie« nichts aussagen, ja ihnen nichts sagen können, solange sie von den uralten Hirngespinsten der Proudhon-Bakunin besessen sind. Woran glauben sie überhaupt erkennen zu können, dass die Unterdrückten dort, wo das Ungeheuer der »Staatsleitung« nicht als absoluter Meister herrscht, imstande sind, das Fortschreiten der schrecklichen Dampfwalze der kapitalistischen Akkumulation und des bürgerlichen Totalitarismus auch nur im geringsten unter ihre Kontrolle zu bringen?

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DIE TROTZKISTISCHE »LEHRE«

 

 

Im Gegensatz zu allen oben behandelten Strömungen hat diejenige, die sich »trotzkistisch« nennt einen fernen kommunistischen Ursprung in jener linken Opposition, die seit 1923 einen ungleichen Kampf gegen den Opportunismus in der bolschewistischen Partei geführt hatte, einen Kampf, der mit ihrer politischen Beseitigung und physischen Vernichtung im Laufe der Jahre 1927-1938 zu Ende ging. Nach wie vor dient der Theoretiker der »permanenten Revolution« und Gründer der Roten Armee, der geschlagene Verfechter einer »Wiederaufrichtung« der Kommunistischen Internationale, der Sowjetmacht und der bolschewistischen Partei, der missbrauchte Gründer einer Organisation, in der er den Keim einer IV. Internationale zu erkennen glaubte, nach wie vor dient Leo Trotzki, der Führer jener Organisation, als Namensschild einer Bewegung. Doch heute, dreißig oder besser vierzig Jahre nach jener schrecklichen Niederlage ist an dieser Bewegung der ferne Ursprung nicht mehr zu erkennen. Ohne feste theoretische Grundlagen, ohne Bindung zur Arbeiterklasse, bildet der heutige »Trotzkismus« einen Haufen kleiner Sekten, deren Positionen - sofern sie sich überhaupt um theoretische Fragen kümmern - in fast jeder Hinsicht auseinandergehen. Doch eine Position kennzeichnet mehr oder weniger alle »Trotzkisten«, eine merkwürdige Position, die zu den erstaunlichsten Produkten der Prinzipienlosigkeit und des Empirismus zählt: Die UdSSR (ja der ganze »Ostblock«) sei im Grunde wohl sozialistisch, bedürfe jedoch einer politischen Revolution zwecks Wiederherstellung der Arbeiterdemokratie.

Sollte der Trotzkismus theoretische Verallge­meinerungen überhaupt wagen, so würde aus dieser unbequemen Plattform eine »Lehre« hervorgehen, die sich folgendermaßen formulieren ließe: Die von der proletarischen Partei (17) nach der Machteroberung durchgeführte Nationalisierung der Produktionsmittel kennzeichnet, solange sie aufrechterhalten bleibt, ein sozialistisches Regime; dieser Sozialismus kann jedoch erst dann als vollständig betrachtet werden, wenn er durch die politische Demokratie, bzw. die Beteiligung der Arbeiter an den »ökonomischen Entscheidungen« der Macht begleitet wird. Es handelt sich um einen Rückfall in zwei bereits untersuchte Abweichungen, nämlich in den Sozialdemokratismus, bzw. den »Selbstverwaltungssozialismus«; vom Kommunismus bleibt darin lediglich die Idee erhalten, dass eine gewaltsame Revolution notwendig sel. Doch selbst die Idee bleibt so verschwommen, dass der Trotzkismus im Laufe von vierzig Jahren noch nicht imstande war, eine auch nur im Geringsten fundierte, ja nur vernünftige Orientierungslinie für die Reorganisierung der revolutionären Kräfte aufzuzeigen.

Zwischen diesem ideologischen Ungeheuer, das bei den zukünftigen Generationen starke Verwunderung hervorrufen wird, wenn sie es im Kuriositätenkabinett der Geschichte überhaupt wiederfinden sollten, und den Positionen, die Trotzki, bzw. die Opposition nacheinander vertreten haben, gibt es - das lässt sich nicht bestreiten - einen gewissen Zusammenhang. Dieser besteht darin, dass die heutigen Trotzkisten, die für die wirklich revolutionären Lehren Trotzkis nichts übrig haben, gerade an seine Fehler und an seine schwächsten Positionen anknüpfen. Das heißt, dass Trotzki zwar eine gewisse Verantwortung für die Entstehung der absurden »Theorie« trägt, die sich mit seinem Namen schmückt; in dem Masse jedoch, in dem er ein authentischer Kommunist war, stand er auf einer ganz anderen und unvergleichlich höheren Ebene.

Wie es in ihrer Generation noch üblich war, haben Trotzki und Lenin den missverständlichen Ausdruck »Arbeiterdemokratie« (18) häufig benutzt; die bolschewistische Partei machte vom Mechanismus der formellen Demokratie unbestreitbar einen gewissen Gebrauch, um ihre inneren Verhältnisse zu regeln; und die dramatischen Sitzungen des Zentralkomitees, in denen die wichtigsten Entscheidungen der Revolution (Fragen des bewaffneten Aufstands, der Brester Verhandlungen, bzw. der Fortsetzung oder Unterbrechung des Krieges, die Einführung der NEP) durch »Stimmenmehrheit« getroffen wurden, haben sich ins Gedächtnis Aller eingeprägt. Doch daraus kann man keineswegs wie die Trotzkisten schließen, ein Trotzki oder ein Lenin seien im Gegensatz zum »Despoten« Stalin »Demokraten« gewesen (19): Dies ist ein Verrat an ihrem ganzen Werk, ganz zu schweigen davon, dass es einen höchst suspekten Versuch darstellt, Lenin und Trotzki von den Anschuldigungen der Bourgeoisie und der schlimmsten Opposition rein zu waschen, denen zufolge sie durch die Errichtung der Diktatur den Weg Stalins vorbereitet haben. Wirkliche Kommunisten haben für derlei Behauptungen des Klassenfeindes nur Verachtung übrig, sie lassen sich nicht dazu herab, das Bild der großen Revolutionäre der Vergangenheit zu retuschieren, um sie für die Dilettanten des »Fortschrittlertums« schmackhaft oder annehmbar zu machen. Aber nicht nur darum geht es. Wenn man den radikalen Gegensatz zwischen der Partei Lenins und der Partei Stalins (beide Namen werden hier benutzt, um zwei geschichtliche Phasen zu bezeichnen) dadurch charakterisiert, dass erstere »demokratisch« funktioniert habe und letztere nicht, so geht man völlig an dem Kern der Sache vorbei, schlimmer noch, man verdeckt diesen Kern aus opportunistischer Überlegung. Der Gegensatz zwischen beiden Parteien ist ein wesentlicher und die berühmte »Funktionsweise«, die den Philistern so teuer ist, nur ein Ausdruck davon: Wenn man von demokratischer Funktionsweise im eigentlichen Sinne des Wortes reden kann, dann trifft dies keineswegs für die bolschewistische Partei aus der Zeit Lenins, sondern gerade und allein für die in den Stalinismus degenerierende Partei zu. Erstere war eine Klassenpartei, eine revolutionäre Partei, die sich strikt nach einer genau umrissenen Theorie richtete, dem Marxismus, den ihr Führungskern gegen den Opportunismus wiederhergestellt und verteidigt hatte. Ihrem Wesen nach widersteht eine solche Partei jenen Meinungsschwankungen, denen zu gehorchen die demokratischen Parteien sich mindestens in der Theorie zur Pflicht machen. Ihrem Wesen nach wird eine solche Partei in ihrer Aktion durch ihr Programm und nicht durch die »Meinung« ihrer Mitglieder geleitet. Ihr Führungskern wird zu einem solchen nicht durch »freie« individuelle Wahl, wie es die demokratische Mythologie will, und auch nicht durch die Mittel, die letztere immer benutzt, nämlich Werbung für oder gegen Individuen, die bis zur betrügerischen Apologie, bzw. Diffamierung reicht; der Führungskern entsteht als Ergebnis der tatsächlichen Geschichte der Partei und des in ihrem Verlauf sich vollziehenden Selektionsprozesses (allmähliche Entfernung jener Führer, die der Parteiaufgabe nicht gewachsen oder ganz einfach unsicher sind und zum anderen Hinzuziehung von Elementen, die sich zuvor verirrt hatten, wie im leuchtenden Beispiel Trotzkis) und wächst so mit seiner entscheidenden Funktion zusammen. Was eine solche Partei anstrebt, ist eine Kontinuität der Aktion (die ohne eine gewisse Stabilität der Führung undenkbar ist) und keineswegs die individuelle Freiheit ihrer Mitglieder, wie die demokratischen Parteien es wollen, deren Haltung dauernd schwankt, weil sie keinem Prinzip gehorchen, und deren Führung mit der Gunst der Wahlurnen wechselt, deren Funktion sie ja ist. Eine solche Partei kann nicht als »demokratisch« bezeichnet werden, zumal alle ihre positiven Charakteristika lauter Beweise sind für die Lüge der demokratischen Postulate, bzw. für die Untauglichkeit dieser Postulate, wenn es darum geht, revolutionäre Aufgaben zu erfüllen. Unter solchen Bedingungen sind Wahlabstimmungen lediglich ein bequemer Mechanismus und weiter nichts. Weit davon entfernt, irgendeine »Garantie« zu liefern, lässt sich der Gebrauch derartiger Mechanismen im Gegenteil nur durch eine relative Unreife der Partei erklären: Kann diese auf ein Maximum an geschichtlicher Erfahrung zurückblicken, ist sie auf die höchste Kohäsionsstufe gelangt, dann gibt es selbst bezüglich praktischer Fragen keinen Platz mehr für jene heftigen inneren Gegensätze, welche die bolschewistische Partei leider noch kannte (20) - und zwangsläufig kennen musste, bewegte sie sich ja gleichzeitig auf dem Boden der letzten demokratischen und der ersten sozialistischen Revolution in Europa. Das ist so wahr, dass in Wirklichkeit keine wichtige Entscheidung (wie z.B. die Unterzeichnung des Friedensvertrags 1918 oder der Abbruch des Polenkrieges) je von der ruhigen Abzählung der Meinungen im Zentralkomitee abhing: Man tat das nötige für die Wahrung der Parteieinheit und -harmonie, beachtete das, was Lenin die »Parteilegalität« nannte, doch niemals hat man einen bolschewistischen Führer (und vor allem Lenin nicht) auf den energischsten Kampf gegen seine eigenen Genossen verzichten sehen, wenn das Schicksal der Revolution auf dem Spiel stand. Dieser Kampf war loyal und offen. Es ging immer um die vertretenen Positionen und Lösungen und niemals um Personen. Den zur weiteren Parteimilitanz entschlossenen Genossen war der Platz in der Partei selbst nach den ernstesten Krisen gesichert (siehe Sinowjew und Kamenew, welche die Parteidisziplin gerade in der Kernfrage des bewaffneten Aufstandes verletzt hatten). Ohne jegliches Zögern nahm man erprobte Revolutionäre wie Trotzki und einige seiner Genossen in die Partei auf, sobald sie ihre früheren Fehler abgelegt hatten. Und solange die Revolution ihre ursprüngliche Triebkraft behielt, hat man nicht im Traum daran gedacht, Staatssanktionen oder gar Polizeigewalt gegen Parteimitglieder anzuwenden. Das alles sind Lauter Merkmale der Partei Lenins. Merkmale, die sie von der Partei Stalins unterscheidet. Doch kann man darin eine demokratische Charakteristik nur dann erblicken, wenn man sich durch Worte in einem erstaunlichen Masse täuschen lässt, wenn man sich das Armutszeugnis ausstellen will, der Demokratie Verdienste zuzuschreiben, die sie keinesfalls hat. Die Trotzkisten sehen im »Respekt vor dem Individuum« ein Ruhmeszeichen der bolschewistischen Partei der Leninschen Phase und stellen es dem angeprangerten Regime von Manövern, Terror und Gewalt der Stalinschen Phase entgegen. Doch um ihre ganze Überlegenheit gegenüber der gängigen Praxis aller parlamentarischen Parteien aufzuweisen, hat die bolschewistische Partei keineswegs diesem »Respekt vor dem Individuum« frönen müssen, das die bürgerliche Demokratie als eins ihrer teuersten Prinzipien zur Schau stellt, sondern ganz einfach das sein müssen, was sie eben war: Kommunistisch. Bolschewistische Praxis einerseits und stalinistische Praxis andererseits beweisen gerade das Gegenteil dessen, was der entartete Trotzkismus beweisen möchte, sowie dessen, was der vulgäre Demokratismus darin sieht. Die bolschewistische Praxis beweist mit Stringenz, dass die Verfolgung von kollektiven Zielen, von Klassenzielen, und die Negation des ideologischen bürgerlichen Prinzips der Freiheit keineswegs jene berühmte »Zerstörung des Individuums« nach sich ziehen, welche die Bourgeois mit dem üblichen Stumpfsinn dem Marxismus dauernd vorwerfen. Der Grund hierfür ist einfach: Wie alle anderen Beziehungen, so werden auch diejenigen zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, an der es teilhat, nicht von der Fiktion des Rechts bestimmt, sondern von der Natur dieser Gemeinschaft selbst.

Was die revolutionäre Partei angeht, so kann sie als Ganzes nicht im Gegensatz zu jedem Mitglied als Einzelnem stehen: Ganz im Gegenteil, denn sie existiert ja als Partei nur in dem Masse, in dem es Militanten gibt, die dazu gelangt sind, ihre Anstrengungen zu koordinieren, zur maximalen Wirkungskraft zu führen, um ihr gemeinsames Ziel zu erreichen. Und jeder einzelne Militant ist wiederum nur in dem Masse ein solcher, in dem er Teil des Ganzen ist. Weit davon entfernt, das Individuum zu unterdrücken, geschweige denn zu zerschlagen, ist die Partei letztendlich nichts anderes als die rationale Anwendung einer Reihe von individuellen Anstrengungen, die außerhalb der Partei nicht nur verloren gingen, sondern erst überhaupt nicht entstehen würden. Will man also die Beziehung von Individuum und Gemeinschaft in einer Partei, die aus Prinzip den bürgerlichen Individualismus und die demokratischen Garantien negiert, kennzeichnen (und zwar als Antwort auf die Demokraten, und nicht weil es für uns wichtig wäre), so muss man sagen, dass sich das Individuum gerade in der Partei und durch die Partei diese rein fiktive Souveränität, zu der der Demokratismus es verurteilt, abschütteln kann, um sich in eine reale Kraft zu verwandeln (wohlgemerkt in den Grenzen des Determinismus).

Was geschieht hingegen in der stalinistischen Partei? lm Fahrwasser des vulgären Demokratismus beklagt der entartete Trotzkismus die Abschaffung jener berühmten »Garantien« des »habeas corpus« für die Militanten, die Abschaffung ihrer Meinungsfreiheit, an deren Stelle eine Diktatur trat. Darum geht es wohl! Die als »stalinistisch« bezeichnete Partei ist die bolschewistische Partei an einem bestimmten Zeitpunkt ihrer geschichtlichen Existenz, den man folgendermaßen charakterisieren kann: Sie hat hinter sich einen großen revolutionären Sieg, verlor jedoch ihre Arbeiterelite im Bürgerkrieg und steht vor Aufgaben, auf die sie nicht vorbereitet war, für die sie ja nicht einmal geschaffen war: Die Prinzipien der sozialistischen Wirtschaftsführung waren im gegebenen Fall unanwendbar, und sie musste eine wegen der Sabotage und Flucht der Bourgeois zerrüttete Wirtschaft nach völlig anderen, entgegengesetzten Prinzipien, d.h. nach »gesunden« bürgerlichen Prinzipien verwalten. lm Maßstab Russlands ging es außer der Frage der Revolutionären politischen Kontinuität auch um die Frage: Entweder ökonomische Wiederaufrichtung oder Tod, entweder Wiederaufbau oder Zusammenbruch inmitten der schlimmsten sozialen Erschütterungen begleitet von dem grausamsten weißen Terror. Aus diesen ganzen Verhältnissen resultierte ein vollständiger Wechsel in der Zusammensetzung und zugleich in der Mentalität der Partei: Unter dem Druck derartiger Bedingungen verdrängt der unvermittelte Praktizismus tendenziell, aber zwangsläufig alle Sorgen um theoretische Folgerichtigkeit und Treue zu den Prinzipien. Selbstverständlich konnte sich dieser Praktizismus nur deshalb definitiv durchsetzen, weil die russische Partei keine Hilfe von außen (d.h. von der Internationale) erhielt. Doch konnte man auch nicht schlicht und einfach mit der Vergangenheit offen brechen, all ihre Traditionen über Bord werfen und die noch wachen Erinnerungen auslöschen. Da der unvermittelte Praktizismus jedoch seinem Wesen nach die leibhaftige Negation jener ganzen Vergangenheit war, blieb ihm ein einziger Ausweg übrig: Einerseits eine scheinbare politische und theoretische Kontinuität zur Schau tragen (diese hätte zwar keiner auch nur im Geringsten ernsthaften Untersuchung standhalten können, doch eine solche wurde unmöglich gemacht), andererseits den Widerstand der Revolutionäre gegen diesen »neuen Kurs« zu brechen. Gerade zu diesem Zweck wurde an die Meinungen, an das Gewissen, an die Gefühle dieser in einem bestimmten Masse neuen Partei appelliert, in die sich die bolschewistische Partei verwandelt hatte. Noch unlängst hatten Lenin und seine Genossen die Prinzipien, die Theorie und das Programm des Kommunismus als einzige Autorität anerkannt; jetzt galt es, dieser Autorität eine andere entgegenzustellen, nämlich die souveräne Autorität der demokratischen Mehrheit. Noch viel verwerflicher als die Sanktionen (Absetzungen, Ausschlüsse, Verhaftungen, Verbannungen und spätere Massaker) erscheint den wirklichen Marxisten in dieser Phase die Ausnutzung der demokratischen Legalität durch den Stalinismus, die Ausnutzung der rein formellen, betrügerischen und mystifizierenden Regeln der Mehrheitssouveränität, dieser verhassten Fiktion, die seit über hundert Jahren der Bourgeoisie in allen Bereichen der Gesellschaft nicht, wie sie vorgibt, dazu dient, die »Freiheit des Individuums zu schützen«, sondern das Proletariat und die Revolution niederzuschlagen! Und wenn diese Umwandlung der Partei allein sehr oft nicht ausreichte, um der stalinistischen Fraktion die Mehrheit zu sichern; wenn die Stalinisten dann diese Mehrheit durch Manipulationen, Kampagnen und entsprechende Manöver »organisieren« mussten, so beweist das alles keineswegs, dass die stalinistische Partei nicht »wirklich demokratisch« gewesen ist. Es beweist im Gegenteil sehr gut, dass die Preisgabe der kommunistischen Praxis (die gänzlich auf der gemeinsamen Anstrengung beruht, die kollektive Aktion auf die revolutionären Ziele auszurichten und damit an der gemeinsamen Theorie zu orientieren) und der Übergang zur demokratischen Praxis (die nur bestrebt ist, Mehrheiten zu erhalten) zwangsläufig die Rückkehr aller Laster des bürgerlichen politischen Lebens nach sich zieht. Das demokratische Wesen der stalinistischen Partei geht nicht allein aus dem Gebrauch der vom Marxismus seit über einem Jahrhundert bloßgestellten demokratischen Fiktion, sondern zugleich auch aus der Gemeinheit ihres ganzen inneren Lebens hervor.

Als Trotzki 1923 seinen »Neuen Kurs« schrieb, war ihm das alles sehr gut bekannt. Wie wir noch sehen werden, verlangte er keineswegs »demokratische Garantien«, sondern eine Genesung des innerparteilichen Regimes, die Rückkehr zum normalen Leben einer revolutionären Partei. Welche Positionen Trotzki auch in einer späteren Phase, in der Phase seines persönlichen Verfalls, vertreten haben mag, welche Sprache er, die Partei und selbst die Internationale bereits damals benutzt haben mögen (21) - so war er doch in dieser Zeit nicht weniger als Lenin selbst frei von demokratischen Illusionen und von demokratischem Formalismus. Wir können selbstverständlich nicht alles zitieren; drei Hinweise dürften hier genügen.

In seiner Schrift »Die Lehren der Kommune« (Anfang 1921) zieht Trotzki den Vergleich zwischen der Pariser Kommune und der russischen Revolution; er zeigt die ganze Überlegenheit der Parteiorganisation und die Unzulänglichkeit des Wahlprinzips, wenn es darauf ankommt, das Proletariat mit einer siegesfähigen politischen und militärischen Führung zu versehen. Wir zitieren: »Das Zentralkomitee der Nationalgarde« (dessen entscheidende Rolle in der Kommune allgemein bekannt ist, IKP) »war in Wirklichkeit ein Rat, der aus den Deputierten der bewaffneten Arbeiter und der Kleinbourgeoisie bestand. Ein solcher Rat, der unmittelbar von den Massen gewählt wird, die den Revolutionären weg gewählt haben, stellt ein ausgezeichnetes Aktionsinstrument dar. Aber er spiegelt gerade aufgrund seiner direkten und unverfälschten Bindung an die Massen... nicht nur alle starken, sondern auch alle Schwächen dieser maßen wider, wobei die Schwächen deutlicher hervortreten...« Die bürgerliche Regierung flüchtete nach Versailles. Doch gerade zu diesem Zeitpunkt, da die Verantwortung am größten war, »beeilte sich die Nationalgarde, sich so schnell wie möglich der Verantwortung zu entziehen.«  Statt revolutionär zu handeln, »verfiel das (demokratisch gewählte, IKP) Zentralkomitee der Nationalgarde auf »legale« Wahlen für die Kommune. Es trat in Verhandlungen mit den Pariser Bürgermeistern, um sich nach rechts durch die »Legalität« abzusichern.« Wie Trotzki zeigt, kamen darin die Schwächen der Massen zum Ausdruck: »Die Passivität und die Unentschlossenheit stützten sich in diesem Fall auf das geheiligte Prinzip der Föderation und der Autonomie. (...) Die Feindseligkeit einer zentralistischen Organisation gegenüber - Erbe der lokalen Beschränktheit und des kleinbürgerlichen Autonomismus - ist zweifellos die schwache Seite einer bestimmten Fraktion des französischen Proletariats.« Trotzki geht also von den Tatsachen aus und beweist damit den Vorrang einer Organisation, »die sich auf ihre gesamte geschichtliche Vergangenheit stützt, die durch ihre Theorie den Gang der Entwicklung mit all ihren Etappen vorhersieht«. Diese Organisation »ist keine Maschine für parlamentarische Manöver, sie ist die gesammelte und organisierte Erfahrung des Proletariats«, kurz und gut die kommunistische Partei. Gegenüber der Partei sind alle aus Wahlen hervorgehende Organisationen des Proletariats notwendigerweise unterlegen: Diese Organisationen spiegeln den jeweiligen Bewusstseinstand der Massen unvermittelt wider und damit auch alle schwachen Seiten dieser Massen.

Von der politischen Frage geht Trotzki zur militärischen über. Seine Kritik an der demokratischen Auffassung des proletarischen Kampfes wird hier noch härter: »Die politische Aufgabe bestand darin, die Nationalgarde von der konterrevolutionären Führung zu reinigen. Die völlige Wählbarkeit war dafür das einzige Mittel, da sich die Mehrheit der Nationalgarde aus revolutionären Arbeitern und Kleinbürgern zusammensetzte... Mit einem Wort, die Wählbarkeit hatte in diesem Fall zur sofortigen Aufgabe, die Bataillone von Kommandanten, die der Bourgeoisie ergeben waren, zu befreien, und nicht, ihnen gute Kommandanten zu gebenEs spricht jetzt die eigene revolutionäre Erfahrung des Gründers der Roten Armee: »Des gewählte Kommando ist in den meisten Fällen ziemlich schwach unter dem technisch-militärischen Aspekt und was die Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin betrifft, so dass im Moment, da sich die Armee vom alten konterrevolutionären Kommando befreit, das sie unterdrückte, sich die Frage nach einem revolutionären Kommando stellt, das in der Lage und fähig ist, seine Aufgabe zu erfüllen. Und diese Frage kann keineswegs durch Wahlen gelöst werden. (...) Die Wählbarkeit darf auf keinen Fall zum Fetisch und Aliheilmittel werden. (...) Wir brauchen die Führung einer starken Partei.« Darin liegt eine Lehre der revolutionären Erfahrung, ein kommunistisches Prinzip; für die heutigen Trotzkisten ist es allerdings ein toter Buchstabe.

In »Terrorismus und Kommunismus« finden wir wieder dieselbe glänzende Widerlegung der schon damals üblichen Kritik an der »Diktatur der bolschewistischen Partei«. Sie gilt in vollem Umfang für alle Nachzügler der »Arbeiterdemokratie«: »Man hat uns vielfach vorgeworfen, wir hätten die Diktatur der Sowjets nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit aber eine Diktatur unserer Partei verwirklicht. Dabei kann aber mit vollem Recht gesagt werden, dass die Diktatur der Sowjets nur möglich geworden ist vermittels der Diktatur der Partei: Dank der Klarheit ihrer theoretischen Erkenntnis und ihrer festen revolutionären Organisation sicherte die Partei den Sowjets die Möglichkeit, sich aus formlosen Parlamenten der Arbeit in einen Apparat der Herrschaft der Arbeit zu verwandeln. In dieser »Unterschiebung« der Macht der Partei anstelle der Macht der Arbeiterklasse liegt nichts Zufälliges und dem Wesen nach ist auch durchaus keine Unterschiebung vorhanden. Die Kommunisten bringen die grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Es ist ganz natürlich, dass die Periode, wo die Geschichte diese Interessen in vollem Umfange auf die Tagesordnung setzt, die Kommunisten die anerkannten Vertreter der Arbeiterklasse als Ganzes werden. »Wo habt ihr aber die Garantie dafür« - fragen uns einige weise Leute -, »dass gerade eure Partei die Interessen der geschichtlichen Entwicklung zum Ausdruck bringt? Indem ihr die anderen Parteien vernichtet oder in den illegalen Zustand versetzt habt, habt ihr dadurch ihren politischen Wetteifer mit euch ausgeschaltet und also auch euch selbst der Möglichkeit beraubt, eure Richtungslinie nachzuprüfen«. Dieses Argument ist von einer rein liberalen Vorstellung vom Gang der Revolution diktiert. Zu einer Zeit, wo alle Gegensätze einen offenen Charakter annehmen, und der politische Kampf rasch in den Bürgerkrieg übergeht, verfügt die herrschende Partei über eine genügende Anzahl materieller Kriterien, auch abgesehen von der eventuellen Auflagenhöhe menschewistischer Blätter. (...) Jedenfalls besteht unsere Aufgabe nicht darin, in jedem Augenblick das Gewicht der verschiedenen Richtungen festzustellen, sondern darin, unserer Richtung, die die Richtung der revolutionären Diktatur ist, den Sieg zu sichern. Und in der Entfaltung dieser Diktatur, in ihren inneren Reibungen, sind hinreichende Kriterien zur Selbstüberprüfung zu finden.« 1936 wird Trotzki leider seinerseits dazu kommen, gegen die »stalinistische Diktatur« die Forderung nach »sowjetischer Demokratie« (siehe »Verratene Revolution!«) zu stellen. Allerdings wird er seine Abweichung dann nur mit einer Banalität rechtfertigen können, die seiner nicht würdig ist: »Alles ist relativ auf dieser Welt, wo nur Veränderung beständig ist.« Dessen sind sich die Epigonen seines Verfalls aber bis heute nicht bewusst.

Die dritte Schrift heißt »Ist die Umwandlung der Sowjets in eine parlamentarische Demokratie wahrscheinlich?« Sie wurde 1929 verfasst, also nach der Niederlage der russischen Opposition; insofern kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Der Kampf Trotzkis gegen den Stalinismus wich damals zwar schon vom Boden der Prinzipien und selbst der geschichtlichen Realität ab, doch hielt der große Revolutionär, wie wir sehen werden, nach wie vor noch an der marxistischen Kritik am Demokratismus unerschütterlich fest.

»Wenn die Sowjetmacht unter Druck ständig wachsender Schwierigkeiten steht, wenn eine Krise im »Direktorium« der Diktatur besteht, wäre es dann nicht besser, einen Anlauf zur Demokratie zu nehmen? Entweder offen oder versteckt wird diese Frage in vielen Artikeln aufgeworfen als Kommentar zu den letzten Ereignissen in der Sowjetunion. Es ist nicht meine Aufgabe zu entscheiden, was das Beste oder was das Schlechteste ist. Ich möchte ans Licht bringen, was wahrscheinlich ist, was sich also aus der Logik der objektiven Entwicklung ergibt. Die Schlussfolgerung, zu der ich komme, ist, dass nichts weniger wahrscheinlich ist, als die Umwandlung der Sowjets in eine parlamentarische Demokratie, oder, genauer gesagt, dass eine solche Umwandlung absolut unmöglich ist1929 entgegnete Trotzki seinen sozialdemokratischen Gegnern, dass, was man sich auch wünschen möge, die Rückkehr der UdSSR zur parlamentarischen Demokratie geschichtlich ausgeschlossen sei. 1936 wird er jedoch aus dieser Forderung die zentrale politische Forderung der Opposition für die UdSSR machen (22). Unsere Parteithese ist, dass er dadurch vom Boden des Kommunismus auf den Boden der Sozialdemokratie abglitt. Umso wichtiger ist es daher, seine richtige Kritik von 1929 an den sozialdemokratischen Gegnern wiederzugeben, denn sie gilt, wie wir sehen werden, unvermindert fort, sowohl gegen ihn selbst seit 1936 als auch gegen seine »Schüller« der nachfolgenden Jahrzehnte.

Trotzki beruft sich einerseits auf Zusammenhänge internationaler und allgemeiner Natur und andererseits auf spezifisch russische Zusammenhänge, wobei beide Ebenen selbstverständlich miteinander verbunden sind. Schauen wir uns zunächst die internationalen Zusammenhänge an:

»Um mich klarer auszudrücken, muss ich geographische Grenzen beiseitelassen. Es genügt, gewisse Tendenzen der politische Entwicklung Europas seit dem Kriege ins Gedächtnis zurückzurufen, der nicht eine Episode, sondern der Prolog einer neuen Epoche war. Fast alle politischen Führer aus dem Kriege leben noch. Der größte Teil von ihnen sagte seinerzeit, dass dieser Krieg der letzte sei, dass hiernach das Reich der Demokratie und des Friedens käme (...) Heute würde nicht Einer von ihnen wagen, solche Norte zu verkünden. Warum? Weil der Krieg uns in eine Epoche großer Spannungen und großer Kämpfe gebracht hat. Mit der Aussicht auf neue grolle Kriege. Zu dieser Stunde jagen mächtige Züge die Schienen der Weltherrschaft entlang. Wir können unser Zeitalter nicht mit der Elle des 19. Jahrhunderts messen, das vornehmlich das Jahrhundert der Ausdehnung der Demokratie war. In dieser Hinsicht wird sich das 20. Jahrhundert vom 19. stärker unterscheiden als die ganze moderne Weltgeschichte vom Mittelalter (Hervorhebung IKP). (...) In Analogie zur Elektrotechnik kann die Demokratie definiert werden als ein System von »Stromunterbrechern und Isolatoren« gegen allzu starke Ströme des nationalen und sozialen Kampfes. Es gibt keine Epoche der menschlichen Geschichte, die so durchtränkt ist mit Antagonismen wie die unsere (...) Unter zu hoher Spannung der Gegensätze von Klassen und Nationen brennen die »Sicherungen« durch: Die Demokratien verlöschen. Dies ist der »Kurzschluss«. Die Diktatur. Natürlich geben die schwächsten »Widerstände« zuerst nach. Aber damit lässt die Kraft der internen und universellen Kämpfe nicht nach, im Gegenteil, sie wächst weiter. Gicht fängt bekanntlich am kleinen Finger oder an der großen Zehe an. Aber einmal im Anzuge, geht sie direkt ans Herz.«

Sehr gut betrachtet und gesagt. Unsere Parteithese ist, dass die kommunistische Bewegung alle Folgerungen aus dieser Realität des 20. Jahrhunderts ziehen musste: Es hat keinen Sinn, die Bourgeoisie flehend darum zu bitten, doch diese schon immer gegen uns installierten, aber nunmehr für sie hinfällig gewordenen »Sicherungen« der Demokratie beizubehalten. Wir selbst müssen diese »Sicherungen« mit der Hochspannung der proletarischen Revolution in die Luft sprengen. Die Moskauer Zentrale der Kommunistischen Internationale, Trotzki inbegriffen, wusste nicht, alle Konsequenzen zu ziehen. Darin liegt einer der Gründe für den Zusammenbruch der Komintern. Derselbe Fehler, den die Kommunistische Internationale im Kampfe gegen Mussolini oder Hitler beging, wurde von Trotzki gegenüber Stalin wiederholt, und dies machte die trotzkistische IV. Internationale von vornherein zu einer totgeborenen Organisation.

Schauen wir uns jetzt die in einem engeren Sinne mit Russland zusammenhängenden Gründe an, aufgrund derer Trotzki 1929 die Wiederherstellung einer parlamentarischen Demokratie in der UdSSR für unmöglich hält:

»Wenn man Demokratie und Sowjets gegenüberstellt, so hat man ein bestimmtes parlamentarisches System im Auge und vergisst eine andere - nebenbei wesentliche - Seite der Frage, nämlich dass die Revolution vom Oktober 1917 sich als die größte demokratische Revolution der menschlichen Geschichte erwiesen hat. Die Enteignung des Grundbesitzes, die Willige Unterdrückung der Klassenprivilegien, die Zerstörung der bürokratischen und militärischen Maschine des Zarismus, die Einführung der Gleichberechtigung der Nationen und ihres Selbstbestimmungsrechtes - dies sind wesentliche demokratische Aufgaben, welche die Februarrevolution kaum berührt, die sie vielmehr fast vollständig der Oktoberrevolution hinterlassen hat. Nur die innere Unhaltbarkeit der liberal- sozialistischen Koalition ermöglichte die Sowjetdiktatur, die auf der Vereinigung von Arbeitern, Bauern und unterdrückten Nationen basierte. Dieselben Gründe, die unsere schwache und rückständige Demokratie von der Erfüllung ihrer historischen Aufgabe zurückhielten, werden sie auch jetzt daran hindern, sich an die Spitze des Landes zu stellen. Denn in der heutigen Zeit sind die Probleme und Schwierigkeiten grösser geworden, die Macht der Demokratie dagegen kleiner. Das Sowjetsystem ist keine bloße Regierungsform, man kann es nicht abstrakt der parlamentarischen Demokratie gegenüberstellen. (...) Es handelt sich im Wesentlichen um die Frage des Eigentums, des Eigentums an Grund und Boden, Banken, Bergwerken, Fabriken und Eisenbahnen (...) Man darf diese »Kleinigkeiten« nicht übersehen, wenn man sich an Gemeinplätzen über die Demokratie berauscht. Wie vor zehn Jahren, wird der Bauer auch heute bis zum letzten Blutstropfen gegen die Rückkehr des Großgrundbesitzers kämpfen (...) Um die Wahrheit zu sagen, der Bauer würde schon eher die Rückkehr des Industriekapitalismus dulden. Das hat sehr einleuchtende Gründe: Die Staatsindustrie war bislang nicht in der Lage, ihm Industrieerzeugnisse zu so vorteilhaften Bedingungen zu liefern, wie es die Kaufleute früher vermochten (...) Aber der Bauer erinnert sich, dass der Gutsbesitzer und der Kapitalist die siamesischen Zwillinge des alten Regimes waren (...) Der Bauer weiß, dass der Kapitalist nicht allein zurückkehren wird, sondern in Gesellschaft des Großgrundbesitzers. Deshalb will er weder den Einen noch den Anderen; und dies ist die mächtigste, wenn auch eine negative Stärke des Sowjetregimes. Wir müssen die Dinge beim richtigen Namen nennen. Es handelt sich nicht um Einführung einer in der Luft hängenden Demokratie, sondern um die Rückkehr Russlands zum Kapitalismus (Hervorhebung IKP). Aber wie würde die zweite Ausgabe des russischen Kapitalismus aussehen? Während dieser letzten fünfzehn Jahre hat sich das Gesicht der Welt gründlich verändert. Die Mächtigen sind noch mächtiger geworden und die Schwachen unvergleichlich schwächer. Der Kampf um die Weltherrschaft hat gigantische Ausmaße angenommen. Dieser Kampf hat sich auf dem Rücken der schwachen und rückständigen Nationen abgespielt. Ein kapitalistisches Russland könnte im Weltsystem nicht einmal die drittklassige Stellung einnehmen, für die das zaristische Russland durch den Verlauf des letzten Krieges prädestiniert war. Ein neuer russischer Kapitalismus wäre jetzt ein Klein Kapitalismus, halb kolonisiert und ohne jede Zukunft. Dieses Russland würde heute eine Stellung einnehmen, die ungefähr zwischen dem agrarischen Russland und dem heutigen Indien läge. Das sowjetsystem aber, das eine nationalisierte Industrie und das Monopol des Außenhandels hat, ist trotz aller Widersprüche und Schwierigkeiten ein System zum Schutze der Unabhängigkeit der Kultur und der Wirtschaft des Landes. Dies haben auch die vielen Demokraten begriffen, die auf die Seite der sowjetregierung gezogen wurden, nicht durch die sozialistische Idee, sondern durch einen Patriotismus, der die elementaren lehren der Geschichte in sich aufgenommen hat (…) eine Handvoll impotenter Doktrinäre hätte gern eine Demokratie ohne Kapitalismus eingeführt. aber die ernsten sozialen Mächte, die dem Sowjetismus feindlich sind, wollen Kapitalismus ohne Demokratie« (Hervorhebung IKP).

Die marxistischen Ausführungen Trotzkis stehen hundert Meilen über den formellen und abstrakten Erwägungen seiner sozialdemokratischen Gegner von 1929, aber auch (was uns hier ja wichtiger ist) über denjenigen seiner »Schüller« unserer Tage, die nie etwas anderes getan haben, als die formellen und abstrakten Erwägungen des Trotzki von 1936 ins Absurde zu führen.

Der Kampf, sagt Trotzki sehr richtig, ist ein sozialer Kampf. Vom Ergebnis dieses sozialen Kampfes hängt es ab, welche politische Form den Sieg davontragen wird. Die parlamentarische Demokratie ging unter den Schlägen der demokratischen Revolution selbst zugrunde. Ihre Anhänger - jene Leute, die »politisch« räsonieren, ohne auf den sozialen Hintergrund zu schauen - können nicht verstehen, dass die Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie darauf hinauslaufen würde, die Errungenschaften der demokratischen Revolution zu liquidieren. »Die ernsten sozialen Mächte« (d.h. die von der Oktoberrevolution enteigneten Klassen) möchten diese Errungenschaften zweifellos rückgängig machen, die alte Ordnung wiedereinführen. Doch war es geschichtlich ausgeschlossen, dass sie dieses Ziel durch demokratische Mittel erreichen könnten. Noch 1929 würde sich die russische Bauernschaft ohne einen zweiten Bürgerkrieg nicht von ihrem Land enteignen lassen. Und wo sollten diese »ernsten sozialen Kräfte« die Macht finden, um fast der Gesamtheit der russischen Bevölkerung den Kampf anzusagen? Trotzki sagt es hier nicht, er weiß es aber, und es ist übrigens offensichtlich: In den Armeen der imperialistischen Mächte, in ihrer erneuten und diesmal siegreichen Intervention gegen Russland. So hatte auch die europäische Koalition gegen das Napoleonische Frankreich interveniert, und nur durch ihren Sieg über das ganze französische Volk konnten die Bourbonen wieder an die Macht gelangen. Aber im Falle Russlands würde dann keineswegs das erträumte nationale Parlament der »impotentes Doktrinäre« die neue politische Form darstellen; es würde im Gegenteil, wie wir es heute nennen, eine Marionettenregierung entstehen, wie jene, die die USA in ihrem asiatischen und südamerikanischen Machtbereich unterhalten.

1929 sind es noch dieselben Gründe, die Trotzki gegen die Sozialdemokraten aufführt, die ihn ebenfalls daran hindern, seinen Kampf gegen Stalin unter die Fahne der sowjetischen Demokratie zu stellen. Trotzki weiß nur allzu gut, dass nicht  nur die Vertreter des Sozialismus wie er selbst auf dem Boden der Sowjetordnung stehen, sondern auch diejenigen Kräfte, die, ohne im geringsten sozialistisch zu sein, ganz einfach nicht wollen, dass Russland in einen Zustand halbkolonialer Abhängigkeit gegenüber dem westlichen Kapitalismus versetzt wird, Kräfte, die aus diesem Grunde eben auch keine Restauration wollen. Wer sind diese Kräfte? Alle nicht-proletarischen Schichten, alle Feinde des revolutionären Internationalismus, die, außerhalb wie innerhalb der Partei, getrieben »durch einen Patriotismus, der die elementaren Lehren der Geschichte in sich aufgenommen hat«, die stalinistische Orientierung befürworten. Es handelt sich um jenen »Ustrialowismus« (23), den Lenin als erster aufgezeigt hat. In den weitblickendsten Kreisen der Emigration entstanden, war er - und darauf weist Trotzki ständig hin - unter dem Banner des »Sozialismus in einem Land« in die herrschende Partei eingedrungen. Und was die sowjetische Demokratie angeht, auch sie eine »Sicherung«, ein »Isolator«, den die Bolschewiki vorgesehen hatten, damit die Revolution nicht in einem sterilen Kampf zwischen sozialistischem Proletariat und kleinbürgerlicher Bauernschaft zugrunde ginge, so weiß Trotzki sehr gut, dass die Hochspannung des Bürgerkrieges sie in die Luft sprengte und die politische Form der reinen proletarischen Diktatur, des Kriegskommunismus mit Zwangsablieferungen und »autoritäre« Eingliederung der revolutionären Bauern in die Rote Armee aufzwang; er weiß sehr gut, dass selbst die Einführung der NEP nur durch diese eiserne Diktatur möglich war. Der Verfechter der bolschewistischen Diktatur des Proletariats, der Autor des zitierten Passus aus »Terrorismus und Kommunismus« musste erst noch durch lange Jahre der Dekadenz hindurchgehen, um überhaupt auf den Gedanken zu kommen, sich gegen die Stalinschen Partei auf jene Demokratie zu berufen!

Der lange Kampf Trotzkis als Oppositionsführer lässt sich in der Tat in drei Phasen aufteilen. Die erste wird durch seine Schrift von 1923 - »Der Neue Kurs« - sehr gut charakterisiert. Trotzki greift die Politik des Zentralkomitees und die Abweichungen im innerparteilichen Leben energisch an. Er warnt die Partei vor der Gefahr einer Entartung der proletarischen Diktatur infolge der internationalen wie inneren politischen Konstellation und der zuletzt verfolgten Politik. Er zeigt, dass die Partei der einzige Garant der Diktatur des Proletariats ist. Doch stellt er sich keineswegs als Kandidat für die Parteiführung auf, sondern hält sich etwas abseits und beschränkt sich darauf, die gegen ihn gerichteten Erfindungen zu widerlegen. Auf diesen Erfindungen beruht die ab 1924 vom Zentralkomitee gegen ihn organisierte Kampagne, doch steht Trotzki immerhin so weit abseits, dass er zum Zeitpunkt der Niederschrift des »Neuen Kurs« die wirkliche Situation noch nicht kennt; diese wird er erst 1925 durch die Enthüllungen von Kamenew und Sinowjew nach deren Bruch mit Stalin in Erfahrung bringen (24).

Mit anderen Worten, in der ersten Phase antwortet Trotzki als Militant auf die gegen ihn entfesselte parlamentarische Kampagne, die dasselbe Ziel wie alle derartigen Kampagnen verfolgte: ihm den Weg zur Macht zu versperren. In diesem Zusammenhang müssen wir darauf hinweisen, dass dort, wo bürgerlicher Schwachsinn den Beweis für die Freveltaten des »kommunistischen Totalitarismus« erblickte, eigentlich nur die Begleiterscheinungen des Wahlprinzips und der Demokratie, auf die Partei angewandt, zum Vorschein traten, wie es unsere Strömung erkannte. Die Tatsache, dass die Kampagne in der Partei ausbrach, die sich »kommunistisch« nannte, erklärt sich sehr einfach damit, dass es in der UdSSR kein Parlament gab. Doch was ist ein Kampf um die Macht, der auf der Grundlage der Gegenüberstellung von Personen und der Verachtung aller Prinzipien geführt wird, wenn nicht gerade ein Kampf parlamentarischer Observanz?

In der zweiten Phase, die mit der politischen Niederlage anfängt, beschränkt sich Trotzki nicht mehr auf die Verteidigung der Positionen des Marxismus gegen den regierenden Revisionismus. Er betritt den Weg der »Reform des Sowjetregimes« wie er es offen zugibt und mit welcher Bezeichnung er in der »Verratenen Revolution« die Phase vor 1936 charakterisieren wird. Aufgrund der Abwesenheit eines Parlaments kann dieser reformistische Kampf der Form nach nicht ablaufen wie ein Kampf für die legale Ablösung einer Regierung, die als unfähig angesehen wird, die UdSSR auf dem Weg des Sozialismus zu behalten, durch die bessere Regierung der Opposition. Doch seinem Wesen nach ist dieser Kampf gerade das. Worin besteht für den reformistischen Sozialisten das »Hindernis« auf dem Weg der sozialistischen Umgestaltung? In den parlamentarischen Mehrheiten der bürgerlichen Regierungen. Der damaligen trotzkistischen Opposition schien dieses Hindernis in der Mehrheit zu bestehen, die das stalinistische Zentralkomitee unterstützte, oder, genauer gesagt, im innerparteilichen Regime, das die Opposition ihrer Meinung nach daran hinderte, dem Stalinismus diese Mehrheit zu entreißen. In Wirklichkeit besteht das Hindernis im ersten Fall nicht in dieser oder jener Regierung, sondern im bürgerlichen Staat überhaupt, der zu zerstören und nicht zu »reformieren« ist; im zweiten Fall besteht das Hindernis ebenso im Staat, in der Macht einer Partei, deren Degenerierung unumkehrbar war, wobei diese Degenerierung keineswegs die Folge, sondern vielmehr die Ursache selbst der gegebenen innerparteilichen Zustände war. Der Vulgärsozialist kann das wahre Hindernis aus dem einfachen Grunde nicht erkennen, dass er kein Revolutionär ist. Was den Revolutionär Trotzki dazu verleitete, angesichts des Sowjetstaates einem reformistischen Irrtum zu verfallen, war sein Unvermögen, sich von der Partei des »Sozialismus in einem Land« vollständig abzugrenzen. Doch behalten seine Positionen im Laufe dieser Phase eine letzte Bindung zur marxistischen Tradition: Von der Partei, lediglich von der Partei hängt das Schicksal der proletarischen Diktatur ab. In der dritten Phase wird diese letzte Bindung abreißen. Vom innerparteilichen revolutionären Parlamentarismus der vorhergehenden Phase wird Trotzki zum reinen Parlamentarismus in der Gesellschaft übergehen, d.h. zur Forderung nach Wiedereinführung der Wahlfreiheit in der UdSSR.

Um die erste Phase zu illustrieren, werden wir auf den erwähnten Text von 1923 - »Der Neue Kurs« - zurückgreifen. Wenn die Ausdrucksweise manchmal missverständlich sein könnte, wie übrigens, worauf wir bereits hingewiesen haben (25), auch die ganze Terminologie der Bolschewiki selbst im Laufe der guten Epoche, so hat die Methode nichts formelles an sich: Trotzki untersucht den Determinismus, der unter den gegebenen Bedingungen der Machtausübung die Partei in die Gefahr bringt, ihre Natur als revolutionäre Avantgarde des Proletariats und damit ihre Funktion als Klassenpartei zu verlieren: An erster Stelle stehen hier die staatlichen und administrativen Aufgaben, dann die Frage der Generationen in der Partei und diejenige ihrer sozialen Zusammensetzung. lm Gegensatz zur vulgären und sozialdemokratischen Kritik bezieht sich Trotzkis Warnung nicht auf den Mangel an Freiheit für die Parteimitglieder, sondern auf die Veränderung in den organischen Verhältnissen von Zentrum und Peripherie, Spitze und Basis innerhalb der Partei, auf die Veränderung in den Beziehungen von Partei und Staat und , als Krönung des Ganzen, auf das Abweichen von der wirklichen Parteitradition bei gleichzeitiger rein formeller Berufung auf dieselbe.

»Uber eins muss man sich von Anfang an klar sein: Das Wesen der augenblicklichen Meinungsverschiedenheiten und Schwierigkeiten besteht nicht darin, dass die Sekretäre gelegentlich übers Ziel hinausgingen und dass man sie etwas zügeln muss, sondern darin, dass die gesamte Partei im Begriff ist, in eine höhere historische Etappe einzutreten. (…) Es handelt sich natürlich nicht darum, die organisatorischen Prinzipien des Bolschewismus zu zerbrechen, wie einige es darzustellen versuchen, sondern es geht darum, sie an die Bedingungen der neuen Entwicklungsstufe der Partei anzupassen (26). Es handelt sich vor allem darum, ein besseres gegenseitiges Verhältnis zwischen den alten Parteikadern und der Menge der Parteimitglieder herzustellen, die nach der Oktoberrevolution eingetreten sind.

»Theoretische Vorbereitung, revolutionäre Verlässlichkeit, und politische Erfahrung sind das Stammkapital der Partei, und dies Kapital wird hauptsächlich von den alten Parteikadern gestellt. Andererseits ist die Partei ihrem Wesen nach einer demokratischen Organisation, d.h. ein Kollektiv, das durch die Gedanken und den Willen aller seiner Mitglieder seinen Weg bestimmt. Es ist klar, dass die Partei in der schwierigen Lage direkt nach der Oktoberrevolution sich ihren Weg umso sicherer und richtiger bahnen konnte, je gründlicher sie die von der alten Generation gesammelte Erfahrung ausnützen konnte, indem sie deren Vertreter auf die verantwortlichsten Posten der Parteiorganisation stellte. Andererseits führte und führt das auch heute noch fast immer dazu, dass die alte Generation, die die Kader der Partei bildete und stark von Verwaltungsfragen beansprucht wurde, sich daran gewöhnt hat, für die Partei zu denken und zu entscheiden, und daher lässt sie die Parteimassen vor allem auf rein schulmäßige, pädagogische Weise am politischen Leben teilnehmen: Kurse in politischer Bildung, Überprüfung des Parteiunterrichts, Parteischulen usw. Daher stammt der Bürokratismus des Parteiapparats, seine Engstirnigkeit, sein von außen abgeschlossenen Eigenleben (…) Wenn die Partei weiterhin in zwei scharf voneinander getrennten Etagen lebt, (so) bringt dies (verschiedene) Gefahren mit sich.«

»Die Hauptgefahr des alten Kurses, wie er sich infolge der großen historischen Ereignisse wie auch infolge unserer Fehler herausgebildet hat, besteht darin, dass er eine immer stärker werdende Tendenz aufweist, einige Tausend Genossen, die die Führungskader bilden, der gesamten übrigen Masse der Partei gegenüberzustellen, die für sie nur ein Objekt ist, das man beeinflussen kann. Wenn dieses Regime auch weiterhin hartnäckig beibehalten würde, so würde es zweifellos drohen, schließlich eine Degeneration der Partei hervorzurufen, und zwar gleichzeitig an beiden Polen, d.h. bei der Parteijugend und bei den Führungskadern. (...) Eine lang anhaltende Bürokratisierung birgt die Gefahr, dass die alte Generation oder zumindest ein großer Teil von ihr sich von den Massen entfremdet, ihre Aufmerksamkeit ausschließlich Verwaltungs-, Ernennungs- und Umbesetzungsfragen widmet, ihr Blickfeld verengt, ihre revolutionären Fähigkeiten schwächt, d.h. dass sie mehr oder weniger eine opportunistische Degeneration durchmacht. Derartige Prozesse entwickeln sich allmählich und fast unmerklich, kommen dann aber ganz plötzlich zu Vorschein.«

Trotzki befasst sich im Folgenden mit der Frage der sozialen Zusammensetzung der Partei und bemerkt: »Das Proletariat verwirklicht seine Diktatur durch den Sowjetstaat. Die kommunistische Partei ist die führende Partei des Proletariats und folglich auch seines Staates. Und nun erhebt sich die Frage, wie man diese Führung verwirklichen kann, ohne zu eng mit dem bürokratischen Staatsapparat zu verschmelzen und ohne durch diese Verschmelzung zu degenerieren.«

Die Kommunisten sind innerhalb der Partei und innerhalb des Staatsapparates verschieden gruppiert. Im Staatsapparat befinden sie sich in hierarchischer Abhängigkeit voneinander und gegenüber Parteilosen. Innerhalb der Partei sind sie alle gleichberechtigt, soweit es sich um die Festsetzung der grundlegenden Aufgaben und Methoden der Parteiarbeit handelt (...) Was die Führung der Wirtschaft durch die Partei betrifft, so berücksichtigt sie - und das muss sie auch tun - die Erfahrung, die Beobachtungen und Ansichten aller ihrer Mitglieder, die sich auf den verschiedenen Stufen der wirtschaftlichen Verwaltung befinden. Und darin besteht der grundsätzliche und unvergleichliche Vorzug unserer Partei, dass sie in jedem beliebigen Augenblick die Industrie mit den Augen eines kommunistischen Drehers, eines kommunistischen Spezialisten, eines kommunistischen Direktors und eines kommunistischen Kaufmanns betrachten kann, und, indem sie die sich gegenseitig ergänzenden Erfahrungen all dieser Arbeiter zusammenfasst, die Linie ihrer Wirtschaftsführung im allgemeinen wie auch für jeden einzelnen Wirtschaftszweig festsetzen kann.«

»Es ist vollkommen klar, dass eine derartige wirkliche Parteiführung nur auf der Grundlage einer lebendigen und aktiven Parteidemokratie (27) durchführbar ist. Und umgekehrt, je grösser das Übergewicht ist, das die bürokratischen Methoden erhalten, desto mehr wird die Führung der Partei zu einer Verwaltung durch ihre Exekutivorgane (Komitees, Büros, Sekretäre usw.) (...) Bei einer derartigen Degeneration der Führung tritt der grundlegende und unschätzbare Vorteil der Partei - ihre vielfältige und kollektive Erfahrung - in den Hintergrund. Die Führung bekommt einen rein organisatorischen Charakter und entartet häufig in einfache Kommandiererei und Belästigung. Der Parteiapparat beschäftigt sich immer mehr mit den Einzelaufgaben und -fragen des Sowjetapparates, lebt mit dessen alltäglichen Sorgen, erliegt seinem Einfluss und sieht vor Bäumen den Wald nicht. (...) das ganze Geflecht des bürokratischen alltags des Sowjetapparates fließt in den Parteiapparat und bewirkt eine bürokratische Veränderung in ihm. Die Partei als Kollektiv bemerkt nicht, dass sie führt, eben weil sie nicht führt. Daher stammen die Unzufriedenheit und die Missverständnisse auch in den Fällen, in denen die Führung tatsächlich recht hat. Aber sie kann sich nicht auf der richtigen Linie halten, wenn sie sich in Bagatellen verausgabt und keinen systematischen, geplanten und kollektiven Charakter annimmt. Auf diese Weise zerstört der Bürokratismus nicht nur den inneren Zusammenhalt der Partei, sondern schwächt auch ihren richtigen Einfluss auf den Staatsapparat. Gerade diejenigen, die am lautesten nach der Führungsrolle der Partei im sowjetischen Staat schreien, bemerken und verstehen das fast nie«. (Hervorhebungen IKP).

Im nächsten Kapitel seiner Schrift untersucht Trotzki die Frage der Gruppierungen und Fraktionsbildungen. Er fordert keineswegs das lächerliche »demokratische Recht«, solche zu bilden. Als Marxist betrachtet er die Entstehung von Fraktionen als ein »gefährliches Übel« und bestreitet andererseits, dass es möglich sei, durch rein formale Methoden ihre Entstehung zu verhindern oder ihre Wiederauflösung in die Partei zu begünstigen. Er wiederholt, dass der Bürokratismus eine der Hauptquellen des Fraktionsgeistes darstellt und wirft den Verfechtern einer rein formalen Parteieinheit vor, sie selber bildeten die gefährlichste Fraktion, »die konservativ-bürokratische Fraktion«. Wie er sehr richtig folgert, kann man der Fraktionsbildung nur durch eine richtige, der jeweiligen konkreten Situation angepasste Politik vorbeugen (28).

Darin gibt es kein Quäntchen demokratischer Illusion. Alle Anomalien des Parteilebens werden präzis gekennzeichnet, nicht zuletzt die Fetischisierung Lenins und des Leninismus, die als Rückendeckung für die schlimmsten Erscheinungen von Opportunismus dienten; diese Anomalien werden immer auf ihre geschichtlichen Ursachen zurückgeführt: Letztere lagen nicht in der Machtausübung an sich, wie die Anarchisten glauben, sondern in der Machtausübung in einer infolge der kapitalistischen Verschwörung von der übrigen Welt isolierten, kulturell äußerst rückständigen und zutiefst heterogenen Gesellschaft, in einer Gesellschaft, wo zwischen dem Proletariat (im Übrigen einem sehr schwachen und infolge des Aderlasses im Bürgerkrieg noch zusätzlich geschwächten Proletariat) und der riesigen Bauernschaft mitnichten jene Gemeinsamkeit der täglichen oder geschichtlichen Interessen bestand, an die die Parteiführung anscheinend glaubte (29). Leider wird Trotzki in seiner Kritik nie wieder eine solche Höhe erklimmen. Doch bis zur tödlichen Entgleisung des Jahres 1936 wird er trotz all seiner Fehler der hervorragenden Schlussfolgerung des IV. Kapitels vom »Neuen Kurs« treu bleiben: »Das wichtigste historische Werkzeug zur Lösung all unserer Aufgaben ist die Partei. Selbstverständlich kann sich auch die Partei nicht künstlich von den sozialen und kulturellen Bedingungen des Landes losmachen. Da die Partei aber eine freiwillige Organisation der Avantgarde, der besten, aktivsten und bewusstesten Elemente der Arbeiterklasse ist, kann sie sich unvergleichlich besser vor den Tendenzen des Bürokratismus schützen, als der Staatsapparat. Aus diesem Grund muss sie die Gefahr klar erkennen und unverzüglich bekämpfen.«

Als Trotzki in der zweiten Phase den Kampf um die »Demokratisierung der Partei« aufnahm, erblickte die Sozialdemokratie nicht völlig unbegründet darin einen Annäherungsschritt ihres großen Gegners. Trotzki erwiderte empört:

»Das ist ein großes Missverständnis, das man leicht aufdecken kann. Die Sozialdemokratie ist für die Restauration des Kapitalismus in Russland. Man kann sich diesen Weg jedoch nur freimachen, wenn man die proletarische Avantgarde verdrängt. Wer, wie die Sozialdemokratie, Stalins Wirtschaftspolitik befürwortet, muss sich auch mit seinen politischen Methoden aussöhnen. Ein wahrhaftiger Übergang zum Kapitalismus könnte nur durch eine Diktatur gesichert werden. Es ist lächerlich, die Restauration des Kapitalismus in Russland zu fordern und zugleich nach Demokratie zu schmachten.« Den Schlag hatte die Sozialdemokratie verdient. Doch aus der Tatsache, dass es lächerlich ist, nach Demokratie zu schmachten, wenn man die Restauration des Kapitalismus vertritt, ergibt sich keineswegs, dass es nicht lächerlich ist, wenn man für den Sozialismus kämpft! Aber warum wurde ein Marxist des Ranges von Trotzki dieses Widerspruches nicht gewahr? Trotzki ging von der unanfechtbaren Erkenntnis aus, dass der Weg zum Kapitalismus die Vernichtung der proletarischen Avantgarde innerhalb der Partei selbst zur Voraussetzung hatte. Daraus folgerte er, dass der Widerstand gegenüber dem kapitalistischen Kurs einen einzigen politischen Ausdruck annehmen konnte: Den Widerstand dieser Avantgarde (ebenfalls innerhalb der Partei) gegen ihre Vernichtung. Diese Überlegung bedurfte allerdings einer kleinen »Bedingung«, um richtig zu sein, nämlich die, dass der Kurs zum Kapitalismus bloß eine mehr oder weniger entfernte Gefahr wäre, bzw. dass der Gegner innerhalb der Partei nicht gerade die politische Verkörperung des Klassenfeindes darstellte. Man kann ja den Klassenfeind auf keinen Fall friedlich schlagen, indem man ihn anfleht, die »Legalität« zu respektieren, was immer diese »Legalität« auch sei (30). lm Gegensatz zu seinen schwachsinnigen »Schülern« fühlte Trotzki dies sehr genau, denn er schrieb 1929 in seiner »Verteidigung der UdSSR« ausdrücklich: »Es wäre reine Donquichotterie - um nicht zu sagen Schwachsinn - für die Demokratisierung einer Partei zu kämpfen, wenn diese Partei die Macht des Klassenfeindes verwirklicht (...) In ihrem Kampf um Demokratie in der Partei geht die Opposition von der Anerkennung der Diktatur des Proletariats aus; sonst hätte dieser Kampf keinen Sinn« (31).

Was kennzeichnet im Endeffekt den Trotzkismus der zweiten Phase? Die leidenschaftliche Weigerung, einzusehen, dass das Proletariat geschlagen wurde, dass die Partei nie wieder revolutionär werden wird. Die nachstehenden Zitate werden zeigen, mit welchem gefährlich verführerischen Gesicht der entstehende trotzkistische Opportunismus ans Tagelicht trat. Doch wird er dieses Gesicht nicht lange behalten und später nie wiederfinden. Siehe zum Beispiel einen Auszug aus Trotzkis Rede vor der zentralen Kontrollkommission der Partei (Juni 1927). Anlass der Vorladung war der gegen ihn gerichtete Vorwurf, durch »fraktionistische Reden« auf einer kürzlichen Sitzung des Exekutivkomitees der Internationale die Parteidisziplin verletzt zu haben, sowie seine Beteiligung an Kundgebungen zugunsten Smilgas, eines nach Sibirien verbannten Militanten der Opposition.

»Was habt ihr aus dem Bolschewismus gemacht? Aus seiner Autorität, aus der Erfahrung von Marx und Lenin? Was habt ihr im Laufe weniger Jahre aus alledem gemacht? (...) Auf Versammlungen, namentlich in den Arbeiter- und Bauernzellen, erzählt man der Teufel weiß was über die Opposition; man fragt, aus welchen »Mitteln« die Opposition ihren »Bedarf« deckt. Arbeiter, vielleicht weil sie unwissend sind, vielleicht ohne Hintergedanken, vielleicht aber auch weil sie von euch geschickt werden (32), stellen solche erzreaktionären Fragen. Und es gibt Redner, die so gemein sind, dass sie darauf ausweichende Antworten geben. Das ist eine schmutzige, elende, schändliche, um Alles zu sagen stalinistische Kampagne. Würdet ihr tatsächlich eine zentrale Kontrollkommission darstellen, dann wäre es eure Pflicht, dieser Kampagne ein Ende zu bereiten!«

Der Stalinist Solz warf Trotzki die Oppositionserklärung der 83 vor und sagte dabei: »Wo führt sie (die Erklärung der 83) hin? Sie kennen die Geschichte der französischen Revolution. Wo hat dies hingeführt? Zu den Verhaftungen und der Guillotine.« Dem entgegnete Trotzki in seiner Rede: »Wir müssen unsere Kenntnisse über die Französische Revolution unbedingt auffrischen. Im Laufe der französischen Revolution wurden viele Leute durch die Guillotine hingerichtet. Auch wir haben viele durch Erschießung hingerichtet. Allerdings zerfiel die Französische Revolution in zwei Kapitel: das eine verlief so (aufsteigende Kurve), das andere so (abfallende Kurve) (...) Solange sich das Kapitel der aufsteigenden Kurve abspielte, haben die Jakobiner - die Bolschewiki jener Zeit - die Monarchisten und Girondisten unter die Guillotine gebracht. Dann eröffnete sich in Frankreich ein neues Kapitel, (...) und die Thermidorianer und Bonapartisten - die rechten Jakobiner - fingen damit an, die linken Jakobiner - die Bolschewiki jener Zeit - zu verbannen und hinzurichten (...) Unter uns gibt es keinen Einzigen, der sich vor Hinrichtungen fürchtet. Wir sind Alle alte Revolutionäre. Man muss jedoch wissen, wen man hinrichtet und in welchem Kapitel. Als wir hingerichtet haben, wussten wir ganz genau, in welchem Kapitel wir uns befanden. Aber heute, könnt ihr denn heute klar begreifen, im Laufe welchen Kapitels ihr bereit seid, uns hinzurichten? Ich nehme an, ihr wollt uns dock nicht (...) im Kapitel des Thermidors hinrichten (...) Sicherlich muss man aus den Lehren der französischen Revolution lernen. Ist es aber notwendig, es der französischen Revolution gleichzutun?«

In diesen Stellen spiegelt sich klar wie der helllichte Tag wider, dass in Russland eine »ustrialowistische« Konterrevolution in Gang war. Doch trotz der Heftigkeit seines Kampfes redet Trotzki die stalinistischen Träger dieser Konterrevolution weiterhin in der Sprache eines Parteigenossen an. Selbst die Heftigkeit kann deshalb nicht verschleiern, dass die Forderung nach »Demokratisierung der Partei« nichts anderes darstellt als eine besondere Anwendung der Taktik der politischen Einheitsfront, welche den Bolschewiki (Trotzki inbegriffen) seit Jahren so teuer war. Ohne politische Einheitsfront mit dem Ustrialow-Flügel der Partei wäre der organisatorische Bruch unumgänglich gewesen. Trotzki hielt jedoch die Einheitsfront nicht nur für möglich, sondern für notwendig (33), und dies musste auf organisatorischer Ebene zwangsläufig in der Ablehnung eines Bruchs zum Ausdruck kommen, weil beide Strömungen formal derselben Partei angehörten.

Diese Einheitsfrontpolitik wurde bei Trotzki im Übrigen von einer fatalen Verkennung der Klassengrenze begleitet, die seit 1927 zwischen seiner Strömung und derjenigen des Nationalkommunismus verlief. Aber vielleicht hat sich der Leser noch nicht von der Existenz dieser Einheitsfrontpolitik überzeugt. Es dürfte dann genügen, folgenden Passus aus derselben Rede vom Juni 1927 zu lesen, eine jener Stellen, auf die der revolutionäre Marxist vierzig Jahre später nur mit Zorn und Verzweiflung zurückblicken kann, während der zeitgenössische Trotzkismus in seiner unermesslichen Unbewusstheit davor in Ekstase gerät:

»Würden wir unter den Bedingungen der Periode vor dem imperialistischen Krieg, der vorrevolutionären Zeit, leben, unter den Bedingungen einer relativ langsamen Zusammenballung der Gegensätze, dann würde die Wahrscheinlichkeit einer Spaltung meines Erachtens unvergleichlich viel höher sein als die einer Wahrung der Einheit. Die Lage ist heute jedoch anders. Unsere Meinungsverschiedenheiten haben sich beträchtlich zugespitzt, die Gegensätze nahmen enorm zu (…) Doch verfügen wir andererseits erstmals über eine riesige revolutionäre Kraft, die sich in der Partei konzentriert, über einen Riesenreichtum an Erfahrung, die sich in den Werken Lenins, im Parteiprogramm und in der Tradition der Partei konzentriert. Wir haben einen guten Teil dieses Kapitels vergeudet (...), doch ist noch viel reines Gold zurückgeblieben. Zweitens kennzeichnet sich die heutige geschichtliche Periode durch plötzliche Wenden, gigantische Ereignisse und kolossale Lehren, und man kann und muss daran lernen. Großartige Ereignisse haben sich abgespielt; an ihnen kann man sehr gut beide gegenüberstehen - den politischen Linien prüfen. Die Partei kann die Erfahrung und Aneignung dieser Lehren erleichtern oder behindern. Ihr behindert sie (Wir heben diesen tragischen Euphemismus hervor, mit welchem Trotzki die laufende Vernichtung der Klassenpartei durch den Nationalkommunismus zu kennzeichnen versucht). »Wir aber, wir kämpfen für die politische Linie der Oktoberrevolution und werden weiterhin für sie kämpfen. Wir sind von der Richtigkeit unserer Linie so tief überzeugt, dass wir nicht daran zweifeln, dass sie schließlich im Bewusstsein der proletarischen Mehrheit unserer Partei Wurzeln fassen wird. Worin liegt unter diesen Bedingungen die Pflicht der zentralen Kontrollkommission? Ich denke, diese Pflicht muss in dieser Periode plötzlicher wenden darin bestehen, innerhalb der Partei ein flexibleres und gesunderes Regime zu schaffen. So könnten sich die entgegengesetzten politischen Linien der Prüfung durch die gigantischen Ereignisse unterziehen, ohne zu einem Zusammenstoß zu kommen. Man muss der Partei die Möglichkeit geben, (...) anhand dieser Ereignisse (...) eine Selbstkritik durchzufuhren. Wenn man sich dazu entschließt, dann antworte ich, dass der Kurs der Partei berichtigt sein wird, noch bevor ein oder zwei Jahre vergangen sind. Man darf nicht zu schnell gehen; man darf keine Entscheidungen treffen, die man später nur schwer wiedergut - machen könnte. Seid vorsichtig, sonst werdet ihr sagen müssen: »wir haben uns von denjenigen getrennt, die wir hätten behalten müssen, und wir haben diejenigen behalten, von denen wir uns hätten trennen müssen

Diese merkwürdige Schlussfolgerung hat mindestens das Verdienst, uns das Geheimnis von Trotzkis Einheitsfrontpolitik gegenüber dem Stalinismus zu liefern: die Gefahr einer Restauration des vor der Oktoberrevolution bestehenden Regimes infolge einer Intervention des ausländischen Imperialismus (wie wir oben gesehen haben, lag darin der einzigmögliche historische Weg einer solchen Restauration). Diese Drohung plagt sowohl Nationalkommunisten als auch proletarische Internationalisten, ja sie wird sie bis zum Ende heimsuchen (34). Ihr gegenüber können nach Trotzkis Meinung die »Ustrialowisten« der Partei (d.h. die stalinistischen Nationalkommunisten) die proletarischen Internationalisten ebensowenig entbehren, wie diese die »Ustrialowisten«! Auf dieser wahnsinnigen Illusion beruht die Politik der »Demokratisierung der Partei«. Hier sieht man, dass die Einheitsfrontpolitik eine Form jener »Union Sacrée« zur Vaterlandsverteidigung bedeutete, die Trotzki unter ganz anderen Bedingungen mit der ganzen revolutionären Energie, die er hatte, unerbittlich bekämpft hätte. Und nur deshalb, weil er mit der Oktoberrevolution nicht nur als sozialistischer, sondern auch als demokratischer Revolution zusammengewachsen war, nur kraft dieser organischen Bindung, konnte er auf einen solchen Boden hinabgezogen werden: der »Burgfrieden« vor der tatsächlichen oder angenommenen Gefahr einer bürgerlich-demokratischen Konterrevolution! Wie anders ließen sich die verzweifelten Bemühungen erklären, die Trotzki unternahm, um die notwendige Antwort auf den Krieg, den die »ustrialowistische« Fraktion gegen die proletarische Strömung entfesselt hatte, in den Grenzen der demokratischen Legalität einer einzigen Partei zu halten? Diese verzweifelten Versuche gehen mit schmerzlicher Beredsamkeit aus folgendem Passus hervor:

»Das Regime der Unterdrückung in der Partei entspringt unvermeidlich der ganzen Politik der Führung. Hinter dem Rücken der Extremisten des Apparats steht die erwachende innere Bourgeoisie, hinter deren Rücken die Weltbourgeoisie. Alle diese Kräfte lasten auf der proletarischen Avantgarde und hindern sie, ihren Kopf zu erhöhen oder ihren Mund zu öffnen. Je mehr die Politik des Zentralkomitees von dem Wege der proletarischen Klasse abweicht, desto mehr muss man von oben Zwangsmaßnahmen anwenden, um der proletarischen Avantgarde diese Politik aufzuzwingen. Darin liegt die Grundursache für die unerträglichen Zustände, die innerhalb der Partei herrschen. (...) Die unmittelbare Aufgabe, die sich Stalin gestellt hat, ist die Spaltung der Partei, die Beseitigung der Opposition, die Gewöhnung der Partei an die Methode der physischen Vernichtung. Faschistische Banden von Auspfeifern, Fausthiebe, Werfen mit Büchern und Steinen, Gefängnisgitter - hier hat das Stalin-Regime einen Augenblick haltgemacht auf seinem Wege, aber die Richtung ist vorgezeichnet. Warum sollten (...) (die Stalinisten) sich mit der Opposition in ehrlichen Auseinandersetzungen über Regierungsstatistiken einlassen, wenn sie einfach einen schweren Band dieser Statistiken einem Oppositionsmann an den Kopf werfen können? Der Stalinismus findet in einem solchen Akt seinen rückhaltslosesten Ausdruck und scheut sich vor keiner Pöbelei. Und wir wiederholen: Diese faschistischen Methoden sind nur eine blinde und unbewusste Erfüllung von Befehlen anderer Klassen (d.h. der Klassenfeinde des Proletariats, IKP). Das Ziel ist, die Oppositionsmitglieder auszuschließen und sie womöglich durch Hinrichtung zu beseitigen. Schon kann man Stimmen hören: »Wir werden tausend ausschließen und hundert erschießen, dann haben wir Frieden in der Partei«. Es sind die Stimmen von elenden, ängstlichen und gleichzeitig teuflisch verblendeten Menschen. Es ist die Stimme Thermidors.« Und hier der andere Flügel des Diptychons: »Aber alle ihre Gewalttaten werden zerbrechen vor der Macht eines ehrlichen politischen Kurses. In der Hingabe an einen solchen Kurs werden die oppositionellen Reihen mit revolutionärem Mut zusammengehalten. Stalin wird keine zwei Parteien schaffen. Wir sagen offen zu der Partei: die Diktatur des Proletariats ist in Gefahr. Und wir sind davon überzeugt, dass die Partei in ihrem proletarischen Kern uns hören und verstehen und dass sie der Gefahr entgegentreten wird. Die Partei ist schon tief aufgerührt. Morgen wird sie bis in ihre Grundfesten erschüttert sein. (...) Wir stehen am Steuer des Bolschewismus, es wird ihnen nicht gelingen, uns davon fortzureißen. Wir halten es auch weiter fest. Sie werden uns nicht von der Partei abschneiden. Sie werden uns nicht von der Arbeiterklasse abschneiden. Wir sind an Repression gewöhnt, wir sind auch an Schläge gewöhnt. Wir werden die Oktoberrevolution nicht der Politik eines Stalin überlassen, dessen ganzes Programm in diese wenigen Worte zusammengefasst werden kann: Unterdrückung des proletarischen Kerns, Verbrüderung mit den Kompromisslern aller Länder, Kapitulation vor der Weltbourgeoisie. (...) Schließen sie uns heute aus dem Zentralkomitee aus, wie sie (so viele andere) aus der Partei ausgeschlossen (...) und ins Gefängnis gesteckt haben. Unser Programm wird seinen Weg finden. (...) Die Verfolgungen, Ausschlüsse, Verhaftungen werden unser Programm zum beliebtesten, gelesensten und geschätztesten Dokument der Internationalen Arbeiterbewegung machen. Schließen Sie uns aus. Den Sieg der Opposition - den Sieg der revolutionären Einheit unserer Partei und der kommunistischen Internationale werden Sie nicht aufhalten.« (»Die Furcht vor unserem Programm«, Hervorhebungen IKP).

Man könnte Seiten und Seiten mit Zitaten füllen, aus denen hervorgeht, dass Trotzki bis 1936 nicht glaubte, die Konterrevolution sei eine vollendete Tatsache. September 1929: »Die kommunistische Partei (der UdSSR) - nicht ihren bürokratischen Apparat, sondern ihren proletarischen Kern und die Massen, die ihr folgen - als eine erledigte Organisation, als eine Organisation, die tot und begraben ist, zu betrachten, wäre eine sektiererische Abweichung« (»Die Verteidigung der UdSSR«). Februar 1930: »Ich halte es nicht für möglich, die noch vorhandenen inneren Hilfsquellen der Oktoberrevolution einzuschätzen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, sie hätten sich erschöpft und man sollte daher Stalin nicht daran hindern, sein Tun fortzusetzen. Niemand hat uns zu Aufsehern der geschichtlichen Entwicklung ernannt. Wir sind die Vertreter einer besonderen Strömung des Bolschewismus, den wir an allen Wenden und unter allen Umständen verteidigen« (»Die Bolschewiki-Leninisten in der UdSSR«). Oktober 1932: »Nur Politiker sind den Aufgaben der Ökonomik gewachsen. Das Instrument der Politik ist die Partei. Die allererste Aufgabe besteht darin, die Partei und in der Folge die Sowjets und die Gewerkschaften von Grund auf zu heilen. Die grundlegende Wiederaufrichtung aller sowjetischen Organisationen ist die wichtigste und die dringendste Aufgabe des Jahres 1933« (Schlussfolgerungen der Kritik am II. Fünfjahresplan).

Auf den Kampf der Opposition um die Demokratisierung und Wiederaufrichtung der Partei hatten Stalin und dessen Helfershelfer seit 1927 zynisch entgegnet (35): »Diese Kader (d.h. den stalinistischen Apparat, IKP) kann man nur durch Bürgerkrieg entfernen!« Die demokratischen Regierungen verweisen heuchlerisch auf die Wahlen; und gerade die proletarische Partei zeigt der Arbeiterklasse, dass sie nur durch Bürgerkrieg die bürgerliche Herrschaft und Verwaltung entfernen kann. Der tödliche Fehler der trotzkistischen Opposition lag selbstverständlich nicht darin, diesen Bürgerkrieg gegen den Stalinschen Staat nicht entfesselt zu haben, sondern darin, das russische und internationale Proletariat nicht gewarnt zu haben, dieser Staat sei nur durch Bürgerkrieg zu stürzen - im Gegenteil, selbst im Augenblick, wo der Feind ihr den offenen Krieg erklärte, hielt sie fest an der Politik der demokratischen Reform der Partei und des Staates. Doch damit verlor die trotzkistische Opposition zugleich jede geschichtliche Möglichkeit, zur historisch langfristigen Aufgabe der Wiederherstellung der zerstreuten und geschlagenen kommunistischen Weltbewegung beizutragen.

Dies einmal gesagt, so bedarf es einer völligen Blindheit, um nicht zu erkennen, dass Trotzki damit noch nicht auf den Boden der »Demokratie im Allgemeinen« Übergewechselt war. Dies geschah erst 1936. Und man muss schon so schwachsinnig wie der zeitgenössische Trotzkismus sein, um abstreiten zu können, dass 1936 eine Wende darstellte: Das logische Ergebnis einer Kette von Fehlern und zugleich eine Abschwörung Trotzkis durch Trotzki selbst - das ist die tödliche Dialektik des Opportunismus.

1936 eröffnet sich in der Tat die dritte Phase des Trotzkismus, deren verheerende Positionen in der »Verratenen Revolution« formuliert wurden. Diesmal beugt sich Trotzki endlich den offensichtlichen Tatsachen der Geschichte: »die alte bolschewistische Partei ist tot, und keine Kraft wird sie wieder zum Leben erwecken. (…) Es handelt sich folglich nicht mehr um die »Gefahr« einer zweiten Partei wie vor zwölf, dreizehn Jahren, sondern um ihre historische Notwendigkeit, als der einzigen kraft, die imstande ist, die Sache der Oktoberrevolution weiterzutreibenVorsicht! Diese Präzisierung (die übrigens im ganzen Buch immer wiederkehrt) ist von grundlegender Bedeutung: Das »revolutionäre« Programm, das wir lesen werden, ist nicht (und war es im Geiste Trotzkis niemals) etwa das »neue« internationale Programm der sozialistischen Revolution, es ist nicht etwa eine durch die »Lehren der Geschichte« erzwungene »Berichtigung« dieses Programms und tangiert mitnichten dessen unabänderlichen Charakter. Zu einer solchen Vorstellung können sich nur die »Schüller« verleiten lassen, die Trotzki so lesen, wie Stalin Lenin gelesen hatte. Es handelt sich ganz einfach um das Programm einer hypothetischen Revolution, die wie aus Vorsehung kommen würde, um den Faden der zugleich demokratischen und sozialistischen Oktoberrevolution, den der Stalinismus abgerissen hatte, wiederanzuknüpfen, um die Kluft zwischen den Hoffnungen von 1917 und der historischen Wirklichkeit von 1936 zu überbrücken, kurz um die Revolutionäre durch eine schlagartige Ausradierung der verhassten Gegenwart zu rächen und zugleich zum glänzenden Ausgangspunkt zurückzuführen. Dass eine so konzipierte Revolution nichts anderes als Fieberwahn darstellte, hat die Geschichte hinreichend bewiesen, denn sie hat sich nicht ereignet, und wenn ihr Programm in einem bestimmten Masse verwirklicht wurde, so doch nicht durch eine Revolution, sondern durch eine Reform, und keineswegs durch eine revolutionäre Partei, sondern durch politische Kräfte, die Trotzki, hätte er sie am Werk erlebt, so gehasst hätte, wie er die Sozialdemokraten seiner Zeit gehasst hat, nämlich die »Entstalinisierer«, die Erben Stalins. Uns kommt es hier jedoch nicht auf den mangelnden Realismus der Prognose an, sondern auf den Bruch mit den früheren Prinzipien. Das Programm der »antibürokratischen Revolution« besagt folgendes:

»Wiederherstellung des Rechts auf Kritik und einer wirklichen Wahlfreiheit ist notwendige Vorbedingung für die weitere Entwicklung des Landes. Das setzt voraus, dass den Sowjetparteien, angefangen mit der Partei der Bolschewiki, die Freiheit wiedergegeben wird und die Gewerkschaften wiederauferstehen. Auf die Wirtschaft übertragen bedeutet die Demokratie gründliche Revision der Pläne im Interesse der Werktätigen. Freie Diskussion der Wirtschaftsprobleme wird die Unkosten der bürokratischen Fehler und Zickzacks senken. Die teuren Spielzeuge (…) werden zurücktreten zugunsten von Arbeiterwohnungen. Die »bürgerlichen Verteilungsnormen« werden auf das unbedingt Notwendige zurückgeführt werden, um in dem Masse, wie der gesellschaftliche Reichtum wächst, sozialistischer Gleichheit Platz zu machen. Die Titel werden sofort abgeschafft, der Ordenplunder wird in den Schmelztiegel wandern. Die Jugend wird frei atmen, kritisieren, irren und mannhaft werden dürfen. Schließlich wird die Außenpolitik zu den Traditionen des revolutionären Internationalismus zurückkehren.«

Hier ist die Alternative unerbittlich: Entweder besteht der Kommunismus gerade in der Widerlegung jeglicher Möglichkeit, die Klassen und selbst die geringsten Laster der bürgerlichen Zivilisation mittels der politischen Demokratie abzuschaffen - und in diesem Fall wirft ein solches Programm den Kommunismus über den Haufen, um voll und ganz in den Sozialdemokratismus zustürzen; oder im Gegenteil, dieses Programm ist nicht sozialistisch - und in diesem Fall muss man uns erklären, was eigentlich Kommunismus sei!

Diesem Dilemma versucht die »theoretische Diplomatie« des degenerierten Trotzkismus durch eine Lösung zu entkommen, die sehr stark jenen Medi­kamenten ähnelt, denen gegenüber selbst die Krankheit ein Segen ist. So schrieb Isaac Deutscher (ein polnischer Trotzkist, der zum Ostexperten der aufgeklärten angelsächsischen Bourgeoisie wurde) in seiner »Unvollendeten Revolution«: »In einer postkapitalistischen Gesellschaft hat die Meinungs- und Vereinsfreiheit eine Funktion zu erfüllen, die sich von der, die sie im Kapitalismus erfüllt, radikal unterscheidet.« Und warum das? Tja: »In der postkapitalistischen Gesellschaft (d.h. in der UdSSR usw. usf. IKP; folgendes wird von uns hervorgehoben) werden die Massen nicht durch einen automatischen ökonomischen Mechanismus in Abhängigkeit gehalten; das geschieht allein durch die politische Macht Aber wo zum Teufel hat es in der Geschichte je eine »politische Macht«, d.h. einen organisierten Zwangsapparat gegeben, der nicht gerade aus dem jeweiligen ökonomischen Abhängigkeitsmechanismus entstanden ist? So etwas gibt es nur in der anarchistischen Weltanschauung! Mit einer solchen Erklärung verlässt man nicht den Boden des Sozialdemokratismus, sondern stellt im Gegenteil noch dazu ein Bein auf denjenigen des anarchistischen Schwachsinns! Armer Trotzki, großer gescheiterter Marxist! Nicht einmal die Tatsache haben seine »Schüller« zur Kenntnis genommen, dass er den besten Teil seines Oppositionellen Lebens damit verbrachte, die in der russischen Gesellschaft nach der Oktoberrevolution fortwirkenden »automatischen ökonomischen Abhängigkeitsmechanismen« zu erläutern!

Inzwischen haben sich zwei Generationen von »Militanten«, deren marxistisches Wissen und revolutionäre Überzeugung sich an Trotzkis Seite lächerlich ausnehmen, sich über Trotzkis »logische Widersprüche« ausgiebig lustig gemacht. Es ist ja Sache der Opportunisten (mit ihrer »Freiheit der Kritik«), den Schwächen und Fehlern der Führer den schwarzen Peter zuzuschieben, um sich damit der Verantwortung für die eigene Prinzipienlosigkeit zu entziehen. In seiner fürchterlichen Verwirrung gegenüber der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der UdSSR, in seiner ausdrücklichen Bestrebung, »abgeschlossene soziale Kategorien wie Kapitalismus (darunter den »Staatskapitalismus«) oder auch Sozialismus auszuschalten« (»Die verratene Revolution«), hätte  Trotzki den Ausdruck »Postkapitalismus« sicherlich nicht abgewiesen. Doch nicht hier, nicht in den »logischen Widersprüchen« liegt das Problem. Um den Zusammenhang zu erhellen, wollen wir annehmen, Trotzki hätte seine »Ungereimtheiten« auf die Spitze getrieben und gesagt: Die UdSSR ist zu 50% sozialistisch und zu 50% kapitalistisch oder gar vorkapitalistisch. Die Frage, die Deutschers idiotischer Versuch (36), die Wiedereinführung der Demokratie in die »postkapitalistische Gesellschaft« zu rechtfertigen, aufwirft, würde sich dadurch überhaupt nicht ändern: Betraf jene demokratische »Revolution«, von der Trotzki träumte, nun die »sozialistische Hälfte« oder die »kapitalistische Hälfte« der Sowjetgesellschaft? Diese Frage kann bizarr erscheinen, doch hat sie Trotzki selbst bereits 1929 in seiner Polemik mit Urbahns beantwortet. Schon damals wollte Urbahns Russland durch einen demokratischen Kampf gegen Stalin (!) auf den Weg des Sozialismus zurückbringen. Trotzki entgegnete (»Die Verteidigung der UdSSR«): »Was bedeutet Koalitionsfreiheit? Die »Freiheit« (und wir wissen, was sie taugt!), den Klassenkampf in einer Gesellschaft zu führen, die auf der kapitalistischen Anarchie beruht, während sich ihr politisches Leben im Rahmen der sogenannten Demokratie abspielt. Nun ist der Sozialismus nicht denkbar (…) Ohne eine Systematisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse (…)« Die Rolle der Gewerkschaften im Sozialismus habe daher »nichts Gemeinsames mit der Rolle der Gewerkschaften in den bürgerlichen Staaten, denn hier ist die Koalitionsfreiheit nicht nur Folgeerscheinung, sondern auch ein aktiver Faktor der kapitalistischen Anarchie (…) Bei Urbahns hat die Losung »Koalitionsfreiheit« im Grunde dieselbe allgemeine Bedeutung wie die Losung »Demokratie« (…) Das wäre unter einer kleinen Bedingungen durchaus richtig (37): Man müsste nämlich davon ausgehen, dass der Thermidor sich bereits vollzogen hat (38). Aber in diesem Fall bleibt Urbahns auf halbem Wege stecken. Die Koalitionsfreiheit als eine isolierte Forderung zu stellen, ist die Karikatur einer Politik. Die Koalitionsfreiheit ist undenkbar ohne alle anderen »Freiheiten«. Und diese Freiheiten sind nur unter der Herrschaft der Demokratie, d.h. unter dem Kapitalismus, denkbar. Man muss die Sachen zu Ende denken« (Hervorhebungen IKP).

Dieser Passus ist grundlegend. Was bedeutet »die Sachen zu Ende denken« in dem Zusammenhang, mit dem wir uns hier beschäftigen? Es bedeutet, dass man begreifen muss, dass das vom Kommunisten Trotzki für die UdSSR des Jahres 1936 konzipierte Programm einer neo-liberalen Revolution nichts zu tun hat mit dem, was er über die Existenz eines »Postkapitalismus« in Russland gesagt oder auch nur gedacht haben mag. lm Gegenteil, dieses Programm stimmt zwar absolut nicht mit Trotzkis eigener Charakterisierung des 20. Jahrhunderts, bzw. mit der marxistischen Kritik an der politischen Demokratie überein, doch steht es in vollkommenem Einklang mit seiner hartnäckigen Widerlegung der Existenz des Sozialismus in Russland. Diese Behauptung mag seine »Schüler« nicht weniger als viele seiner »Gegner« verwundern, an erster Stelle diejenigen, die auf Trotzkis sozialdemokratische Abweichung nur allzu gern mit einer anarchosyndikalistischen Abweichung reagierten. Diese unglücklichen Geschöpfe glauben in der Tat unerschütterlich daran, dass es in Russland eine »neue Gesellschaft« gebe, die durch die Herrschaft der Bürokratie charakterisiert sei, dieser berühmten Bürokratie, die zugleich proletarisch und bürgerlich sein soll: Proletarisch in dem Masse, in dem sie das Staatseigentum verteidigte, und bürgerlich in dem Masse, in dem sie das Proletariat unterdrückte und zugleich die Gefahr heraufbeschwor, das Land im zweiten Weltkrieg in die Niederlage und damit in die Restauration des Regimes der bürgerlichen Konsti­tuante zu führen, was seinerseits die Gefahr einer Rückkehr des »Ancien Regime« zur Folge hätte. Das wesentliche Unglück dieser Leute besteht darin, dass sie niemals gemerkt haben, dass diese »Bürokratie« nie etwas anderes bedeutet hat, als den gescheiterten Versuch Trotzkis, die geschichtliche Rolle des Stalinismus soziologisch zu personifizieren, mit anderen Worten den irrsinnigen Versuch, alle Widersprüche, die der Stalinismus offen zur Schau trug, auf die Eigenarten einer einzigen sozialen Gruppe zurückzuführen (39), während in Wirklichkeit die wahre geschichtliche Rolle des Stalinismus nur allzu offenkundig hervorging aus dem zusammenwirkenden internationalen und nationalen Bedingungen, deren Produkt er war. Doch dies alles konnten die »Jünger« Trotzkis nicht einmal erahnen, denn das, was subjektive Verwirrung war, nahmen sie für das objektive Geheimnis einer neuen Gesellschaft. Und so konnten sie auch nicht verstehen, dass der »Postkapitalismus«, die scheinbare Doppelrolle der Bürokratie gegenüber dem Sozialismus, niemals etwas anderes dargestellt hat als eine ideologische Rechtfertigung für die politische Einheitsfront (so besonders diese auch gewesen sein mag), mit der Trotzki gegen alle Winde und Ströme versucht hat, die Überbleibsel der Klassenpartei in Russland aus der »ustrialowistischen« Partei zu retten. Man muss in der Tat »die Sache zu Ende denken«; man muss aber auch zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden! Wenn man fragt: Ja, aber warum diese Einheitsfront? Darauf liefert der »Postkapitalismus« überhaupt keine Antwort! Denn in welchem Masse gibt es für Trotzki einen »Postkapitalismus« in Russland? Nur in dem Masse, in dem für die russische Gesellschaft eine historische Möglichkeit bestehen blieb, auf dem Weg zum Sozialismus voranzukommen. Der Fortbestand dieser Möglichkeit hatte für Trotzki zweierlei Voraussetzungen: im Inneren die Abwendung einer Restauration des Regimes der Konstituante, denn eine solche Restauration hätte ja verheerende Folgen für die demokratischen Errungenschaften der Oktoberrevolution; im internationalen Maßstab die proletarische Revolution. Der »Postkapitalismus« (die »Übergangsgesellschaft«!) bildete also nicht eine Stufe des »Sozialismus«, sondern einfach eine Art Niemandsland, wo die Tendenzen zum Sozialismus ihren Kampf gegen die vom Stalinismus verkörperten Tendenzen zum Kapitalismus fortsetzen. Um eine Einheitsfront zu bilden, muss man entzweit sein; doch erklärt die Tatsache, dass man entzweit ist, noch gar nicht die Einheitsfront! Vom Standpunkt des Proletariats war der Stalinismus eine infame nationalistische Abweichung, der verhasste Totengräber der proletarischen und marxistischen Tradition des Bolschewismus, der Stützpunkt aller opportunistischen Abweichungen in der Kommunistischen Internationale, der Stoßtrupp gegen alle ihre proletarischen Strömungen. Doch vom Standpunkt der demokratischen Revolution in Russland war der Stalinismus immer nur eine Variante des Ustrialowismus gewesen, d.h. einer Strömung, die die demokratischen Errungenschaften des Oktober nicht mehr in Frage stellt, einer Strömung, die von der Restauration des Regimes der Konstituante absieht und damit gleichzeitig verhindert, dass Russland auf seine frühere Stellung eines »Kleinkapitalismus, halb kolonisiert und ohne jede Zukunft« zurückversetzt wird; um es kurz zu sagen, er erfüllt die »fortschrittliche geschichtliche Rolle«, die darin besteht, die Produktivkräfte zu entwickeln und die vorbürgerlichen Verhältnisse abzuschaffen, in denen Russland ohne die Oktoberrevolution gefangen geblieben wäre. Klassenüberlegungen im weiten Sinne - d.h. im Sinne der Interessen der internationalen kommunistischen Bewegung - führen Trotzki zu einem heftigen Kampf gegen den Stalinismus als politischen Opportunismus; Klassenüberlegungen im engen Sinne - d.h. im Sinne der unmittelbaren Interessen der russischen Arbeiter, die unter dem russischen Sklaventreiberregime des neuen Staates einer schrecklichen Unterdrückung ausgesetzt sind - führen ihn zu einem ebenso heftigen Kampf gegen den »Sozialismus in einem Lande«, diese ideologische Verschleierung einer wahrhaftigen sozialen Unterdrückung. Doch als russischer Ustrialowismus war der Stalinismus auch geschichtlicher Träger einer wahrhaftigen ökonomischen und sozialen Revolution, einer Revolution, die Trotzki aus sozialistischen Skrupeln zwar hätte kontrollieren und disziplinieren, nicht jedoch verhindern wollen, schuf sie ja jene »materiellen Grundlagen«, ohne welche der Sozialismus undenkbar ist. Und zum restlosen Bruch mit dieser Seite des Stalinismus ließ sich Trotzki durch keine Klassenüberlegung im weiten oder engen Sinn je überzeugen, nicht einmal nach 1936 (40). Hier lag der tödliche Fehler. Der Marxismus erkennt durchaus die progressive Rolle des Kapitalismus. Doch erkennt er sie gerade als Grundlage für den revolutionären Klassenkampf des Proletariats gegen den Kapitalismus. Aus dieser dialektischen Auffassung ergibt sich nicht nur die absolute Unnachgiebigkeit der Klassenpartei in Verteidigung ihrer eigenen sozialen Postulate, sondern auch ihre vollkommene politische Selbständigkeit gegenüber den Gegnerparteien.

Prinzipielle politische Fehler lassen sich nicht theoretisch begründen; das liegt in ihrer Natur selbst. Der prinzipielle politische Fehler ist dazu verurteilt, bei den täuschenden Rechtfertigungen der Ideologie Zuflucht zu nehmen. In welcher Hölle Trotzki Zuflucht nahm, weiß nicht nur der Teufel. Doch um dies zu erkennen, muss man mindestens so weit wie er auf dem Boden des Marxismus stehen; man muss verstehen, dass der Sozialismus ohne eine vorhergehende Entwicklung seiner materiellen Grundlagen nicht möglich ist. Dazu sind »Trotzkisten« allerdings nicht in der Lage, selbst diejenigen nicht, die das Verdienst hatten, dem Meister auf dem Weg der politischen Demokratie nicht zu folgen: Sie sind inzwischen auf die Ebene des Selbstverwaltungssozialismus hinabgesunken und reduzieren alles auf die Arbeiterselbstverwaltung, die an die Stelle der Kapitalistenverwaltung zu treten habe. Mehr noch, man muss auch verstehen, was Trotzki zu Recht immer wieder betont hat, nämlich dass die Demokratie nur unter dem Kapitalismus denkbar ist (woraus keineswegs folgt, dass der Kapitalismus ohne Demokratie nicht denkbar sei!). Unfähig, zu dieser elementaren marxistischen Wahrheit Zugang zu finden, haben die »Schüller« auch nicht begreifen können, dass Trotzki selbst dann, wenn er keine einzige Zeile geschrieben hätte, um zu beweisen, dass es in Russland keinen Sozialismus gibt, dass er selbst dann diesen Beweis implizit erbracht hat: als solcher gilt ohne weiteres sein Programm einer neoliberalen Revolution aus dem Jahre 1936.

In Wirklichkeit hat Trotzki niemals an den russischen Sozialismus geglaubt, und er hat auch nicht die Kennzeichen des Sozialismus mit denjenigen des Kapitalismus verwechselt. Auch darin unterscheidet er sich radikal von seinen Epigonen. Diese können von einem demokratischen Sozialismus nur quasseln, weil sie an einen Sozialismus auf der Grundlage der Warenproduktion glauben, und daran können sie nur glauben, weil sie wieder einmal absolut nichts von der Polemik Trotzkis gegen den Stalinismus verstanden haben. In der Zeit der beiden ersten Fünfjahrespläne machte sich Trotzki über die stalinistische Anmaßung lustig, »die NEP über Bord zu werfen«, d.h. die Warenproduktion und die aus ihr resultierenden Verhältnisse allein dank des administrativen Willens außer Kraft zu setzen, oder mit anderen Worten die bürgerliche Anarchie allein dank der politischen Autorität abzuschaffen. Damit bekämpfte Trotzki die voluntaristische Utopie des Sozialismus in einem Lande. Doch damit tat er nichts anderes, als Lenins Politik des kontrollierten Kapitalismus in aller Treue zu verteidigen, jene Politik, die Lenin vollkommen richtig als die einzigmögliche betrachtete, solange man auf die Weltrevolution warten musste. Immer so gut informiert und tiefschürfend wie sie sind, entdeckten die Epigonen des späten Trotzki darin die Verteidigung der »richtigen Wirtschaftspolitik des Sozialismus« gegen die »falsche Politik« Stalins, um daraus - genau wie die Stalinisten der nachfolgenden Periode - zu folgern, dass der Sozialismus ohne Markt und ohne Lohnarbeit nicht läuft! Doch lassen wir diese langweilige Kette von Irrtümern beiseite. Man muss Trotzki selbst zu Wort kommen lassen, denn er kann unsere Behauptungen sehr schön beweisen:

»In der Industrie herrscht fast uneingeschränkt das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln. In der Landwirtschaft herrscht es nur in den Sowchosen, die nicht mehr als 10 % der Anbaufläche erfassen. In den Kolchosen paart sich das genossenschaftliche oder Gruppeneigentum in verschiedenen Proportionen mit staatlichem und privatem. Der Grund und Boden, der juridisch dem Staat gehört, ist den Kolchosen in »ewige« Nutzung übergeben, was sich wenig vom Gruppeneigentum unterscheidet. (…) Die neue Verfassung (...) spricht von »Staatseigentum, d. h. Besitz des ganzen Volkes.« Diese Identifizierung stellt den Grundsophismus der offiziellen Doktrin dar. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Marxisten, angefangen mit Marx selber, in Bezug auf den Arbeiterstaat die Ausdrücke »Staats-«, »Volks-« oder »sozialistisches« Eigentum einfach als Synonyme gebrauchten. Im großen historischen Maßstab gesehen, bot dieser Gebrauch keinerlei besondere Schwierigkeiten. Er wird aber zu einer Quelle großer Fehler und direkten Betrugs, handelt es sich um die ersten, noch nicht gesicherten Etappen in der Entwicklung der neuen Gesellschaft, die zudem isoliert und wirtschaftlich hinter den kapitalistischen Ländern zurückgeblieben ist.

»Um gesellschaftliches Eigentum zu werden, muss das Privateigentum unvermeidlich das staatliche Stadium durchlaufen, so wie die Raupe durch das Stadium der Larve gegen muss, um Schmetterling zu werden. Aber die Larve ist noch kein Schmetterling. Myriaden von Larven kommen um, bevor sie Schmetterling wurden. Das Staatseigentum wird nur in dem Masse »Volkseigentum«, in dem die sozialen Privilegien und Unterschiede verschwinden, und folglich auch das Bedürfnis nach dem Staat. Mit anderen Worten: das Staatseigentum verwandelt sich in sozialistisches in dem Masse, wie es aufhört, Staatseigentum zu sein. Und umgekehrt: je höher sich der Sowjetstaat über das Volk erhebt, umso wütender stellt er sich als Hüter des Eigentums dem Volk, dessen Verschwender, gegenüber, umso krasser zeugt er selbst gegen den sozialistischen Charakter des Staatseigentums. (…)

»Das riesige und völlig unbestreitbare statistische Übergewicht der staatlichen und kollektiven Wirtschaftsformen, so wichtig es für die Zukunft auch sein mag, beseitigt nicht eine andere, kaum minder wichtige Frage: die der Mächtigkeit der bürgerlichen Tendenzen innerhalb des »sozialistischen« Sektors selbst, und zwar nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Industrie (…) Die Dynamik des wirtschaftlichen Aufschwungs enthält (...) selber ein Erwachen kleinbürgerlicher Appetite nicht nur bei den Bauern und Vertretern der »geistigen« Arbeit, sondern auch bei den Spitzen des Proletariats.(41) Die nackte Gegenüberstellung der Einzelbauern und Kolchosbauern, der Handwerker und der Staatsindustrie, gibt nicht die geringste Vorstellung von der Explosivkraft dieser Appetite, die die ganze Wirtschaft des Landes durchdringen und die sich, summarisch gesprochen, ausdrücken in dem Bestreben aller, der Gesellschaft möglichst wenig zu geben und möglichst viel von ihr zu erhalten. (…)

»Während der Staat sich in einem ununterbrochenen Kampf mit der molekularen Tätigkeit der zentrifugalen Kräfte befindet, bildet die herrschende Schicht selber das Hauptreservoir der gesetzlichen und ungesetzlichen privaten Akkumulation. Die durch neue juridische Normen maskierten kleinbürgerlichen Tendenzen lassen sich allerdings statistisch nicht leicht erfassen. Aber ihr direktes Übergewicht im Wirtschaftsleben wird vor allem bewiesen durch die »sozialistische« Bürokratie selbst, diese himmelschreiende contradictio in adjecto, diese ungeheuerliche und ständig zunehmende soziale Verirrung (…)  »Der Arbeiter in unserem Lande ist kein Lohnsklave, kein Verkäufer seiner Ware, der Arbeitskraft. Er ist ein freier Werkmann« («Prawda»). Für die Gegenwart stellt diese pathetische Formel unstatthaftes Geprahle dar. Die Aushändigung der Fabriken an den Staat hat die Lage des Arbeiters nur juridisch verändert. In Wirklichkeit ist er, während er eine bestimmte Anzahl von Stunden für einen bestimmten Lohn arbeitet, gezwungen zu darben. Die Hoffnungen, welche der Arbeiter früher auf Partei und Gewerkschaften setzte, hat er nach der Revolution auf den von ihm geschaffenen Staat übertragen. Aber die nützliche Arbeit dieses Werkzeugs war durch das Niveau der Technik und Kultur begrenzt. Um dieses Niveau zu erhöhen, begann der Staat, auf die alten Methoden des Drucks auf Muskeln und Nerven der Werktätigen zurückzugreifen. Es entstand ein Korps von Antreibern (…) Bei Akkordlohn, schweren materiellen Daseinsbedingungen, Fehlen der Freizügigkeit, einem fürchterlichen Polizeiapparat, der in das Leben jedes Betriebes eindringt, fühlt sich der Arbeiter schwerlich als »freier Werkmann«. Im Beamten sieht er den Vorgesetzten, im Staat den Herrn. (…)

»Der Kampf um die Erhöhung der Arbeitsergiebigkeit bildet neben der Sorge um die Verteidigung den Hauptinhalt der Tätigkeit der sowjetregierung. Auf den verschiedenen Etappen in der Entwicklung der UdSSR nahm dieser Kampf verschiedene Formen an. Die in den Jahren des ersten Fünfjahrplans und zu Beginn die zweiten angewandten Methoden der »Stoßbrigaden« waren gegründet auf Agitation, persönliches Beispiel, administrativen Druck, alle Art Gruppenermunterungen und Gruppenprivilegien. Die Versuche (...) so etwas wie Akkordlöhne einzuführen, scheiterten an der trügerischen Währung und der Vielfalt der Preise. (…) Erst die Abschaffung des Kartensystems, die beginnende Stabilisierung des Rubels und die Vereinheitlichung der Preise schufen die Bedingungen zur Anwendung des Akkord- oder Stücklohns. (…) Nicht die Sowjetadministratoren haben das Geheimnis des Akkords entdeckt: dies System, bei dem man sich ohne sichtbaren äußeren Zwang zu Tode schindet, hielt Marx für »der kapitalistischen Produktionsweise am meisten angemessen (…) Wenn auf den ersten Blick die Rückkehr der Sowjetregierung zum Akkord, nach dem »endgültigen und unwiderruflichen Sieg des Sozialismus«, als ein Rückschritt zu kapitalistischen Verhältnissen erscheinen mag, so gilt hier (dasselbe wie bei) der Rehabilitierung des Rubels (…) : es handelt sich nicht um einen Verzicht auf den Sozialismus, sondern lediglich um die Liquidierung einiger großer Illusionen. Die Form des Arbeitslohns ist nur besser den realen Möglichkeiten des Landes angepasst worden: »Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung«.

»Jedoch, die herrschende Schicht der Sowjetunion kann der sozialen Schminke bereits nicht mehr entbehren. (Sie verkündet): »Der Rubel wird das einzige und wahre Mittel zur Verwirklichung des sozialistischen (!) Prinzips des Arbeitslohns«. Wenn in den alten Monarchien alles, einschließlich der Bedürfnisanstalten, für königlich erklärt wurde, so folgt daraus noch nicht, dass im Arbeiterstaat alles von selbst sozialistisch wird. Der Rubel ist das »einzige und wahre Mittel« zur Verwirklichung des kapitalistischen Prinzips des Arbeitslohns (Hervorhebung Trotzki) (…) Zur Begründung des neuen Mythos vom »sozialistischen« Stücklohn (schreiben die Stalinisten): »Das Grundprinzip des Sozialismus ist darin enthalten, dass jeder nach seinen Fähigkeiten arbeitet und nach der von ihm geleisteten Arbeit bezahlt wird« (...) Wenn das Arbeitstempo durch die Jagd nach dem Rubel bestimmt wird, dann verausgaben sich die Menschen nicht »nach ihren Fähigkeiten« (42), d.h. nicht nach Maßgabe ihrer Muskel- und Nervenkraft, sondern tun sich Gewalt an. Diese Methode kann man bedingt nur durch einen Hinweis auf die harte Notwendigkeit rechtfertigen; sie aber zum »Grundprinzip des Sozialismus« erklären, heißt die Idee der neuen, höheren Kultur zynisch in den gewohnten Schmutz des Kapitalismus treten. (…) Der Sozialismus oder unteres Stadium des Kommunismus erfordert zwar noch strenge Kontrolle über das Maß der Arbeit und das Maß des Verbrauchs, setzt aber jedenfalls menschlichere Kontrollformen voraus, als die vom Ausbeutergenius des Kapitals ersonnenen. (…) Auf jeden Fall, das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln verwandelt nicht Mist in Gold und umgibt nicht das Schwitzsystem, das mit der Hauptproduktivkraft, dem Menschen, Raubbau treibt, mit einem Heiligenschein. (…)

»Der staatliche wie der Geldzwang sind ein Erbteil der Klassengesellschaft (...) In der kommunistischen Gesellschaft werden Staat und Geld verschwunden sein. Ihr allmähliches Absterben muss also schon unter dem Sozialismus beginnen. Von einem tatsächlichen Sieg des Sozialismus wird man erst in dem geschichtlichen Augenblick sprechen können, wenn der Staat nur noch halb ein Staat ist und das Geld seine magische Kraft einzubüßen beginnt. Das wird bedeuten, dass mit dem Sozialismus, der sich der kapitalistischen Fetische entledigt, zwischen den Menschen durchsichtigere, freiere, würdigere Beziehungen zu walten beginnen. (...)

Die Nationalisierung der Produktionsmittel und des Kredits, die Vergenossenschaftung oder Verstaatlichung des Binnenhandels, das Monopol des Außenhandels, die Kollektivisierung der Landwirtschaft und die Erbschaftsgesetzgebung stecken der persönlichen Geldakkumulation enge Grenzen und erschweren ihre Verwandlung in privates (Wucher-, Kaufmanns- und Industrie-) Kapital.« In der UdSSR ist der Staat »universeller Kaufmann, Gläubiger und Industrieller«. (…) »Die Rolle des Geldes in der Sowjetwirtschaft ist nicht nur noch nicht ausgespielt, sondern soll sich... erst restlos entfalten.« (Trotzki, »Verratene Revolution«, S. 228, 230, 231, 229, 235, 81 ff, 67 ff, Hervorhebungen IKP).

Nur diese eben geschilderte kapitalistische Wirklichkeit hat Trotzki zur Überzeugung führen können, de eine neue Revolution notwendig sei; und nur diese kapitalistische Wirklichkeit konnte ihn zu folgender Analogie verführen: »Die Geschichte hat in der Vergangenheit nicht bloß soziale Revolutionen aufzuweisen, die das Feudalregime durch das bürgerliche ersetzten, sondern auch politische, die, ohne die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft anzutasten, die alte herrschende Spitze hinwegfegten (1830 und 1848 in Frankreich, Februar 1917 in Russland u.a.). Der Sturz der bonapartistischen Kaste (43) wird selbstverständlich tiefe soziale Folgen haben, aber an sich wird er lm Rahmen eines politischen Umsturzes bleiben.«

Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Man kann, wie der degenerierte Trotzkismus unserer Tage, davon ausgehen, dass diese politische Revolution auf der Grundlage des Sozialismus oder, um es weniger statisch auszudrücken, an einem bestimmten Zeitpunkt der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft eintreten soll. Wäre dem so, dann hätten wir nur mit »Herkulessäulen der Ungereimtheit« zu tun: Die Diktatur des Proletariats ist also doch nicht mehr notwendig für die sozialistische Umgestaltung? Die sozialistische Umgestaltung setzt sich also selbst dann fort, wenn das Proletariat aus der Macht verjagt wurde? Und wenn dieses Proletariat die Macht revolutionär wiedererobert, braucht es dann auf sozio-ökonomischer Ebene »an sich« nur auf dem bisherigen Weg fortzuschreiten, um zum vollen Sozialismus zu gelangen? Den Fragenkatalog könnte man seitenlang fortsetzen. Wenn man jedoch von der kapitalistischen Grundlage ausgeht, werden die Zusammenhänge klar: Das Proletariat hat die Macht verloren; die kapitalistische Umgestaltung des kleinbürgerlichen Russlands vollzieht sich daher nicht mehr mit sozialistischem Kurs, sondern in einer Phase weltweiter Reaktion. Um den Weg zum Sozialismus wieder zu öffnen, muss das Proletariat die Macht wieder erobern; sollte ihm dies gelingen, so würde es 1936, zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution, im nationalen Rahmen nach wie vor noch nicht zur unteren Phase des Sozialismus übergehen können; es würde den Markt, die Lohnarbeit, die bürgerlichen Produktionsverhältnisse immer noch nicht abschaffen können, sondern nur ein paar weitere Zwischenstufen in der Abfolge der Produktionsweisen erklimmen: in diesem Sinne wäre die Revolution politisch und nicht sozial. Doch bleibt eine wesentliche Ungereimtheit bestehen, nämlich die Vorstellung, das Proletariat könne wie 1917 die Macht erobern (oder wieder an die Macht gelangen) als Krönung einer revolutionär-demokratischen Entwicklung, d.h. im Laufe einer Volksrevolution. Denn gerade eine solche Entwicklung setzte den sozialen Hintergrund von 1917 voraus, d.h. das ursprüngliche Bündnis von sozialistischem Proletariat und demokratischer Bauernschaft. Dieses Bündnis seinerseits setzte die Notwendigkeit einer demokratischen Revolution, d.h. der Liquidierung des Großgrundbesitzes voraus. Doch diese Revolution stand 1936 nicht mehr auf der Tagesordnung, sie war bereits vollzogen worden; und selbst im Falle einer Restauration würde das Regime der Konstituante die Errungenschaften der demokratischen Revolution kaum mehr antasten können als die Bourbonen in Frankreich nach dem Sturz des Empire. Unter diesen neuen Bedingungen hätte ein demokratisches Programm, bzw. das Bündnis des Proletariats mit allen plebejischen Klassen nicht mehr die revolutionäre Bedeutung von 1917. Eine derartige Bewegung könnte nunmehr - selbst wenn man sie als eine aufständische Bewegung verstünde - nur einen vulgären demokratischen oder sozialdemokratischen Inhalt haben: die Einheit des ganzen Volkes für die Freiheit, die infame Losung des Antifaschismus, die niemals zu einer Revolution, nicht einmal zu einer »rein politischen« hat führen können.

Erfüllt von einer Nostalgie für den Oktober und von einer großmütigen Empörung vor der wachsenden Unterdrückung im Russland des »Sozialismus in einem Land«, ist Trotzkis Position von 1936 dennoch die Liquidierung seiner marxistischen Vergangenheit und seiner kommunistischen Prinzipien. Wenn seine Schüller den Sinn der blende von 1936 nicht verstehen konnten, so ist das sicherlich zum Teil auch auf die »logischen Widersprüche« des Oppositionsführers zurückzuführen. Doch die Klassenpartei beruht nicht auf der Logik von Individuen; sie ist an Prinzipien gebunden, die das Leben selbst, die lange Erfahrung des proletarischen Klassenkampfes unwiderruflich gemacht hat; im Gegensatz zum Opportunismus verwechselt sie daher nicht das menschlich unvermeidliche Scheitern von besiegten Revolutionären mit den »Lehren der Geschichte«!

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(1) Will man unbedingt Beispiele haben, so genügt es, an die Reaktion des Adels in den Jahren 1789 zu denken, die die Revolution beschleunigt hat, oder an die tugendhaften und egalitären Jakobiner, die dem Thermidor und dem Empire den Weg bahnten.

(2) Der Stalinismus seinerseits zögerte nicht davor, das gerade Gegenteil zu behaupten, und zwar implizit, indem er sich rühmte, den Sozialismus im nationalen Rahmen eines Landes aufgebaut zu haben, zumal eines solchen, das weder 1917 noch zehn Jahre später hierfür die materiellen Voraussetzungen besaß, und explizit, indem Stalin in seinen »ökonomischen Problemen des Sozialismus« vorgab, ökonomische Gesetze »im Interesse des Kommunismus auszunützen«, deren Fortwirkung allein ausreichender Beweis für den Fortbestand einer kapitalistischen Ökonomie ist. Auch die Scheinthesen der russischen Partei anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution erklärten ohne mit der Wimper zu zucken, dass, wenn der Sozialismus in Russland trotz der Bedingungen, die die Marxisten früher für ungünstig gehalten hatten, aufgebaut werden konnte, so dank dem »wissenschaftlichen Plan.« Lenins!

(3) Engels, Studienausgabe Bd. 2, S. 156-157, Rohwolt Verlag

(4) Engels, Anti-Dühring, Verlag Marxistische Blätter, S. 226

(5) Die Erklärung dieses Punktes würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Der Leser wird sie in dem Kapitel über die russische Wirtschaft in der nachrevolutionären Phase finden

(6) Lenin wusste dies nur allzu gut und hat deshalb immer sehr genau zwischen Staatskapitalismus unter bürgerlicher Herrschaft und Staatskapitalismus unter der proletarischen Diktatur, aber auch zwischen letzterem und dem Sozialismus unterschieden. Gerade auf diese Unterscheidung konzentrierte sich der Kampf zwischen der Leningrader Opposition (Sinowjew, Kamenew) und das Anhägern des »Sozialismus in einem Lande« (um Bucharin und Stalin) auf dem XIV. Kongress der KPdSU (April 1925). Während Stalin und Bucharin die Auffassungen Lenins revidierten und behaupteten, es wäre »defätistisch,« die 1925 in der russischen Industrie herrschende ökonomische Form als Staatskapitalismus anstatt als Sozialismus zu betrachten, wiesen Sinowjew und Kamenew unwiderlegbar nach, dass die Liquidierung der Leninschen Position eine Beschönigung der NEP, eine Verschleierung des realen Klassenkonfliktes und eine Verwandlung der proletarischen Partei in eine nationale Partei bedeutete. Sie zeigten, dass sich dahinter nichts anderes verbarg, als die Absicht (selbst durch eine Demagogie, die die Arbeiter durchschauen würden), von den Arbeitern eine Erhöhung ihrer Produktionsleistung auszupressen. Trotzki (der auf diesem Kongress nicht intervenierte, weil ihm der plötzliche Bruch zwischen den Leningradern und Stalin, die sich bis dahin gegen ihn verständigt hatten, unvorbereitet traf) hat nie zwischen den ökonomischen Formen als solchen ausreichend unterschieden, bzw. immer den politischen Faktor als entscheidendes Moment betrachtet, und zwar nicht nur als das legitim war, wie z.B. während der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution, sondern auch später, als er selber die Entartung der Macht anzeigte; auch sprach Trotzki nie von Staatskapitalismus, sondern immer von einem Sozialismus, der die Methoden der kapitalistischen Buchhaltung »benutzen« würde (eine theoretisch unhaltbare Position).

(7) Es ist klar, dass dies in Russland nicht der Fall war, litt ja das Land nicht unter einem Überfluss, sondern unter einem Mangel an Entwicklung des Kapitalismus, was nicht nur im schwachen spezifischen Gewicht der städtischen Industrieinseln in der Volkswirtschaft, sondern auch in der Vorherrschaft des Kleinbetriebes in der Landwirtschaft zum Ausdruck kam. Gerade deshalb hatte Lenin die staatliche Verwaltung der ganzen Industrie nicht vorgesehen. Diese wurde den Bolschewiki einerseits durch die von den Arbeitern massiv durchgeführten Enteignungen, andererseits durch die Flucht der Kapitalisten aufgezwungen.

(8) Nicht einmal Eduard Bernstein, der Stammvater aller Revisionisten, hatte es gewagt, dem Proletariat dieses »Recht« formal abzusprechen. Er schrieb 1899 in »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie«: Die Sozialdemokratie muss »Das scheinen wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei. Es handelt sich nicht darum, das sogenannte Recht auf Revolution abzuschwören, dieses rein spekulative Recht, das keine Verfassung paragraphieren und kein Gesetzbuch der Welt prohibieren kann, und das bestehen wird, solange das Naturgesetz uns, wenn wir auf das Recht zu atmen verzichten, zu sterben zwingt. Dieses ungeschriebene und unvorschreibbare Recht wird dadurch, dass man sich auf den Boden der Reform stellt, so wenig berührt, wie das Recht der Notwehr dadurch aufgehoben wird, dass wir Gesetze zur Regelung unserer persönlichen und Eigentumsstreitigkeiten schaffen.« Mit ähnlichen Taschenspielertricks umging die Sozialdemokratie seit 1914 die Kardinalfrage der bewaffneten Revolution, wobei Karl Kautsky, der Gegner Bernsteins, sich in dessen geistigen Erben verwandelte.

(9) Die alten Sozialdemokraten der revisionistischen Vorkriegsschule machten sich oft sehr treffend lustig über Stalins Einbildung, einen nationalen Sozialismus aufbauen zu können. Das beweist allerdings nur, dass man vor vierzig Jahren selbst im Lager der Totengräber des Marxismus noch nicht so verblödet war wie heute, bzw. dass es noch allgemein bekannt war, dass Sozialismus und Warenproduktion unvereinbar sind, was die Poststalinisten und selbst die »Trotzkisten« vergessen haben. Das ändert jedoch absolut nichts an dem Defätismus und an der konterrevolutionären Rolle der Sozialdemokratie nach dem ersten Weltkrieg.

(10) Wenn man eine Kollektion dieser Zeitschrift, des theoretischen Organs der stolzen Österreichischen Sozialdemokratie, durchblättert, so stellt man mit Empörung fest, dass darin bis zu diesem Artikel, d.h. bis März 1918 kein einziges Wort über die Oktoberrevolution geschrieben wurde, obwohl die Zeitschrift regelmäßig erschien! Und als sie sich zum ersten Mal zur Oktoberrevolution äußerte, dann nur - wie wir in der Folge sehen werden - um ihre Niederlage von vornherein zu verkünden; und dies kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges, den die Revolution im Gegenteil glänzend bestehen sollte! Obwohl er die westlichen Opportunisten bestens kannte und einschlägig beurteilte, traute Lenin seinen Ohren nicht, als er Trotzki eines Tages gefragt hatte, was die offizielle Sozialdemokratie zur Oktoberrevolution sage, und die Antwort erhielt (sinngemäß): sie zieht es vor, dazu zu schweigen...

(11) Mit der ganzen Oberflächlichkeit, die zu ihm passte, formulierte Rudolf Hilferding, einer der alten sozialdemokratischen Honoratioren, diesen Vorwurf wie folgt: »Lenin und Trotzki benutzen eine Gruppe von Elitekämpfern - eine Partei, die  nie imstande war, selbständing Entscheidungen zu treffen, und ein bloßes Werkzeug in den Händen ihrer Führer war, wie später die faschistische »Partei« und die nationalsozialistische »Partei« (möge der Leser sich all der Gleichstellung von Lenin-Trotzki mit Mussolini-Hitler gebührend ergötzen! IKP) - um die Macht zu erobern, als der alte Staatsapparat sich in einem Zustand völliger Zersetzung befand.« Diese Bemerkung verdient eine kurze Erörterung. Sie möchte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: einerseits das Verdienst der Bolschewiki herabsetzen (sie suggeriert ja, dass es leicht sei, die Revolution zu machen, wenn der Staatsapparat in Zersetzung begriffen ist), andererseits die historische Trägheit der westlichen Sozialdemokratie rechtfertigen, die einem schrecklich vitalen und bewaffneten bürgerlichen Staat gegenüberstand. Doch ist die Ausflucht erbärmlich. Erstens versteht sich von selbst, dass die revolutionäre Lage u.a. durch eine »Zersetzung der Staatsmacht« gekennzeichnet wird. Zweitens hat niemand je bestritten, dass die revolutionäre Krise in Russland viel akuter gewesen ist als anderswo in Europe. Nichtsdestotrotz steht fest: 1. die revolutionäre Lage wäre selbst in Russland schnell verpulvert, wenn es anstelle von Bolschewiki wie Lenin und Trotzki nur diese Pseudo-Internationalisten des Schlages eines Riasanow oder Martow gegeben hätte; 2. die Abwesenheit einer zugespitzten revolutionären Krise im Westen ist keine Entschuldigung für die politische Laschheit des sozialdemokratischen Zentrismus und noch weniger für seinen Verrat! Doch Hilferding fährt in seinem zitierten Artikel fort: »Sie formten diesen Staat nach den Bedürfnissen ihrer Herrschaft um; sie schufen jede Demokratie ab und errichteten ihre eigene Diktatur (…) Auf diese Weise haben sie den ersten totalitären Staat gegründet, noch bevor dieser Begriff geschaffen wurde. Stalin tat nichts anderes, als das begonnene Werk fortzusetzen« (Rudolf Hilferding in »The Modern Review«, 1947). Das sozialdemokratische Wesen des Vorwurfs zeigt sich in aller Deutlichkeit: Im Gegensatz zum Marxismus wird hier nicht vom Klassenkampf ausgegangen, um die Geschichte zu erklären, sondern von der abstrakten Gegenüberstellung von Diktatur und Demokratie. Dieser Vorwurf, demzufolge der Bolschewismus den Stalinismus eigentlich ausgebrütet oder mindestens dessen Weg vorbereitet habe, taucht in verschiedenen Varianten auch bei vielen Oppositionsgruppen auf. Diese sind allerdings nicht einmal mehr imstande, zu merken, dass sie dadurch auf die Argumente deutscher Reichsfinanzminister und ähnlicher sozialdemokratischer Renegaten zurückgreifen.

(12) Durch Bildung der berühmten Regierung Ebert-Noske, an der sich die Unabhängigen (Zentristen) beteiligten. Als Leitfaden für diese Zusammenfassung dient Carlo Schmids Festvortrag »Hundert Jahre Sozialdemokratische Partei« (2. Mai 1963), dem wir auch die Zitate entnehmen.

(13) Damit wurde die traditionelle, seit Jahrzehnten freilich nur auf dem Papier stehende Position abgelegt, derzufolge die Demokratie nur ein Mittel zum Zweck sei, d.h. zum Sozialismus, der theoretisch das Endziel der Partei geblieben war. Lenin hatte gezeigt, wie ungeeignet dieses »Mittel« im imperialistischen Zeitalter ist. Die angesprochene Programmänderung der Sozialdemokratie tut nichts anderes, als die Richtigkeit der Lenin’schen Einschätzung a contrario zu bezeugen.

Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Der hier untersuchte Prozess wiederholt sich heute bei den »Eurokommunisten.«

(14) In dieser Beziehung ist die Haltung von »Umanità Nuova«, dem Organ der italienischen Anarchisten, charakteristisch. Im März 1921 veröffentlichte diese Zeitung das Protokoll einer Konferenz der »Nabat« (Sturmglocke), der ukrainischen Anarchisten, die vom 3. - 8. September 1920 in Russland illegal stattgefunden hatte. In diesem Protokoll wurde die Notwendigkeit betont, den Kampf »gegen die finstere Reaktion des sozialistischen Staates« (d.h. gegen die bolschewistische Macht) fortzusetzen. Mit einem Abstand von nur elf Tagen veröffentlichte »Umanità Nuova« andererseits aus Anlass der Kronstädter Ereignisse einen Artikel, der sich trotz allem doch zur Solidarität mit dem revolutionären Russland bekannte.

Das Organ der italienischen Anarchisten wagte zwar nicht, die Aktion ihrer ukrainischen Gesinnungsgenossen anzuprangern; es hat sich aber auch nicht mit deren Resolution solidarisiert (wir geben sie weiter unten wieder). Die Bolschewiki mussten im März 1921 aus dringender Notwehr den Kronstädter Aufstand mit Waffengewalt unterdrücken. Später, nachdem die kommunistische Bewegung all ihre revolutionären Züge eingebüßt hatte, wurden diese Ereignisse von allen Feinden des Kommunismus hemmungslos ausgeschlachtet. Mit den Tatsachen unmittelbar konfrontiert, wusste »Umanità Nuova« damals allerdings eine Haltung zu wahren, die rückblickend als erstaunlich »maßvoll« erscheint. Wie ist das zu erklären und was geht daraus hervor? Solange die kommunistische Bewegung diesen Namen noch verdiente, waren ihr Einfluss und Ansehen in den Reihen des Proletariats groß genug, um die »antiautoritäre« Zaghaftigkeit und Disziplinlosigkeit der Anarchisten in bestimmten Grenzen zu halten, bzw. um diese dazu zu zwingen, die harten Notwendigkeiten des Klassenkampfes mit kühlem Kopf zu betrachten. Gerade die sozialdemokratische Abweichung hatte in der Jahrhundertwende die Entwicklung von anarchistischen Strömungen begünstigt. Und wenn der Anarchismus ab 1926 wieder an Boden gewann und sich zu immer haltloseren Positionen hinreißen ließ, so ist dies dem Stalinismus zu verdanken, der das gante Werk Lenins und des authentischen Kommunismus zerstört hat: die tendenzielle Vereinigung aller wirklich revolutionären Kräfte auf der Plattform des wissenschaftlichen Sozialismus.

Hier der Bericht der dritten Konferenz der »Nabat« (zitiert nach »Umanità Nuova,« 11. Marz 1921): »Im unnachgiebigen Kampf gegen jede Staatsform unterziehen sich die Anarchisten der Nabat keinem Kompromiss. Gegenüber den Sowjets haben sie sich jedoch eine Zeit lang anders verhalten.« (Bis zum Beginn des Bürgerkrieges. Die eiserne Disziplin und äußerste Zentralisation, die der Bürgerkrieg verlangte, hat den revolutionären Rausch der Anarchisten - oder mindestens eines Teiles von ihnen - wieder abgekühlt und sie in die Opposition zurückgeführt. IKP) »Die wunderbare Begeisterung des Oktober, die Emanzipationsbestrebungen der arbeitenden Klassen gegenüber jeder Macht, die anarchistisch anmutende Redensart der bolschewistischen Führer« (Hier verfallen die Antiautoritären demselben Fehler wie die konservativen Sozialdemokraten, für die alles, was nicht mit billigem Reformismus oder reiner Klassenkollaboration zu tun hatte, »anarchistisch« war oder anmutete! IKP), »vor allem aber der notwendige Kampf gegen den Weltimperialismus, der die Revolution erdrosseln wollte, das alles verpflichtete die Anarchisten, eine gewisse Zurückhaltung, ja fast Nachsicht (sic!) gegenüber der bolschewistischen Macht zu üben. Sie riefen die Arbeiter- und Bauernmassen dazu auf, sich für die revolutionäre Unabhängigkeit zusammenzuschließen; mit Warnungen an die neuen Meister, die sie berieten und einer kameradschaftlichen Kritik unterzogen, sparten sie nicht. Nach drei Jahren Diktatur verwandelt sich die aus der Revolution entstandene Sowjetmacht jedoch in eine mächtige Staatsmaschine. Die Bourgeoisie wurde durch die Diktatur einer Partei und einer Minderheit des Proletariats über den Maßen des werktätigen Volkes ersetzt. Diese Diktatur erstickte den Willen der werktätigen Massen, brachte ihren schöpferischen Geist, ohne den die verschiedenen Aufgaben der Revolution nicht bewältigt werden können, zum Verstummen. Darum liegt eine Lehre für die Arbeiter aller Länder, und deshalb sehen sich die Anarchisten noch gezwungen, auf der Kampffront zu bleiben: 1. Infolge ihres Widerstandes gegen den revolutionären Geist der werktätigen Massen verwandelte sich die Sowjetmacht in eine grausame Diktatur und wurde somit zum Henker der Revolution« (Das wurde Ende 1920 geschrieben! Kein Kommentar. IKP). »2. Der Krieg der Sowjets gegen die Bourgeoisie kann nicht länger als mildernder Umstand betrachtet werden, weil die Sowjetmacht die Revolution erdrosselt hat und damit ihren Feinden indirekt geholfen. 3. Die revolutionäre Haltung der Sowjetmacht in der internationalen Bewegung ist als zweideutig anzusehen: sie ruft einerseits zum Kampf gegen die Bourgeoisie auf, bedroht aber andererseits die Revolution mit dem unheilvollen Mittel der Diktatur. Aus alles diesen Erwägungen ruft die jetzige Konferenz alle Anarchisten und alle aufrichtigen Revolutionäre zum Kampf gegen die Sowjetmacht auf, die nicht weniger gefährlich ist als die offenen Feinde der Revolution wie Wrangel oder die Entente. Die Anarchisten stellen sich gegen die Rote Armee wie gegen jede andere Staatsarmee. Sie können sie nicht als revolutionär ansehen, denn sie befindet sich in den Händen einiger Weniger, die ihre Feinde sind (…) Aus diesem Grunde ist der Beitritt der Anarchisten in die Rote Armee, um die Revolution zu verteidigen, ein Fehler. Dieser Beitritt könnte nur durch die Absicht gerechtfertigt werden, die Rote Armee durch Wort und Schrift zu revolutionieren, damit im Augenblick des Aufstands der Arbeiter und Bauern gegen die neuen Unterdrücker die Soldaten die Sache der Aufständischen, die auch ihre eigene ist, ergreifen« (September 1920). Soweit die Erklärung der überzeugten »Streikbrecher« des Bürgerkrieges. Demgegenüber hört sich die verlegene Stellungnahme von »Umanità Nuova« zu der gefährlichen Krise von Kronstadt so an (23. März 1921): »Kronstadt, die Ukraine (…) Wir sind perplex gegenüber diesen Ereignissen. Sie sind die logische Konsequenz des bolschewistischen Fehlers, der Diktatur.« (sic!) »Sie waren deshalb unvermeidlich. Sie können jetzt entweder sehr üble oder heilsame Folgen für die Revolution haben. Es ist verständlich, dass der Geist der Freiheit ausbrechen muss, wenn er unterdrückt wird. Wäre die internationale Bourgeoisie nicht auf der Lauer, würden wir uns deswegen keine Sorgen machen; wir würden sogar denken, dass der Sturz der Moskauer Regierung vielleicht (Hervorhebung IKP) einen neuen Beitrag zur Revolution liefern könnte. An den Grenzen Russlands lauert jedoch die bewaffnete bürgerliche Reaktion und wartet nur ab, dass sich die Revolution in inneren Kämpfen erschöpft, um sich auf sie zu stürzen, um sowohl die Bolschewiki wie die jetzigen Aufständischen, die sie aus der Ferne hofiert, auszurotten.« (Man muss darauf hinweisen, dass die heutigen Anarchisten nicht mehr fähig sind, dies zu verstehen. IKP) »Aus solchen Aufständen kann deshalb sowohl eine Wiederaufnahme der Revolution als auch der Beginn einer Reaktion hervorgehen« (Die Unsicherheit resultiert aus dem Konflikt zwischen dem anarchistischen Doktrinarismus und der Wirklichkeit des Klassenkampfes! IKP) »Alles hängt davon ab, ob die inneren Kämpfe zu Ende gehen, noch bevor die imperialistischen Hyänen Zeit und Mittel zur Intervention haben. Eine neue Intervention gegen Russland wird für das Frühjahr erwartet. Dann wird es nicht darum gehen, ob Russland nach wie vor unter bolschewistischer Herrschaft ist, oder ob es (wie wir es wünschen) dazu gelangte, ein besseres System zu errichten. Dann kommt es nur darauf an, dass Russland in der Lage ist, die neue Invasion zurückzuschlagen und den verhassten westlichen Militarismus dazu zu zwingen, ins Gras zu beißen (Wir haben, das unterstrichen, weil daraus zu ersehen ist, dass ein Anarchist 1921 bei weitem nicht so dumm war wie 1967. IKP). »Wir Anarchisten des Westens können auf die innere Entwicklung in Russland keinen Einfluss nehmen; auch wären wir einer so schwierigen Aufgabe keinesfalls gewachsen.« (Ein ehrliches Eingeständnis. IKP) »Die Entfernung ist zu groß, als dass wir ein endgültiges Urteil fällen könnten. Etwas können und müssen wir jedoch tun, und das ist für uns ein Gebot der Ehre. Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass die kapitalistischen Regierungen Waffen und Armeen gegen Russland richten. Wir wiederholen - Genossen, Proletarier -, soweit unsere Kräfte reichen, müssen wir bereit sein, uns für das proletarische und kommunistische Russland zu schlagen. Der Kampf in seiner Verteidigung ist ein. guter Kampf, auch für unsere eigene Freiheit.«

Besser könnten die Forderung nach Freiheit und die Ablehnung des Zentralismus nicht widerlegt werden als durch diese geradezu unglaubliche Diskrepanz in den Losungen ein und derselben Strömung: In Russland ruft sie »zum Kampf gegen die Sowjetmacht, die nicht weniger gefährlich ist als Wrangel und die Entente« auf (Nabat), in Italien ruft sie gleichzeitig zur »Verteidigung des proletarischen und kommunistischen Russland« auf (Umanità Nuova). (Übersetzt aus dem französischen)

(15) So hat sich Proudhon in einem Brief an Marx vom Mai 1847 (also als er an seine »Philosophie des Elends« arbeitete) über die Revolution ausgelassen:

»Vielleicht behalten Sie Ihre Meinung, dass keine Reform möglich sei ohne einen Handstreich, ohne das, was man einst Revolution nannte (…) Ich selber habe diese Meinung lange geteilt und kann sie daher verstehen, verzeihen und wäre gerne bereit, sie zu erörtern. Ich muss Ihnen jedoch gestehen, dass ich mich nach meinen letzten Forschungen völlig von ihr trennen musste. Ich glaube, das Brauchen wir nicht, um Erfolg zu haben; ich glaube deshalb auch, dass wir die revolutionäre Aktion keineswegs als ein Mittel zur sozialen Reform betrachten sollen. Dieses vermeintliche mittel wäre ganz einfach ein Aufruf zur Gewalt, zur Willkür, kurzum, ein Widerspruch. Ich stelle mir das Problem folgender Massen: die Reichtümer, die durch eine ökonomische Kombination die Gesellschaft verlassen, durch eine andere ökonomische Kombination in die Gesellschaft wieder hineinzubringen.« Auf Marx’ Angebot, sich an einem internationalen Informationsbüro zu beteiligen, antwortete derselbe Mann, der sich vom Revolutionsgedanken hatte »trennen müssen«: »Wenn Sie wollen, können wir zusammen die Gesetze der Gesellschaft suchen (…) aber um Gottes Willen: Nachdem wir alle aprioristischen Dogmatismen zerstört haben, sollten wir nicht im Traum daran denken, unsererseits das Volk zu belehren (…) Befinden wir uns an der Spitze einer Bewegung, so sollten wir uns nicht deshalb zu den Führern einer neuen Intoleranz machen. Wir müssen alle Proteste willkommen heißen und ermuntern (…) Wir dürfen eine Frage niemals als erledigt betrachten und, wenn wir unser letztes Argument gebraucht haben, sollten wir notfalls mit Beredsamkeit und Ironie wieder von vorn anfangen.«

»In Verbindung mit dem eigentlichen ökonomischen Inhalt seiner »Lehre« (wir werden im nächsten Kapitel darauf zurückkommen) verdiente Proudhon durch solche Auffassungen folgende Charakterisierung unter dem Begriff »Der konservative oder Bourgeoissozialismus«:

»Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Missständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher Winkelreformer der buntscheckigsten Art. (…) Als Beispiel führen wir Proudhons »Philosophie de la misère« an.

»Die sozialistischen Bürgerlichen wollen die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft ohne die notwendig daraus hervorgehenden Kämpfe und Gefahren. Sie wollen die bestehende Gesellschaft mit Abzug der sie revolutionierenden und sie auflösenden Elemente. Sie wollen die Bourgeoisie ohne das Proletariat. (…) Eine zweite...Form dieses Sozialismus suchte der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden durch den Nachweis, wie nicht diese oder jene politische Veränderung, sondern nur eine Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse ihr von Nutzen sein könne. Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern (…) « (Marx und Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, 1847).

(16) Dasselbe gilt selbstverständlich auch für Georges Sorels Auffassung von einer Leitung der Wirtschaft durch die Gewerkschaften. In »Die Grundlagen des revolutionären Kommunismus in der Lehre und in der Geschichte des internationalen proletarischen Kampfes« (1957 in Italienisch erschienen; Deutsch in der Reihe »Texte der International en Kommunistischen Partei«) bemerkten wir dazu:

»Um die Formel der Sorelianer & Co. über die gewerkschaftliche Leitung der »zukünftigen« Wirtschaft zu verstehen, brauchen wir uns nur einen Leitungsapparat vorzustellen, der aus den nationalen Gewerkschaftsführungen besteht (es gelten natürlich die üblichen Vorbehalte hinsichtlich des Sieges des Sozialismus in einem Land). Die Produktion von Brot und Teigwaren wurde z.B. vom Verband der Bäckereigewerkschaften organisiert werden usw. für alle Produktions- und Industriezweige. Man muss sich also vorstellen, dass alle Produkte einer gegebenen Branche diesen großen Organen (einer Art nationaler Trusts, aus denen die Kapitalisten entfernt wurden) zur Verfügung stehen. Sie müssen dann über die Verwendung ihrer Gesamtproduktion (in unserem Fall Brot, Teigwaren usw.) so verfügen, dass sie dafür von den parallelen Organisationen alles Nötige bekommen: Konsumtionsgüter für ihre Mitglieder, Rohstoffe, Produktionsmittel usw.

»In einer solchen Wirtschaftsordnung besteht Austausch. In einer höheren Form erfolgt dieser Austausch nur an der Spitze; die Verteilung der Konsumtionsgüter und Produktionsmittel wird dann von den einzelnen Gewerkschaftsverbänden von oben nach unten durchgeführt. Aber dieses Austauschsystem an der Spitze bleibt ein System der Warenproduktion, d.h. es bedarf eines Wertgesetztes, um die Äquivalenz zwischen den verschiedenen Produkten festzustellen; andererseits ist es leicht vorherzusehen, dass es sehr viele Gewerkschaften geben wird, und dass jede Gewerkschaft mit fast allen handeln muss. Wir fragen nicht einmal, wer das Äquivalenzsystem festlegen, bzw. wie die charakteristische Atmosphäre all dieser Phantasiegebilde (die »Autonomie« und »Gleichheit« der »Produzentengewerkschaften«) gesichert wird; wir gehen von der zugespitzt liberalen Hypothese aus, dass die verschiedenen Äquivalenzsysteme »friedlich« aus einem jeweils »spontan« entstandenen Gleichgewicht resultieren können. Ein derart komplexes Messungssystem wird jedoch nicht funktionieren können ohne das bereits vor Jahrtausenden eigens dafür entstandene Hilfsmittel des allgemeinen Äquivalenten, sprich das Geld, der logische Maßstab des Austausches.

»Ebenso leicht ist die Folgerung, dass dieses System sich in die niedrigere Form auflösen würde; in einer solchen Gesellschaft kann man nicht nur an der Spitze der Produktionskartelle (das Wort Syndikat wäre hier durchaus am Platz) mit Geld operieren; diese Befugnis wird jedem Gewerkschaftsmitglied zuerkannt werden müssen. D.h. der Arbeiter wird von seiner vertikalen Organisation eine Geldquote erhalten und damit »einkaufen«, was er will. Wie heute also wird der Arbeiter einen Lohn erhalten. Der einzige Unterschied besteht (wie bei Dühring, Lassalle und anderen) in der Einbildung, es handle sich dann um den »vollen Lohn,« weil der Abzug für die Arbeitgeber abgeschafft wurde.

»Wenn eine Gewerkschaft mit den anderen über die Lieferbedingungen der von ihr monopolisierten Produkte verhandelt, ist sie keineswegs selbständig. Das ist eine bürgerliche und liberale Illusion; sie wird immer vom Unsinn begleitet, jeder Produzent müsse den Gesamtertrag seiner Arbeit erhalten, um dann nach Gutdünken seine »Verbraucherentscheidungen« zu treffen. Marx hat sich über diesen Unsinn lustig gemacht. Hier liegt auch der Hase im Pfeffer, denn dadurch zeigt sich, dass diese Wirtschaftsutopien noch weiter von der sozialen Wirtschaftsordnung entfernt sind, die Marx Sozialismus bzw. Kommunismus nennt, als die kapitalistische Wirtschaftsordnung selbst.

»In der sozialistischen Wirtschaftsordnung stellt nicht mehr das Individuum, sondern die ganze Menschheit, die Spezies, die Entscheidungsinstanz über Produktion (was, wie und wieviel) und Konsum dar. Die Selbständigkeit des Produzenten ist eine leere Phrase, eine dieser vielen demokratischen Phrasen, die überhaupt nichts lösen. Der Lohnarbeiter, der Sklave des Kapitals, ist als Produzent nicht selbständig; als Konsument ist er es heute in einem bestimmten Maße doch: innerhalb bestimmter quantitativer Grenzen (und diese sind nicht die Grenzen des reinen Hungers gemäß dem »ehernen Lohngesetz« von Lassalle, sondern erweitern sich im Gegenteil mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft) kann er seine Lohntüte so ausgeben, wie er will.

»Im Kapitalismus produziert der Proletarier, wie der Kapitalist es will (oder allgemeiner und wissenschaftlicher ausgedrückt: wie die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise bestimmen, wie das Kapital, übermenschliches Monstrum, bestimmt). Er kann zwar nicht so viel konsumieren, wie er möchte; er kann aber in den gegebenen Grenzen so konsumieren, wie er möchte. In der sozialistischen Gesellschaft wird das Individuum weder als Produzent noch als Konsument »selbständig« sein. Beide Sphären werden von der Gesellschaft für die Gesellschaft bestimmt werden.«

(17) Die Mehrzahl der zeitgenössischen Trotzkisten versucht allerdings nicht einmal mehr, die Klassenfrage (und damit die Parteifrage) aufzuwerfen: Ihnen geht es um die Verstaatlichung an sich, und so treten erstaunlicherweise die »reaktionäre bonapartistische Kaste,« d.h. die stalinistische Bürokratie (wie in den Ostblockländern) und der nationalistische Flügel der Bourgeoisie in der »dritten Welt« an die Stelle des Proletariats als Träger der »sozialistischen« Umwälzung der Wirtschaft. Demgegenüber nimmt sich selbst ein Lassalle ... marxistisch aus.

(18) Eine Analyse der historischen Ursachen für diese Tatsache würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Wir beschränken uns daher auf den Hinweis, dass die marxistische Linke Italiens (die eine Generation jünger als die Bolschewiki und die Spartakisten war) die Kommunistische Internationale vor dieser missverständlichen Terminologie gewarnt hat. So heißt es u.a. in einem klassischen Artikel (»Kritik des demokratischen Prinzips«), der im Februar 1922 in ihrer Zeitschrift »Rassegna Comunista« erschien: »Es gibt bestimmte Ausdrücke, denen eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird, und die infolgedessen zu Missverständnissen führen, wenn man sie in der Darlegung der Grundsätze des Kommunismus gebraucht. Das geschieht z.B. mit den Wörtern Demokratie und demokratisch. Der wissenschaftliche Kommunismus ist seinem Wesen nach zugleich Kritik und Negation der Demokratie. Dennoch verteidigen die Kommunisten oft den demokratischen Charakter der proletarischen Organisationen (Sowjetstaat, Gewerkschaften, Partei) und befürworten die Anwendung der Demokratie innerhalb dieser Organisationen. Selbstverständlich liegt darin kein Widerspruch. Es lässt sich nichts dagegen einwenden, wenn man der bürgerlichen Demokratie die proletarische Demokratie gegenüberstellt, vorausgesetzt, man versteht darunter den Gegensatz von bürgerlicher Demokratie und proletarischer Diktatur. (...) Allerdings wäre es wünschenswert, einen anderen Ausdruck zu verwenden, denn damit würde man sowohl Missverständnisse als auch eine erneute Aufwertung des Begriffes Demokratie vermeiden. Doch selbst wenn man darauf verzichtet, ist es ratsam, den Inhalt des demokratischen Prinzips näher zu untersuchen, und zwar nicht nur in seinem allgemeinen Verständnis, sondern auch in seiner besonderen Anwendung auf diejenigen Organisationen, die vom Klassenstandpunkt aus homogen sind. So können wir der Gefahr entgehen, die Arbeiterdemokratie zu einem absoluten Prinzip der Wahrheit und Gerechtigkeit zu erheben. Denn gerade jetzt, wo wir die Waffen der Kritik auf die ganze Lüge und Willkür der liberalen Theorien richten, um klare Fronten zu schaffen, müssen wir vermeiden, selbst einem Apriorismus zu verfallen, der unserer Weltanschauung vollkommen fremd ist.« Soweit die Einleitung jenes Artikels. Wenn man bedenkt, was der »Trotzkismus« ausgerechnet aus den Lehren Trotzkis gemacht hat, gewinnen diese Zeilen eine wahrhaft prophetische Bedeutung und übrigens auch die Schlussfolgerungen, in denen es heißt: »Die Kommunisten haben keine Verfassungsbücher vorzuschlagen. Sie müssen im Gegenteil jene ganze Welt aus Lügen und Verfassungsrechten zerstören, die sich in der Gewalt und im Recht der herrschenden Klasse kristallisiert haben. Die Kommunisten wissen, dass nur ein revolutionärer und totalitärer Zwangs- und Gewaltapparat, der kein Kampfmittel ausschließt, verhindern kann, dass die niederträchtigen Überbleibsel eines barbarischen Zeitalters wieder zur Macht gelangen und die Privilegierten rachsüchtig den lügnerischen Aufruf zur »Freiheit« zum x-ten Mal ausstoßen, um ihre Unterdrückung erneut zu begründen.«

(19) Das ist u.a. bei P. Broué der fäll, dessen Geschichte der bolschewistischen Partei wohl keinen anderen Zweck verfolgt.

(20) Hierzu Lenin auf dem siebenten Parteitag zur Parteikrise infolge der Friedensverhandlungen mit Deutschland: »Wir werden diese Krise überwinden. Auf keinen Fall wird sie unserer Partei oder unserer Revolution das Genick brechen, obwohl das im gegebenen Augenblick ganz nahe tag, durchaus möglich war. Eine Garantie dafür, dass wir uns an dieser Frage nicht das Genick brechen werden, bildet der Umstand, dass an Stelle der alten Methode, über fraktionelle Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden, die in der Produktion einer ungewöhnlichen Menge Literatur, in unendlichen Diskussionen und in einer beträchtlichen Anzahl von Spaltungen bestand, dass die Ereignisse den Menschen an Stelle dieser alten Methode eine neue Methode des Lernens beigebracht haben. Diese Methode besteht darin, alles anhand der Tatsachen, Ereignisse und Lehren der Weltgeschichte nachzuprüfen.«

(21) Wir haben oben gesehen, dass unsere Strömung versucht hat, diese Sprache von zweideutigen Ausdrücken zu säubern.

(22) Wir werden sehr ausführlich auf diesen Punkt zurückkommen. Um jedoch von vornherein Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass seit 1936 auch nicht die Verwendung der Formel »Sowjetdemokratie« diesen wahren Kern der Forderung verbergen konnte. So forderte Trotzki in der »Verratenen Revolution«: »die Wiederherstellung einer wirklichen Wahlfreiheit«, was voraussetze, »dass den Sowjetparteien, angefangen mit der Partei der Bolschewiki, die Freiheit wiedergegeben wird«. Doch, wie wir in der Folge sehen werden, hatte niemand besser als Trotzki gezeigt, dass diese anderen »Sowjetparteien« bürgerliche, ja national-russische Parteien waren

(23) Nach dem Namen des bürgerlichen Exilpolitikers Ustrialow, der als erster und unbeirrbar die Umwandlung des Sowjetstaates in einen gewöhnlichen bürgerlichen Staat predigte. So schrieb Ustrialow im Oktober 1926 an einem Höhepunkt des Kampfes der Anhänger des »Sozialismus in einem Land« gegen die vereinigte linke Opposition: » (…) die faktischen Zugeständnisse an die Sinowjew-Anhänger, zu denen sich die Partei vor kurzem entschlossen hat, müssen ernste Befürchtungen erwecken. Heil dem Politbüro, wenn die Reue-Erklärung der Oppositionsführer ein Resultat ihrer einseitigen und bedingungslosen Kapitulation ist. Doch wehe ihm, wenn sie die Frucht eines Kompromisses mit ihnen ist« (diesbzgl. hatte sich Ustrialow allerdings keine Sorgen zu machen brauchen, IKP). »Das siegreiche ZK muss eine innere Immunität gegen das zersetzende Oppositionsgift erwerben. Es muss alle Konsequenzen aus der Niederlage der Opposition ziehen (…) Sonst wird es ein Unglück für das ganze Land sein (…) So und nicht anders müssen sich die Intellektuellen, die Fachleute, die Ideologen der Evolution und nicht der Revolution in Russland zu dieser Sache stellen (…) Wir sind deshalb nicht nur gegen Sinowjew, sondern auch entschieden für Stalin.« Das Siegesgefühl des »klügsten Feindes der proletarischen Diktatur« (lt. Lenin) und »wirklichen Vertreters der neuen Bourgeoisie« (lt. Kamenew, dessen Rede vom. 11. Dezember 1926 wir diese Auszüge entnehmen) ist nicht zu verkennen.

(24) Als Lenins Gesundheitszustand hoffnungslos wurde, bildete sich ein »geheimes Politbüro«, dem alle Mitglieder des offiziellen Politbüros außer Trotzki angehörten. Damit wollte man verhindern, dass Trotzki die Parteiführung übernähme. Alle Fragen wurden in diesem konspirativen Politbüro, dessen Mitglieder durch eine kollektive Verantwortung miteinander verbunden waren, im versus entschieden. Sie hatten sich verpflichtet, keine Polemik gegeneinander zu führen und zugleich alle Vorwände für eine Polemik gegen Trotzki auszunutzen. Ähnliche Zellen gab es in den örtlichen Parteiorganisationen. Sie standen in Verbindung mit dem geheimen Politbüro in Moskau und beachteten eine strenge Disziplin. Der Briefwechsel wurde in einer besonderen kodierten Sprache geführt. Die verantwortlichen Partei- und Staatsfunktionäre wurden aufgrund eines einzigen Kriteriums systematisch ausgewählt: gegen Trotzki. Die Parteimitglieder, die gegen diese Politik protestierten, wurden mit fadenscheinigen und oft erfundenen Begründungen angegriffen. Andere Elemente, die im Laufe der ersten fünf Jahre der Sowjetmacht unerbittlich aus der Partei entfernt worden wären, konnten jetzt im Gegenteil mit einer einzigen feindseligen Bemerkung gegen Trotzki ihre Position festigen. Ende 1923 wurde die Kampagne auf alle Parteien der Komintern übertragen. Nicht die besten Elemente, sondern die anpassungsfähigsten wurden künstlich ausgewählt. Die Führer hatten ihre Position bald nur noch dem Apparat zu verdanken. Ende 1923 war der Apparat bereits zu drei Vierteln gesäubert; es war daher möglich, den Kampf auf die Massen zu übertragen. Im Herbst 1923, und mit erneuter Heftigkeit im Herbst 1924, begann die Kampagne gegen Trotzki. Seine alten Auseinandersetzungen: mit Lenin aus der Zeit vor der Revolution, ja vor dem Krieg, wurden plötzlich wieder auf die Tagesordnung gebracht, entstellt, übertrieben und den Massen als brennend aktuell dargestellt. Die Massen wurden damit überrascht, irregeführt und eingeschüchtert. Mittlerweile hatte der Selektionsprozess eine noch tiefere Stufe erreicht. Ohne antitrotzkistische Referenzen konnte man nicht mehr Betriebsleiter, Sekretär einer Abteilungszelle, Vorsitzender eines regionalen Exekutivkomitees, Buchhalter oder Maschinenschreiberin werden. Alle diese Einzelheiten befinden sich in Trotzkis Artikel »Wie konnte dies alles kommen?« (Konstantinopel, Februar 1929).

(25) Siehe diesbezüglich die Kritik der italienischen Linke an dem Gebrauch der Ausdrücke »Demokratie« und »demokratisch,« die wir in Anmerkung (18) auszugsweise zitierten.

(26) Es handelt sich um die »Etappe«, die durchflogene Bedingungen charakterisiert wurde: einerseits die Niederlage der deutschen Revolution im Oktober 1923 (bzw. die damit zusammenhängende Demoralisierung) und damit die voraussichtliche Verlängerung der internationalen Isolierung der UdSSR, andererseits die Wirtschaftskrise in der UdSSR selbst, die trotz der von der NEP herbeigeführten Erleichterung fortbestand.

(27) Wie oben bereits erwähnt, benutzt Trotzki diesen Ausdruck hier, um Verhältnisse zu bezeichnen, die sich von denjenigen radikal unterscheiden, die im Kapitalismus aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und dem Klassengegensatz resultieren (auf dem einen Pol bürokratischer Zwang, auf dem anderen Passivität oder passiver Widerstand; Befehl und Gehorsam; »Kunst des Verwaltens« und Ignoranz usw.). Die Klassenpartei kann sich zwar nicht von derlei Bedingungen der bürgerlichen Umwelt völlig abheben, dennoch verschwinden in ihren Reihen tendenziell all jene Kennzeichen, denn sie ist eine freiwillige Vereinigung von Individuen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, nämlich das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der es keine gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit auch keinen politischen oder selbst administrativen Zwang geben wird.

(28) Ebenso hatte die italienische Linke auf den »ideologischen Terror« des Stalinismus nicht mit der Forderung nach »demokratischen Rechten« für die Parteimitglieder, sondern nach einer strengen Disziplin der Parteizentrale gegenüber den gemeinsamen Prinzipien reagiert. Nur wenn eine solche Disziplin gewährleistet wird, kann die Partei mit einem Minimum an Reibungen geführt werden.

(29) Trotzki bekämpfte damals als Marxist eine authentische demokratische Abweichung, die »Unterschätzung« des Klassengegensatzes von Proletariat und Bauernschaft und die Verschleierung dieses Gegensatzes hinter der Apologie der »neuen Demokratie,« der sowjetischen Demokratie.

(30) Aus diesen offensichtlichen Gründen hat unsere Strömung die sogenannte antifaschistische Taktik immer abgelehnt. Obwohl diese Gründe selbst einer äußerst mittelmäßigen Auffassungsgabe zugänglich sind, wurden sie von der entarteten Internationale nicht verstanden; diese setzte vielmehr den absurden Weg des »Antifaschismus« fort. Auf der Ebene der »Taktik« gilt für den Kampf um die »Demokratisierung der Partei« in der UdSSR genau dieselbe Kritik, die gegen den vermeintlich proletarischen »Antifaschismus« gerichtet wurde.

(31) Die Formulierung ist etwas missverständlich, was vielleicht auf die französische Obersetzung zurückzuführen ist (von der wir auch bei der deutschen Übersetzung ausgegangen sind). Der Sinn ist jedoch eindeutig klar: Anerkennung, dass die Diktatur des Proletariats nach wie vor existiert. Gerade dies behauptete Trotzki unentwegt gegen die offensichtlichsten Tatsachen.

(32) Der Stalinismus benutzte somit die echt demokratische Methode, die darin besteht, auf die Unwissenheit und Bewusstlosigkeit des einfachen Proletariats zu spekulieren

(33) Warum er das tat, ist eine andere Frage, mit der wir uns einige Seiten weiter befassen werden. Es geht allerdings nicht mehr um eine rein taktische Frage, wie bei der Einheitsfront mit der Sozialdemokratie, denn alle Kommunisten erkannten die konterrevolutionäre Rolle der letzteren. Anders, was den Stalinismus anbelangt. Stellt man die Frage auf der Ebene des internationalen Klassenkampfes, dann kommt die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus ebenso deutlich zum Vorschein. Stellt man sie aber im nationalen Rahmen Russlands (und von diesem Rahmen konnte kein russischer Revolutionär absehen, denn das russische Proletariat hatte die Macht nur in Russland erobert und musste sie für den Augenblick in diesem Rahmen gegen den Klassenfeind verteidigen), dann war sie nicht mehr so leicht zu entziffern. In der Doppelrevolution von 1917 war eine demokratische Revolution enthalten, und der Stalinismus hatte zweifellos das Erbe dieser demokratischen Revolution übernommen. Damit war er zugleich ein Bollwerk gegen eine eventuelle Restauration des Regimes der Konstituante (d.h. des Russlands aus der Zeit vor der demokratischen Revolution). Doch ändert auch das nichts an der Tatsache, dass die in den Kampf für die »Demokratisierung der Partei« inbegriffene politische Einheitsfront mit dem Stalinschen Ustrialowismus eine opportunistische Taktik war, wie die politische Einheitsfront mit der Sozialdemokratie im international en Maßstab, und sie müsse zu denselben verheerenden Folgen führen.

(34) Es gibt keine andere Erklärung für jene andere Form von »Einheitsfrontpolitik,« die in den tragischen Geständnissen aller Mitglieder der alten Garde im Laufe der ominösen Moskauer Prozesse bestand! Was sonst hätte die Verfolgten (die Bolschewiki) den Verfolgern (den »Ustrialowisten«), die sie vom Klassenstandpunkt aus so heftig bekämpften, in einer solchen Form ausgeliefert, wenn nicht eben diese objektive gemeinsame Eingliederung in eine einzige Front gegen die Restauration? Der einzige (und tragische) Unterschied besteht darin, dass die »Erpressung mit der Restaurationsgefahr« im Laufe der Moskauer Prozesse von Stalin betrieben wird, während es in der eben zitierten Rade Trotzki ist, der dies versucht!

(35) Trotzki weist in seinen Schriften mehrmals auf diese Aussage Stalins, so u.a. in der »Verratenen Revolution« hin.

(36) Deutscher wird hier als Musterbeispiel für den zeitgenössischen Trotzkismus genommen.

(37) Wir behandeln hier nicht die Frage der »Taktik,« der demokratischen Losungen für die kapitalistischen Länder, die Trotzki hier befürwortet und die von uns abgelehnt wird. Es geht uns hier lediglich um den Beweis, dass die Demokratie nur unter dem Kapitalismus einen Sinn hat.

(38) D.h. dass die Oktoberrevolution geschlagen ist und man sich unter einem reinen, wenn auch wenig entwickelten Kapitalismus befindet.

(39) Eine vulgäre Anwendung des marxistischen Determinismus. Welche Klasse wird da vertreten? Die Bourgeoisie kann es nicht sein, denn sie wurde im Oktober verjagt; die Bauernschaft kann es auch nicht sein, denn der Stalinismus hat zunächst die Kleinbauern gegen die Kulaken ausgespielt und dann diese Kleinbauern mit Gewalt in den Kolchosen zusammengepfercht und einen großen Teil der Rechnung für die kapitalistische Industrialisierung des Landes bezahlen lassen; das Proletariat kann es noch weniger sein, denn es wird ökonomisch unterdrückt und wurde von der Macht verjagt. Was bleibt dann übrig? Die »Bürokratie« (...) Doch war sich Trotzki der Schwäche einer solchen Lösung so bewusst, dass er zugleich energisch bestritt, dass die Bürokratie eine klasse sei! Unserer bescheidenen Meinung nach war er viel inspirierter, als er von einer bonapartistischen Macht sprach.

(40) Der Übergang von der Politik der »Einheitsfront« mit dem Stalinismus zur Politik der antibürokratischen Revolution hinderte Trotzki nicht daran, weiterhin für die nationale Verteidigung der UdSSR im Falle eines Krieges einzutreten, eine Politik, die er nicht nur bei den Russen, sondern überhaupt beim internationalen Proletariat durchsetzen wollte! Gegebenenfalls hätte dies die Abschwörung des Prinzips aller Prinzipien, nämlich des revolutionären proletarischen Internationalismus bedeutet!

(41) Wenn das 1936 stimmte, so in noch stärkerem Masse Dreißig Jahre später! Gerade der Entfesselung dieser »kleinbürgerlichen Appetite«, die bis in den »sozialistischen Sektor« (d.h. die Staatsbetriebe) reichte, entspricht die unter Chruschtschow begonnene »politische Liberalisierung« mit ihrer unfehlbaren Begleitmusik - der Glorifizierung des Kapitalismus in der Wirtschaft. Das ist eine sichere Folge der »Dynamik des wirtschaftlichen Aufschwungs« nach dem 2. Weltkrieg, jedoch keineswegs jene »Rückkehr zu Lenin,« die sich die Trotzkisten vorgestellt hatten. Aber derartige Trotzkisten lesen ihren Trotzki ungefähr so, wie die Stalinisten Lenin »gelesen« haben.

(42) Anspielungen die kommunistische Formel: »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«, die von den Stalinisten revidiert und korrigiert wurde in: »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem mach seiner Arbeit«. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion ist der erste Teil dieser »Fassung« eine platte Lüge; der zweite Teil ist ohnehin rein bürgerlich.

(43) Es handelt sich um die stalinistische Partei und den Staatsapparat.

 

 

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