1917-1977

Bilanz einer Revolution

(»Kommunistisches Programm«, Nr.15/16, Oktober 1977)

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  Inhalt:

 

Vorbemerkung

I.   Die großen Lehren der Oktoberrevolution

II.  Die falschen Lehren aus der Konterrevolution in Russland

III. Die sowjetische Wirtschaft vom Oktober bis heute

 

 

III. Die sowjetische Wirtschaft vom Oktober bis heute

 

 

EINLEITUNG

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Unsere Parteithesen über die sowjetische Wirtschaft haben eine Bedeutung, die weit über ihren Gegenstand hinausgeht; sie bilden in der Tat einen untrennbaren Bestandteil der Verteidigung des Kommunistischen Programms. Während die einen das »russische Beispiel« als Beweis für den utopischen Charakter dieses Programms betrachten, dient es den anderen als Ausgangspunkt für dessen vollständige Verfälschung, und zwar in dreifacher Hinsicht: Zuerst geben sie die von den Bolschewiki vorgesehenen ökonomischen Aufgaben der proletarischen Partei im Russland des Jahres 1917 für sozialistische Aufgaben aus; dann erklären sie, dass die »Errungenschaften« der Stalin’schen Ära in absoluter Kontinuität mit den Zielen des ursprünglichen bolschewistischen Programms standen; schließlich geben sie diese »Errungenschaften« als den »Aufbau des Sozialismus« überhaupt aus. Im Gegensatz zur Auffassung von Marx und Lenin wäre der Sozialismus damit nicht mehr eine neue, weltweite Produktionsweise, die dazu bestimmt ist, nach einer Revolution und der Errichtung einer Klassendiktatur, die sich nach und nach auf alle Länder und Kontinente ausweiten werden, den Kapitalismus in der Geschichte abzulösen; nein, er wäre vielmehr die innere Angelegenheit nationaler Staaten, die im Einparteiensystem regiert werden, dennoch eine demokratische und volkstümlerische Sprache sprechen und in friedlicher Koexistenz mit der Weißen Garde der bürgerlichen Ordnung, dem übermächtigen US-Imperialismus, zusammenarbeiten!

Den Glauben des Proletariats an den Sozialismus können diese Verfälschungen zwar nicht mehr zerstören, wurde er ja durch die stalinistische Konterrevolution ohnehin schwer genug erschüttert; dennoch haben sie bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt ein einziges Ergebnis: Sie hemmen die Wiederbelebung der Klasse, sie lähmen jene proletarischen Kräfte, die nach so vielen Jahren der Apathie nunmehr von der sich klar abzeichnenden bürgerlichen Krise in den Kampf und in die Revolte getrieben werden, sie erschweren die Reorganisation dieser Kräfte auf der Grundlage eines authentischen kommunistischen Programms - kurz, sie bilden ein Hindernis beim Wiederaufbau der proletarischen Internationale auf den Trümmern der alten kommunistischen Bewegung, die in Schande und Abschwörung zugrunde ging.

Und wenn das für das westliche Proletariat gilt, was soll man dann vom mittel- und osteuropäischen Proletariat sagen, das ja den stalinschen »Sozialismus« direkt vor Augen gehabt oder am eigenen Leibe gespürt hat und deshalb heute nur schwer den ganzen bürgerlichen und demokratischen Einflüsterungen der »Entstalinisierer« entkommen kann? Die Auffassungen der Nachfolger Stalins sind von sozialistischen Leitsätzen zwar noch weiter entfernt, als die des alten »Despoten«; sie sind aber die Widerspiegelung des rein bürgerlichen ökonomischen Fortschritts, der sich unter Stalins Knüppel vollzog, und den Einflüssen dieses Fortschritts können sich die unterdrückten Massen zunächst nicht entziehen. So können die Erben Stalins sich mit dem Prestige einer überlegenen Weisheit schmücken, während sie tiefer als je zuvor im Morast der bürgerlichen Ideologie versinken.

In radikalem Gegensatz zu allen diesen Entstellungen sind die Thesen der Klassenpartei über die russische Frage kurz gefasst folgende:

1. Das anfängliche Wirtschaftsprogramm des Bolschewismus und gewisse politische Formulierungen (sowjetische Demokratie), die ihm entsprechen, sind weder das Programm noch die Formulierungen der sozialistischen Umgestaltung einer entwickelten kapitalistischen Wirtschaft, weil Russland ja ein Agrarland war, in dem es nur kleine Inseln einer solchen kapitalistischen Wirtschaft in einem Meer von kleiner Warenproduktion gab. Man kann die einschlägige bolschewistische Politik auf keinen Fall vom russischen und internationalen Kontext der Jahre 1917-1926 herausreißen und in das unmittelbare Programm der zukünftigen sozialistischen Revolution in Europa und Amerika übernehmen. Dasselbe könnte man allerdings nicht so entschieden im Hinblick auf Asien und Afrika behaupten, wenn die Dynamik des sozialen Kampfes auf diesen Kontinenten eine proletarische Partei wie die bolschewistische in den Vordergrund führen würde; das Fehlen von revolutionären Traditionen, die auch nur entfernt mit jenen vergleichbar wären, aus denen der Bolschewismus im Rahmen des Vorkriegseuropas und der zweiten Internationale entstand, lässt diese Hypothese allerdings höchst unwahrscheinlich, wenn nicht absurd erscheinen, zumal wenn man bedenkt, dass sich in diesen Ländern eine rein bürgerliche antiimperialistische Strömung herausgebildet hat, während andererseits der herrschende Imperialismus von der Politik der ökonomischen Blockade zur Politik des Kapitalexports übergegangen ist (China und Vietnam ausgenommen *).

2. Das anfängliche Wirtschaftsprogramm des Bolschewismus war ebensowenig das Programm eines Übergangs des vorbürgerlichen Russlands zum vollen Kapitalismus. Wenn Lenin und die Bolschewiki es niemals für möglich gehalten haben, die kapitalistische Phase zu »überspringen«, wenn sie die Möglichkeit, ohne die Weltrevolution diese Phase abzukürzen, sogar ausdrücklich ausgeschlossen haben, so haben sie doch nie akzeptiert, zu einfachen und bloßen Verwaltern eines nationalen Kapitalismus zu werden, so »progressiv« dieser im rein russischen Rahmen auch sein mochte. Sie haben im Gegenteil den Sturz der Diktatur des Proletariats vorausgesehen, falls die Weltrevolution ausbleiben sollte. Ihr aktuelles Wirtschaftsprogramm war in Wirklichkeit ein Komplex von Maßnahmen, die zwei widersprüchliche Ziele verfolgten: zum einen das Wirtschaftsleben in dem von der Vergangenheit vorgegebenen Rahmen wieder aufleben zu lassen, um daraufhin, solange man auf die internationale Revolution warten musste, den kapitalistischen Fortschritt (Erhöhung der Produktion und der Arbeitsproduktivität durch Mechanisierung der Landwirtschaft und Nationalisierung der Industrie) in ein noch barbarisches Land einzuführen; zum anderen die politischen und sozialen Folgen einer solchen Entwicklung zu bekämpfen, d.h. die opportunistische Korruption der Partei, die sozialen Unterschiede, die Unterdrückung der Arbeiterklasse. Erst als dieser Kampf um die Kontrolle des erwachenden Kapitalismus im Interesse der Arbeiterklasse aufhörte, traten gleichzeitig die Theorie des Sozialismus in einem Land und... der unkontrollierte Kapitalismus zu Tage.

3. Schon während der NEP und zu Lebzeiten Lenins entspricht die reale Wirtschaftsentwicklung nicht mehr dem Lenin’schen Programm des »kontrollierten Kapitalismus«; sie wird vielmehr von zersetzen den Phänomenen begleitet, die der marxistische Flügel der Partei vergeblich zu bekämpfen versucht; diese Phänomene, die sich an der Oberfläche als Bürokratisierung äußern (um den Ausdruck zu gebrauchen, mit dem Lenin und Trotzki sie bezeichneten), bedeuten in Wirklichkeit den Sieg der bürgerlichen Anarchie der Warenproduktion über den revolutionären Willen. Die erste Manifestation des Opportunismus in Russland hat darin bestanden, diese Phänomene zu leugnen, die NEP zu idealisieren bzw. jeden Versuch, diese Phänomene zu bekämpfen, als eine gegen das demokratische Bündnis der Arbeiter und Bauern gerichtete Gefahr zurückzuweisen. Die zweite und viel schwerwiegendere Manifestation hat darin bestanden, vorzutäuschen, dass es selbst ohne die technischen Grundlagen des entwickelten Kapitalismus möglich sei, die aus der Vorherrschaft der kleinen Warenproduktion resultierende Anarchie allein durch die Kraft der souveränen Autorität des Staates zu bezwingen bzw. die »Auflösung der NEP von Amts wegen« durchzuführen, wie Trotzki es mit beißender wie berechtigter Ironie bezeichnete. Hier verbinden sich nationalistische und voluntaristische Abweichung. Auf russischer Ebene steht der Sozialismus in einem Land in einem zweifachen Gegensatz zum ursprünglichen bolschewistischen Programm: Er tauft alle Kategorien (Tauschwert, Preis, Lohn, Kapital) und Verhältnisse (Austausch, Fabrikdespotismus, Unterdrückung der Gesellschaft durch den Staat, Aufblähung des Verwaltungsapparates) »sozialistisch«, die Lenin und die wahren Bolschewiki niemals anders als kapitalistisch definiert haben; er verzichtet ganz auf die Aufgabe der Klassenverteidigung des Proletariats gegen die Folgen des »notwendigen Kapitalismus« (in dieser Hinsicht geht er so weit, im Namen des Sozialismus Formen der Ausbeutung der Arbeit, wie sie der grausamen ersten Periode des bürgerlichen Zeitalters eigentümlich waren, wieder einzuführen). Auf internationaler Ebene wird dies begleitet von der »Kapitulation vor dem Weltkapitalismus, der Versöhnung mit dem sozialdemokratischen Opportunismus und der Zerschlagung des proletarischen Flügels in der Internationale«.

Schließlich, wenn aus dem »kontrollierten Kapi­talismus« Lenins der unkontrollierte Kapitalismus Stalins in sozialistischer Verkleidung hervorgegangen ist, so ist das auf der einen Seite auf die Wirkung von ökonomischen Gesetzen zurückzuführen, die stärker als der Wille der besten revolutionären Partei sind, und auf der anderen Seite auf die Schwäche des europäischen und internationalen Proletariats, das nicht in der Lage war, auf den wahrhaft kommunistischen Appell der russischen doppelten Revolution zu antworten.

Es handelt sich also um einen unumkehrbaren Prozess. Es ist unmöglich, ihn noch einmal von vorn zu beginnen, um den historischen Lauf seit dem Oktober in einem uns günstiger erscheinenden Sinn zu korrigieren. Das Programm einer rein politischen, »antibürokratischen Revolution«, das aus der Nostalgie Trotzkis für die vielversprechenden ersten Jahre der bolschewistischen Revolution entstand, entbehrt gerade deshalb jegliche materialistische Grundlage. Man kann nicht zweimal die Wege der Geschichte gehen. Im Übrigen wird der beschrittene Leidensweg nicht nur unnütze Qual gewesen sein: Heute, nach 51 Jahren kapitalistischer Entwicklung in Russland (und auf der ganzen Welt), kann man ruhig behaupten, dass die zukünftige Internationale, fast überall von den »Übergangsaufgaben« befreit, unmittelbar an die große Aufgabe wird herangehen können, an die einzige Aufgabe, auf die es dem Proletariat und seiner Partei schließlich ankommt: die sozialistische Umgestaltung der grau­envollen bürgerlichen Welt.

 

 

Das ursprüngliche Wirtschaftsprogramm der Bolschewiki und der Sozialismus

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Dieses Programm ist in dem programmatischen Artikel »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll« (September 1917) enthalten. Es ist sowohl dem Sozialprogramm einer entwickelten bürgerlichen Republik unterlegen, als auch von ausgesprochener Kühnheit für das damalige Russland. Es fordert ganz einfach eine Intervention des Staates in das Wirtschaftsleben, um die Krise zu verhindern, zu der die Untätigkeit der Staatsmacht, die seit der Februarrevolution besteht, unfehlbar führen muss; eine Krise, die natürlich grausam auf dem Proletariat und den armen Bauern lasten wird. Diese »Intervention« beschränkt sich auf folgende Punkte: Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Bank unter der Kontrolle des Staates, bzw. Nationalisierung der Banken: Dadurch wird zwar keinem einzigen »Eigentümer« auch nur eine Kopeke genommen, der Staat aber wird in der Lage sein, alle Kapitalbewegungen zu kennen; Nationalisierung der kapitalistischen Syndikate (Verbände), die die wichtigsten Industriezweige beherrschen: Diese Maßnahme bedeutet keine Enteignung der Betriebe, bzw. ihrer Profite, würde jedoch die Kontrolle und Regulierung der Unternehmen durch den Staat erleichtern; Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses, ohne die eine Kontrolle des Staates über Produktion und Verteilung sowie jede Bekämpfung der Finanzgaunereien unmöglich sind; Zwangssyndizierung, d.h. die Zwangsvereinigung der Unternehmer in Verbänden; Regulierung des Konsums oder mit anderen Worten Bekämpfung des »Schwarzmarktes«, der die Reichen begünstigt; schließlich als Maßnahme gegen den finanziellen Zusammenbruch auch eine stark progressive Besteuerung des Kapitals.

Lenin nennt drei wesentliche Charakteristika all dieser Maßnahmen: Sie haben keinen sozialistischen Charakter, und selbst die fortgeschritteneren, imperialistischen Staaten haben während des Krieges ähnliche Maßnahmen ergriffen; trotz ihrer eigentlichen Bescheidenheit werden sie niemals von den Sozialrevolutionären und Menschewiki ergriffen werden: um sie durchführen zu können, ist nichts geringeres als die proletarische Revolution, die sich auf die armen Bauern stützt, notwendig; wenn in den entwickelten Ländern der sich seit Kriegsbeginn vollziehende Übergang vom Privatkapitalismus zum Monopolkapitalismus und von diesem zum staatsmonopolistischen Kapitalismus der proletarischen Revolution das Vorzimmer zur sozialistischen Wirtschaftsordnung geöffnet hat, so kann man in Russland, wo viel ruckständigere Formen vorherrschen, doch nur Schritte in diese Richtung unternehmen; aber »In jeder großen Maßnahme, die auf der Grundlage dieses jüngsten Kapitalismus einen Schritt vorwärts bedeutet, zeichnet sich der Sozialismus unmittelbar, in der Praxis, ab.« Will man diese Position verstehen, so muss man einerseits begreifen, dass bei Lenin diese Einschätzung an die Perspektive eines Sieges der proletarischen Revolution, wenigstens in Europa, gebunden ist; andererseits muss man wissen, was der Sozialismus in der wahren marxistischen Auffassung, die sich von den heute kursierenden, verfälschenden Lesarten radikal unterscheidet, ist. Um alle Missverständnisse zu vermeiden, wollen wir gerade diesen Punkt kurz klären, bevor wir auf die spätere Phase zu sprechen kommen.

Der Sozialismus kann als eine neue, spezifische Art der Produktenverteilung zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft charakterisiert werden, die aus einer gleichermaßen neuen und spezifischen Verteilung der Produktionsbedingungen herrührt. Diese Verteilung ist charakterisiert durch das Verschwinden des Warenaustausches (d.h. des Wertgesetzes), an dessen Stelle eine direkte, ausschließlich von der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit abhängige (also zunächst kontingentierte und später unbegrenzte) Zuteilung des gesellschaftlichen Produkts an die Mitglieder der Gesellschaft tritt. Die Rolle der Diktatur des Proletariats besteht in allen Stadien der Entwicklung genau darin, alle Hindernisse zu beseitigen, die sich der neuen Organisation der Produktionsbedingungen, ohne die die neue Verteilungsweise nicht hervortreten kann, entgegenstellen, bzw. sie Sektor für Sektor einzuführen, sobald die Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Das Programm dieser Diktatur fällt notwendigerweise anders aus, je nachdem, ob das Hindernis, wie im damaligen Russland, auf der Existenz eines riesigen Sektors kleiner Warenproduktion beruht, oder aber im Gegenteil, wie im Westen, in der Herrschaft einer mächtigen Kapitalistenklasse besteht, die der ganzen Gesellschaft ökonomische und soziale Ziele aufzwingt, die im Widerspruch zu der Entwicklung ihrer Produktivkräfte und den Klasseninteressen des Proletariats stehen.

In der kleinen Warenproduktion resultiert die Produktenverteilung gemäß dem Prinzip des Aus­tausches zwischen Äquivalenten aus dem privaten Charakter der Arbeit. Die selbständigen Produzenten können nicht alle zu ihrer Existenz notwendigen Gebrauchswerte produzieren; sie müssen sie von anderen selbständigen Produzenten beziehen; aber ohne eine Messung der Arbeitszeit, die in ihren Produkten enthalten ist, bzw. ohne einen Vergleich zwischen dieser Arbeitszeit und der Arbeitszeit, die im Produkt der anderen enthalten ist, laufen sie Gefahr, bei jedem dieser Austauschakte eines größeren oder kleineren Teiles ihrer Anstrengung beraubt zu werden, wenn für das Produkt, das sie abgeben, mehr Arbeit erforderlich war als für jenes, das sie erhalten. Diese Produktionsbedingungen verleihen den Produkten unerbittlich den Warencharakter, erfordern zwangsläufig den Austausch dieser Produkte nach dem Wertgesetz. Es ist also unmöglich, auf diese Produktionsbedingungen eine andere, eine höhere Verteilungsweise aufzupfropfen. In der kapitalistischen Produktion hingegen, wo die Arbeit schon kollektiv und die Produktion schon gesellschaftlich ist, beruht das Hindernis nicht mehr so sehr auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln und auf der Selbständigkeit der Produktionsbetriebe, d.h. auf den Bedingungen, die sie von der einfachen Warenproduktion geerbt hat, als vielmehr auf den Klassenzielen, die sie verfolgt. Hier resultiert der Produktenaustausch im Wesentlichen aus dem Warencharakter der Arbeitskraft selbst, aus dem Austausch dieser Arbeitskraft gegen einen Lohn (während im Ursprung des Kapitalismus im Gegenteil der Austausch der Arbeitskraft nach dem Wertgesetz aus dem Warenaustausch resultierte). Es ist in der Tat dieser Tauschakt, der es erlaubt, die kapitalistischen Ziele als Verfolgung des Wertzuwachses (des Mehrwerts) zu kennzeichnen, als Gebrauch der Arbeitskraft, um den Kapitalisten mehr Wert einzubringen als der Arbeiter an Bezahlung für seine Arbeitskraft - die einzige Ware, die er auf den Markt bringen kann - erhält.

In diesem zweiten Fall sind die Zerstörung des Bürgerlichen Staates, die juristische Abschaffung des Betriebs- und Konzerneigentums, die Besitzergreifung dieser Betriebe und Konzerne durch den proletarischen Staat ausreichende Bedingungen für eine Reorganisation, die darauf abzielt, die bisher disparaten und konkurrierenden Wirtschaftseinheiten zu einem harmonischen Ganzen zu koordinieren. Der Grund dafür ist, dass die Produktion bereits einen gesellschaftlichen Charakter hat, dass die Volkswirtschaft bereits eine Konzentration erfahren hat und vor allem, dass die bereits erreichte Produktivität der Arbeit die widerwärtige Einschränkung des den Produzenten zukommenden Teils des gesellschaftlichen Produkts (die ja darauf zurückzuführen ist, dass für das Kapital die Arbeitskraft eine Ware darstellt, die sich nur zu ihrem »gerechten Preis« - allerdings möglichst unter diesem Preis - verkaufen kann), die übermäßige Ausdehnung des Arbeitstages, das Zuchthausregime in den Fabriken, kurz alle Makel, die aus den Zwängen der Wert- und Mehrwertproduktion entstehen und die Lohnarbeit als eine neue Sklaverei kennzeichnen, ganz und gar überholt und unnötig macht.

In dem ersten Fall können im Gegensatz dazu weder die politische Diktatur noch die juristischen Maßnahmen die Missstände beseitigen, die aus der Zersplitterung der Produktionsmittel, der rudimentären Technik, der geringen Produktivität der Arbeit und also der Dürftigkeit des ökonomischen Surplus resultieren, das der Gesellschaft zugutekommen kann, wenn einmal die Bedürfnisse des unmittelbaren Produzenten befriedigt sind. Hier wird die Hürde zu einem Bergmassiv. Eine ganze Phase der Mechanisierung, der Rationalisierung, des technischen Fortschritts und der Konzentration wird notwendig, eine ganze Phase der bürgerlichen Entwicklung. Dadurch wird selbst für die im Lande existierenden Keime moderner Ökonomie der Augenblick hinausgeschoben, wo der kapitalistische Kurs auf Leistungssteigerung und quantitative Zunahme der Produktion, und damit die Unterordnung der unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse unter dieses Ziel, aufhören werden. Das Prinzip des Warenaustausches, der Warencharakter der Arbeitskraft haben hier noch eine lange Zukunft vor sich, und die Forderung nach ihrer zügigen Abschaffung ist nur eine voluntaristische Utopie. Allerdings ist ohne diese Abschaffung jegliche Emanzipation des Proletariats unmöglich.

 

 

Die ökonomischen Maßnahmen nach dem Aufstand

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Die Maßnahmen, die von der Sowjetregierung ergriffen wurden (1), bilden ebenso viele Schritte in der Verwirklichung des vor der Revolution formulierten Programms: Nicht die Enteignung der Kapitalisten, sondern die Organisierung eines Staatskapitalismus unter sowjetischem Regime und mithilfe der Arbeiterkontrolle. Diese Kontrolle, der Lenin größte Wichtigkeit beimaß, zielte darauf ab, jegliche Unternehmersabotage in den Industrien von nationaler Bedeutung zu verhindern. Eigentümer und Arbeiterdelegierte waren gegenüber dem sowjetischen Staat verantwortlich für Ordnung und Disziplin in der Produktion. Die Kontrollkommissionen waren jedoch weder verantwortlich für die Unternehmensführung, noch hatten sie das Recht, Anweisungen zu geben oder sich mit Finanzfragen zu beschäftigen. Die Hauptsorge war, die bestmögliche Funktionsfähigkeit einer stark erschütterten Wirtschaft zu sichern, indem man die Fabriken in den Händen derer beließ, die die Praxis der Produktions- und Geschäftsleitung beherrschten, und indem man sie der Überwachung durch die Arbeiter unterstellte, ohne damit auf die Zentralisierung und auf die Einheit des Wirtschaftsapparates (die Feindbilder der »Selbst­verwaltungssozialisten«) zu verzichten. Dies gibt der ferneren Perspektive einer »Leitung der Produktion durch die Arbeiter« ihren wahren Sinn: Sie wurde sich auf keinen Fall nach autonomistischen Prinzipien gestalten können. Wie die Verfechter des »Sozialismus in einem Land« haben auch die Anarchosyndikalisten kein Recht, sich auf den »frühen Lenin« oder auf Lenin überhaupt zu berufen!

Im Agrarbereich bestanden die ergriffenen Maßnahmen in der Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden und in dessen Nationalisierung. Diese Maßnahmen waren weder sozialistisch noch an sich staatskapitalistisch, sofern ihre Bedeutung rein juristischer und nicht ökonomischer Natur war; faktisch wurde der ohne Entschädigung konfiszierte Grundbesitz den Dorfgemeinden zurückgegeben, denen man die Sorge für die Verteilung nach dem Prinzip der »ausgleichenden Bodennutzung« (Umverteilung nach dem Gleichheitsprinzip) überließ. Diese »ausgleichende Bodennutzung« war eine kleinbürgerliche Utopie der Sozialrevolutionäre; sie war nicht geeignet, die russische Landwirtschaft ihrer hundertjährigen Rückständigkeit zu entreißen, bzw. die Gefahr einer Hungersnot aus den proletarischen Zentren zu entfernen, denn sie überließ dem kleinen Bauern uneingeschränkt das Produkt seiner Arbeit, dessen größter Teil gestern noch von Adel, Kirche und Staat angeeignet wurde. Die Bolschewiki verfolgten selbstverständlich die Errichtung einer umfassenderen Einheit als die der familiären Parzellen und die Einführung der assoziierten Arbeit und der Mechanisierung; sie konnten sich aber ebensowenig einem Kompromiss mit den Forderungen der Sozialrevolutionäre entziehen, denn es handelte sich um die Forderung der riesigen Bauernmassen, die man anders nicht auf die Seite des Proletariats ziehen konnte. Ein solcher Kompromiss hatte dennoch nichts mit »Opportunismus« zu tun, denn die Bolschewiki verzichteten damit auf keine weitergehenden Maßnahmen, sofern sie unmittelbar realisierbar wären, und noch weniger auf die Verwendung der rein juristischen Nationalisierung für die zunehmende Einführung der großen, modernen Landwirtschaft.

Der durch diese ersten Maßnahmen errichtete »Staatskapitalismus unter dem Regime der Arbeiter- und Bauernsowjets« musste sehr bald unter dem Druck seiner inneren Widersprüche, der Verschärfung der ökonomischen Situation und schließlich des Bürgerkrieges, der ihm ein Ende setzte, zusammenbrechen. Einerseits widersetzten sich die Fabrikbesitzer der Arbeiterkontrolle, betrieben Wirtschaftssabotage oder flohen ins Ausland; andererseits folgten die Arbeiter oft nicht den Mäßigungsratschlägen der Bolschewiki und enteigneten, begeistert durch die politische Macht, die sie besaßen, mehr als sie überhaupt verwalten konnten. So wurde die kommunistische Macht bereits vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges gezwungen, alle Aktiengesellschaften in Staatseigentum zu überführen. Das bedeutete noch nicht vollständige Verstaatlichung der ganzen Wirtschaft, war aber immerhin mehr, als man vorgesehen hatte, und ließ sich einzig und allein als »außerordentliche Maßnahme« rechtfertigen. Das Gleichgewicht, das durch die Entfesselung des Klassenkampfes zerstört wurde, wird übrigens durch den Bürgerkrieg und die ausländische Intervention, die der Übergangswirtschaft ein Ende setzen und die Phase des »Kriegskommunismus« eröffnen, bald noch stärker erschüttert werden.

 

 

Der Kriegskommunismus

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Er wurde lapidar als »ein System zur Reglemen­tierung des Verbrauchs in einer belagerten Festung« bezeichnet. Es handelte sich in der Tat darum, die gering vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen, die proletarischen Zentren vor der Hungersnot zu retten und die Kriegsindustrie zu unterstützen, um den Sieg des Proletariats im Bürgerkrieg zu sichern. Diese Ziele wurden und konnten nur durch eine Stärkung der proletarischen Diktatur im Rahmen des demokratischen Bündnisses mit der Bauernschaft erreicht werden. Solange der Bürgerkrieg dauert, wird dieses Bündnis dennoch unvermindert bestehen, obwohl die Bauernschaft die »Kommune« nur aus Hass und Angst vor der Restauration unterstützte.

Der Handel ist verboten; der Staat eignet sich die Produktion direkt an und verteilt selber die Produkte. Die Lebensmittel, an denen äußerster Mangel herrscht, werden auf dem Lande von bewaffneten Arbeitertrupps beschlagnahmt, die den Bauern dafür nur »bunte Scheine, die aufgrund einer alten Gewohnheit Geld genannt werden«, geben. Man hat hier mit einer Art »Verteilungssozialismus« zu tun, dessen revolutionäre Wirksamkeit nicht zu bestreiten ist, der aber in keinem Zusammenhang mit der ersten Phase des Sozialismus steht, weil die technisch-ökonomische Basis dafür völlig fehlt. Zwar charakterisierte sich der Kriegskommunismus im Bereich der Produktion durch die völlige Enteignung der Großindustrie und eines großen Teils der kleinen und mittleren Industrieunternehmen, durch die Ersetzung der Arbeiterkontrolle durch die Arbeiterverwaltung, sowie durch den heroischen Versuch, ganze Zweige der Industrieproduktion durch eine direkte und nicht merkantile Koordinierung zu reorganisieren. Aber nichts von alledem konnte den extremen Mangel an Reserven, den Verfall des produktiven Apparates und das Fehlen von Erfahrung im Bereich der Geschäftsführung beheben. Nach Trotzkis Zeugnis, »hoffte und trachtete die Sowjetregierung, diese Reglementierungsmethoden auf direktem Wege zu einem Planwirtschaftssystem zu entwickeln, sowohl auf dem Gebiet der Verteilung wie der Produktion«. Trotzki erinnert daran, dass es im Programm von 1919 hieß: »Auf dem Gebiet der Verteilung besteht gegenwärtig die Aufgabe der Sowjetmacht darin, unabänderlich fortzufahren in der Ersetzung des Handels durch planmäßige, im gesamtstaatlichen Maßstab organisierte Verteilung der Produkte«. Wie ist ein solcher Widerspruch zum früheren Programm zu erklären, und vor allem wie ist der theoretische Fehler zu erklären, der klar aus allem hervorgeht, was wir in unserem ersten Kapitel gesagt haben? Trotzki antwortet: »Der theoretische Fehler (...) würde ganz unerklärlich sein, berücksichtigte man nicht, dass alle damaligen Berechnungen auf der Erwartung eines baldigen Sieges der Revolution im Westen aufgebaut waren.« Ein solcher Fehler der bolschewistischen Internationalisten verlangt Respekt ab; ganz anders verhält es sich mit dem Fehler der Renegaten, die später die internationale Revolution nicht nur abschrieben, sondern direkt torpedierten und sich zur Unverfrorenheit verstiegen, zu behaupten, der Sozialismus sei mit Austausch, Handel, Markt usw. vereinbar!

 

 

Die »neue ökonomische Politik« (Frühjahr 1921 - 1928)

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Wenn Lenin und die Bolschewiki in der kurzen Periode vor dem Bürgerkrieg der Meinung waren, dass alle ökonomischen Aufgaben der proletarischen Partei im rückständigen Russland sich zunächst darauf beschränkten, die bevorstehende Katastrophe zu bekämpfen, die die armen Klassen der Gesellschaft bedrohte, so bestand 1921, nach mehr als drei Jahren erbitterten Kampfes, die ganze »Neuigkeit« in der Feststellung, dass die Katastrophe sich bereits ereignet hatte und man sie um jeden Preis überwinden musste. Was man die »Neue Ökonomische Politik« nennt, ist also nur eine Rückkehr der Bolschewiki zum bescheidenen und dennoch äußerst schwierigen ursprünglichen Programm unter neuen, durch die Zuspitzung des Kampfes bis zum Bürgerkrieg bedingten Umständen. Diese Bedingungen waren der totale Zusammenbruch sowohl der industriellen als auch der landwirtschaftlichen Produktivkräfte, die Schwächung und Zersplitterung des kleinen Kerns des städtischen Proletariats, auf dem das ganze Gewicht der Revolution lastete, und die Verschlechterung der Beziehungen zwischen der bolschewistischen Macht (der proletarischen »Kommune«) und der riesigen Bauernschaft. Unter solchen Bedingungen anzunehmen, nach dem Sieg im Bürgerkrieg bestünde die ökonomische Aufgabe darin, »den Kapitalismus in Russland zu zerstören«, wäre nicht nur ein ultralinker Fehler sondern barer Unsinn. Man kann nicht zerstören, was nicht existiert. Ein »Kapitalismus«, dessen Produktion um 69% gesunken ist (2) - spektakulärster Fall in der Geschichte -, ist kein »Kapitalismus« mehr. Ein »Kapitalismus«, der nur ein Kilo Gusseisen (Schlüsselprodukt der Industrie) pro Kopf liefert (3% der Vorkriegsproduktion, weniger als man für die jährliche Produktion von Nägeln, Nadeln und Schreibfedern braucht), ist kein »Kapitalismus« mehr. Auf diesem Niveau bedeutet der quantitative Rückgang so viel wie ein qualitativer Rückschritt zu einem vorbürgerlichen Niveau der Wirtschaft. Auf diesem Niveau stellt sich selbst die Hauptfrage - Wer verfügt über die Produktionsmittel? Wer setzt sie in Bewegung? - nicht mehr. Wenn die Fabriken nicht mehr einsatzfähige Maschinen, weder Brennstoffvorräte noch Rohstoffe, noch Arbeiter, noch Produktionsleiter haben, so verfügt derjenige, der darüber verfügt - sei es auch die revolutionärste Macht - über keine materielle Wirklichkeit, er kann sein »Recht« über nichts ausüben. Die einzige Frage, die sich dann stellt, ist, die wenigen vorhandenen Produktionskräfte zu mobilisieren, sie zu koordinieren, mit den erstbesten Mitteln (administratives Zwang und Appelle an den revolutionären Enthusiasmus, materielle Anreize und unentgeltliche kommunistische Arbeit) zusammenzufügen, um die Produktion - Basis jeglichen gesellschaftlichen Lebens - wiederzubeleben. Solange er dafür sorgt, dass sie stattfindet, ist es vorläufig weniger wichtig, wer der Träger dieser Wiederbelebung ist: Der ausländische Kapitalismus, falls er die Konzessionsangebote annimmt; die russischen Kapitalisten, soweit sie noch existieren; die Kommunisten, falls sie dazu fähig sind und die Abwesenheit der ersteren sie dazu zwingt. Weniger wichtig sind die Formen, die das neue Leben annimmt, solange man dem Tod entrinnt: wenn man kämpft, um dem totalen Ruin zu entkommen, kann es nicht die Frage sein, gleichzeitig ein höheres Modell der Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln. Der Staatskapitalismus bleibt - selbst unter dem politischen System der Diktatur des Proletariats - sicherlich weit hinter dem Sozialismus zurück; er wäre jedoch schon ein riesiger Erfolg, ein beneidenswerter Erfolg für die in einem Land der bäuerlichen Kleinbourgeoisie an die Macht gekommenen Kommunisten, die von der gesamten Weltbourgeoisie bekämpft werden und auf noch unbestimmte Zeit die Unterstützung durch das internationale Proletariat entbehren müssen. Das ist im Großen und Ganzen der Sinn der heftigen Angriffe, die Lenin auf dem Kongress der NEP (3) gegen jene Genossen richtete, die im Namen der »Reinheit des Kommunismus« die Methoden des Kriegskommunismus fortsetzen wollten.

Wenn man auf rein ökonomischer Ebene argumentiert so bestand sicherlich die ganze Frage darin, die Produktivkräfte unter der Kontrolle des Proletariats zu entwickeln, und sei es in kapitalistischen Formen. Lenin unterstrich mit vollem Recht, dass die NEP, weit davon entfernt, eine Neuigkeit zu sein, vollkommen in der Theorie des »Staatskapitalismus«, die er immer verfochten hatte, enthalten war. Aber Lenin wusste auch sehr gut, dass die ökonomische Frage sich im Rahmen einer nach wie vor in Klassen gespaltenen Gesellschaft stellte und deshalb nur durch einen Klassenkampf entschieden werden konnte. Nun war ja das Hauptziel der NEP die Wiederherstellung des Bündnisses zwischen den zwei großen Klassen der sowjetischen Gesellschaft, dem Proletariat und der Bauernschaft; d.h. die NEP zwang diesen Klassenkampf in so enge Grenzen hinein, dass Lenin sie zugleich (und aus gutem Grund) als einen Rückzug des Proletariats und seiner Partei bezeichnete. Wir müssen jetzt zeigen, dass es kein Fehlschluss war, diese zwei anscheinend widersprüchlichen Behauptungen aufzustellen oder besser, dass der Widerspruch nicht in Lenins Kopf sondern in der schrecklichen Situation begründet lag, in die die Verzögerung der Weltrevolution das russische Proletariat und die kommunistische Partei Russlands versetzt hatte.

Wenn er die Fragen, die sich aus der Situation am Ende des Bürgerkrieges bzw. aus der fortdauernden Isolierung der Revolution ergaben, nicht mehr auf allgemein ökonomischer Ebene sondern im Hinblick auf die Klassenverhältnisse stellt, sagt Lenin in der Tat folgendes: »Der »Kriegskommunismus« (...) war keine Politik, die den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats entsprach, und konnte es auch nicht sein. Er war eine zeitwellige Maßnahme. Die richtige Politik des Proletariats, das seine Diktatur in einem kleinbäuerlichen Lande ausübt, ist der Austausch von Getreide gegen Industrieprodukte, die der Bauer braucht. Nur eine solche Ernährungspolitik entspricht den Aufgaben des Proletariats, nur sie ist geeignet, die Grundlagen des Sozialismus zu festigen und zu seinem vollen Sieg zu führen« (4). Diese Definition ist grundlegend und muss näher erörtert werden.

Während des Kriegskommunismus hatte es keinen »Austausch« zwischen Industrie und Landwirtschaft gegeben, sondern faktisch die Beschlagnahmung jenes Teils der Agrarproduktion, der notwendig war, um die Städte vor dem Hungertod zu retten und der Roten Armee den Kampf zu ermöglichen. Die Bauern hatten diese Beschlagnahmung wohl oder übel toleriert, aus Furcht vor der Restauration; aber sie hatten auch ökonomisch reagiert, was zu einer Senkung der Getreideproduktion von durchschnittlich 770 Millionen Zentner auf durchschnittlich 494 Millionen geführt hatte! Sollte man selbst nach dem Sieg über die Weißen die Zwangsmaßnahmen aufrechterhalten, so würde man einen weiteren Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion herbeiführen und außerdem das Risiko von Bauernaufständen eingehen, mit der möglichen Folge eines Sturzes der bolschewistischen Macht. Das ist der genaue, auf die geschichtliche Situation bezogene Sinn der Lenin’schen Definition: »Die richtige Politik des Proletariats, das seine Diktatur in einem kleinbäuerlichen Lande ausübt, ist der Austausch von Getreide gegen Industrieerzeugnisse, die der Bauer braucht«. Damit wird gar nicht gesagt, dass dieser Austausch dem Proletariat automatisch die politische Vorherrschaft und den wirtschaftlichen Vorteil sichern wird; damit wird gar nicht gesagt, dass unter der Bedingung, dass man den Bauern die Möglichkeit gibt, mit ihren Produkten zu handeln und dass man ihnen auf dem Markt die notwendigen Fabrikwaren zu angemessenen Preisen anbietet, dass unter diesen Bedingungen das Proletariat nicht nur seine Macht sondern auch den Sieg seiner eigenen inneren und internationalen Klassenpolitik definitiv gesichert hätte. Hier liegt das Problem. Es ist sicher, dass die russische Bauernschaft der Kommunistischen Internationale und der Verbindung der sowjetischen Macht mit dieser »ausländischen« Organisation feindlich gegenüberstand. In dieser Beziehung könnten lediglich die armen Bauern (die Verteilung des Bodens hatte die sozialen Unterschiede auf dem Lande keineswegs beseitigt) eine Ausnahme bilden; jedoch musste die Partei 1921 und sogar sehr viel später erkennen, dass sie kaum eigene Vertreter auf dem Lande hatte und nicht einmal über eine für die Bauern leserliche kommunistische Zeitung verfügte. Da der Bauer jedoch kein Idealist ist und sich immer wenig geneigt zeigt, nach Prinzipien zu urteilen, musste dieser Umstand kein Hindernis für die Aufrechterhaltung der proletarischen Diktatur bilden, vorausgesetzt, er hätte keine Folgen auf ökonomischer Ebene. Nun unterwarf aber die internationale Bourgeoisie - nachdem sie gezwungen war, ihre Niederlage auf den Schlachtfeldern des russischen Bürgerkrieges hinzunehmen - das bolschewistische Russland einer schrecklichen Wirtschaftsblockade, die sich selbstverständlich auf die Bauernschaft auswirkte. Um die Bauernschaft mit Fabrikwaren auch nur zu den gleichen Bedingungen versorgen zu können, wie sie die russische Bourgeoisie vor dem Krieg geboten hatte oder jetzt hätte bieten können, wenn sie an der Macht geblieben wäre und damit gleichzeitig die Verbindung Russlands mit dem Weltmarkt gesichert hätte, müsste das Proletariat bereits eine enorme produktive Anstrengung unternehmen; um aber den Bauern außerdem noch alle notwendigen Produktionsmittel für den Übergang von der damals vorherrschenden, elenden Parzellenwirtschaft zur großen assoziierten Landwirtschaft zu liefern, musste das Proletariat noch sehr lange auf eine auch nur fühlbare Verbesserung seiner Lebens- und Arbeitsbedingungen verzichten. Kurz und gut, der Austausch der Industrieerzeugnisse gegen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse war sehr wohl eine notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung der bolschewistischen Macht; er war, um mit Lenin zu reden, »die richtige Politik der Diktatur des Proletariats«, denn er bewies außerdem, dass das Proletariat fähig war, die allgemeinen Interessen der Gesellschaft auf seine Schultern zu nehmen und nicht (wie es die Ouvrieristen wollten) nur die Zunftinteressen zu vertreten. Er war aber auch das Messer, das die riesige Kleinbourgeoisie Russlands an die Kehle des Proletariats hielt; die erdrückende Last, die es dazu zwang, eine kleine Warenproduktion von lächerlicher Leistungsfähigkeit hinter sich her zu schleppen; die unerbittliche Fessel, die die Bindung der ländlichen Kleinbourgeoisie an Kleineigentum und Familienwirtschaft ihm anlegte. D.h. der Austausch mit der Bauernschaft - weit davon entfernt die demokratische Gleichheit zweier Klassen zum Ausdruck zu bringen (wie die Renegaten später behaupteten) und noch weiter davon entfernt, eine feste Grundlage für die politische Vorherrschaft des Proletariats zu bilden - verurteilte das Proletariat dazu, alle Opfer der Revolution zu tragen, und bot seiner Diktatur eine nur schwache und untergrabene Grundlage.

Lenin glaubte an die kommunistische Partei Russlands und an die internationale Revolution, die früher oder später dem russischen Proletariat zu Hilfe kommen würde. Er verkannte jedoch keineswegs das Missverhältnis der Kräfte: So bekämpfte er den Fehler derjenigen, »die den kleinbürgerlichen ökonomischen Bedingungen und das kleinbürgerliche Element als den Hauptfeind des Sozialismus bei uns nicht sehen«; so charakterisierte er den Hauptkampf folgendermaßen: »Hier kämpft nicht der Staatskapitalismus gegen den Sozialismus, sondern die Kleinbourgeoisie plus privatwirtschaftlicher Kapitalismus kämpfen zusammen, gemeinsam, sowohl gegen den Staatskapitalismus als auch gegen den Sozialismus. Die Kleinbourgeoisie widersetzt sich jeder staatlichen Einmischung, Rechnungsführung und Kontrolle, mag sie nun staatskapitalistischer oder staatssozialistischer Natur sein.«; so, im absoluten Gegensatz zum heutigen Opportunismus, der ganz und gar auf die Mittelklassen orientiert ist und gegen die Monopole zetert, fordert Lenin schließlich auf der Ebene der Wirtschaftsformen und ihrer Wechselbeziehungen »einen Block, ein Bündnis der Sowjetmacht, d.h. der proletarischen Staatsmacht mit dem Staatskapitalismus gegen das kleinbesitzerliche (patriarchalische und kleinbürgerliche) Element«. Diese prekäre Lage des Proletariats geht vielleicht noch deutlicher hervor aus folgender Kennzeichnung der NEP durch Lenin, die als Zusammenfassung des ganzen Problems betrachtet werden kann: »Die alte ökonomische Gesellschaftsstruktur, den Handel, den Kleinbetrieb, das kleine Unternehmertum, den Kapitalismus nicht zu zerschlagen, sondern den Handel, das kleine Unternehmertum, den Kapitalismus zu beleben, wobei wir uns lediglich nach Maßgabe ihrer Belebung vorsichtig und allmählich ihrer bemächtigen oder die Möglichkeit erhalten, sie der staatlichen Regelung zu unterwerfen.« Dessen ungeachtet sollten noch keine zehn Jahre vergehen, bis die Kräfte, die lange als zentristische Strömung des Bolschewismus gegolten hatten, ankündigten, es sei Zeit, »die NEP zu liquidieren«, zum Angriff überzugehen und den direkten Weg der sozialistischen Umgestaltung des kleinbürgerlichen und agrarischen Russland einzuschlagen. Um an diesen Punkt zu gelangen, haben sie allerdings vorher die politische Konterrevolution vollbringen müssen.

 

 

Der Zusammenbruch der NEP

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Nach diesen Ausführungen stellt sich von selbst die geschichtliche Frage, ob die NEP ihre Ziele erreichte oder nicht und warum. Aus dem bereits Gesagten gehen zwei wesentliche Punkte hervor: Das ökonomische Ziel der NEP war weder ein unmöglicher, nationaler Sozialismus (!) noch ein bloßes »Hochklettern« von der Ebene der kleinen Warenproduktion auf die Stufe des Staatskapitalismus (eine solche These wäre weniger primitiv aber genauso falsch und gefährlich); mit anderen Worten, es ging auch nicht um den Staatskapitalismus im allgemeinen, als höchste Form des Kapitalismus überhaupt, die damit auch in der Zeitfolge dem Sozialismus am nächsten steht. »Staatskapitalismus - erklärte Lenin auf dem XI. Parteitag - das ist jener Kapitalismus, den wir einzuschränken, dessen Grenzen wir festzulegen wissen«, im sowohl unmittelbaren wie langfristigen Interesse des Proletariats, versteht sich. Man kann die gestellte Frage jedoch nicht beantworten, wenn man sich auf die ökonomischen Zielsetzungen der NEP beschränkt; man muss vielmehr die politischen Ziele klar vor Augen haben. Es handelt sich dabei, wie überhaupt bei der Revolution von 1917, im Grunde um eine doppelte Zielsetzung: Durch die Schaffung geeigneter ökonomischer Bedingungen musste man die Gefahr eines Zusammenbruches der Sowjetmacht, als Ganzes betrachtet, beseitigen; als Ganzes betrachtet, weil mit diesem Zusammenbruch auch die demokratischen Errungenschaften der Revolution zugrunde gehen und die Bauern dem weißen Terror ausgeliefert würden; man musste jedoch zugleich sowohl auf ökonomischer (wenn möglich) wie auf politischer Ebene kämpfen, damit diese Sowjetmacht im Allgemeinen proletarisch und damit internationalistisch bliebe. Diese zweite Aufgabe war  unvergleichlich schwieriger als die reine Verhinderung einer Restauration, sie bildete aber auch die spezifische Funktion der kommunistischen Partei Russlands, charakterisierte die Partei als solche; ohne diese Zielsetzung gibt es keinen Bolschewismus und können Leninismus mehr: Wenn man von der NEP und den Debatten, die sie verursachte, überhaupt irgendetwas verstehen will, darf man demzufolge keinen Augenblick davon abstrahieren.

Unsere Parteithese, die mit einer Unzahl programmatischer Texte untermauert wurde, und auf die wir hier nicht zurückkommen werden, ist die, dass sich die politische Konterrevolution ereignet hat, noch BEVOR die ökonomische Phase der NEP abgeschlossen war; das bedeutet auch, dass es -selbst wenn die gefürchtete Restauration nicht stattgefunden hat, selbst wenn die Macht »sowjetisch« (wenn auch keinesfalls kommunistisch) blieb - ausgeschlossen ist, anzunehmen, die NEP habe ihr Ziel erreicht. Mehr noch: Nicht der NEP sondern vielmehr ihrer Liquidierung im Jahre 1928 war es zu verdanken, wenn der Sturz der proletarischen Diktatur (oder besser die Ausrottung der proletarischen Züge, die die Sowjetmacht noch behielt, solange es wirklich revolutionäre Kommunisten in der herrschenden Partei gab) nicht von einem allgemeinen Zusammenbruch des Sowjetstaates als solchem begleitet wurde. Die heutigen Erben der stalinistischen Konterrevolution geben die NEP als den »wissenschaftlichen Plan« aus, den Lenin erfunden habe, um das, was das blöde Volk von »doktrinären« Marxisten für unmöglich gehalten hatte - nämlich den Sozialismus in Russland aufzubauen - doch zu machen; sie erheben die NEP gar zur wahren Quelle aller Wunder, die man im heutigen Russland betrachten darf. Dadurch machen sie sich doppelt lächerlich: Ist die erste Behauptung ein theoretisches Monstrum, so ist die zweite eine primitive Verdrehung der geschichtlichen Tatsachen.

Nachdem wir die politische Frage geklärt haben, müssen wir noch den ökonomischen Determinismus untersuchen, der einerseits im Laufe der Jahre 1923- 1927 die Diktatur des Proletariats untergraben und liquidiert hat und andererseits die russische Wirtschaft auf den Weg führte, den sie seit der Liquidierung der NEP im Jahre 1928 bis zu ihrer vermeintlichen Wiedereinführung ab 1956 unwiderstehlich beschritten hat.

Die Abschaffung der Zwangseintreibung der landwirtschaftlichen Produkte, bzw. ihre Ersetzung durch eine Naturalsteuer (d.h. man setzte jährlich nach allgemeinen Kriterien für jeden Bezirk eine bestimmte Getreidemenge fest, die die Bauern an den Staat zu entrichten hatte), die Wiedereinführung der Freiheit des Handels für die Überschüsse der landwirtschaftlichen Produktion, die Wiedereinführung der Freiheit des Handels für die Industrieprodukte, kurz, all diese einfachen und geheimnislosen Maßnahmen, die die Partei 1921 ergriff, führten sehr bald zu einer unverkennbaren Wiederbelebung der Wirtschaft. Wenn wir mit der Getreideproduktion anfangen, die ja wesentlich war, weil von ihr die Ernährung der Städte abhing, so haben wir folgende Zahlen in Millionen Zentnern (5):

 

1913- 1923 494
1924 487
1925 697
1926 730
1927 727
1928 734

 

Diese Zahlen genügen allerdings nicht, um die Kernfrage der Versorgung der Städte während dieses harten Jahres zu klären. Diesbezüglich ist der effektiv auf den Markt gebrachte Getreideanteil aussagekräftiger. Nun, gerade hier verwandelt sich die Progression in eine Regression, denn man hat folgende Zahlen: 1913: 25% - 1925/26: 14,5% - 1927/28: 11% (in absoluten Zahlen: 200 Millionen Zentner 1913, 106 Mill. 1926 und 81 Mill. 1928).

Aus der Diskrepanz zwischen den beiden Zahlenreihen geht hervor, dass die russische Bauernschaft, die unter dem Zarismus das Opfer einer chronischen Unterernährung gewesen war, aus der Oktoberrevolution den Vorteil zog, sich besser ernähren zu können. Insofern schwindet im Laufe der ganzen NEP die Gefahr einer bäuerlichen Kon­terrevolution, die 1921 über dem Land schwebte, und in dieser Beziehung festigt sich die Sowjetmacht. Die Sowjetmacht war jedoch eine demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft; das impliziert auch, dass die Verbesserung (und sei es die unmittelbare und auch nur fühlbare Verbesserung) der materiellen Lebensbedingungen des Proletariats nicht zu weit hinter der sich auf dem Lande bei der Bauernschaft manifestierenden herhinken durfte. Solange sich keine normaleren ökonomischen Verhältnisse als die durch die beiden obigen Zahlenreihen attestierten wiederherstellen ließen, konnte keine auch noch so große Festigung der Sowjetmacht darüber hinweghelfen, dass sie auf einem gestörten Gleichgewicht, auf einem Missverhältnis zulasten der städtischen Arbeiterklasse beruhte, was ihren proletarischen Charakter und die effektive Vorherrschaft des Proletariats in der gemeinsamen Diktatur langfristig gesehen in Frage stellte, selbst wenn sich dieser Charakter und diese Vorherrschaft selbstverständlich nicht auf eine Frage des relativen Kalorienverbrauchs jeweils durch Arbeiter und Bauern reduzieren lassen, sondern im Gegenteil von unvergleichlich komplexeren und höheren Fragen abhängig sind, wie die Orientierung des Staates im internationalen Klassenkampf und die Unterordnung seiner unmittelbaren Außen-, aber auch Innenpolitik unter die sozialistischen Endziele.

So unbedeutend diese zwei Tabellen auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, so liefern sie doch eine vollständige Widerlegung der opportunistischen Idealisierung der »sowjetischen Demokratie« und legen den latenten Antagonismus zwischen den beiden vorübergehend verbündeten Klassen offen zu Tage, einen Antagonismus, der selbst auf der bescheidenen Ebene der Tagesinteressen bestand, ganz zu schweigen von der Ebene der geschichtlichen Zielsetzung. Andererseits wirft die Frage ihrer Interpretation zugleich alle wesentlichen Probleme der »Übergangsperiode« auf, also jene Probleme, die die NEP infolge der industriellen Misere des Landes und der imperialistischen Wirtschaftsblockade gegen die UdSSR nicht lösen konnte, und die objektiv zum Scheitern der kommunistischen und proletarischen Diktatur führten. Fragt man sich, warum eigentlich trotz Erhörung der Produktion die für die Arbeiterklasse verfügbare Getreidemenge zurückging und die Arbeitermacht in eine gefährliche Lage versetzte, so wird man auf drei Ursachen stoßen, deren relative Bedeutung infolge unausreichender statistischer Angaben nur schwer zu ermitteln ist: 1. die Verteilung des Bodens, d.h. die demokratische Agrarrevolution führte zu einer Verbreitung der kleinbäuerlichen Wirtschaft, die sich in relativ großem Umfang auf den Selbstbedarf ausrichtete und einen nur spärlichen ökonomischen Überschuss produzierte; 2. das Fortbestehen eines kapitalistischen Sektors in der Landwirtschaft, der einen solchen Überschuss zwar produzieren konnte, dies jedoch nur unter günstigen Marktbedingungen tat; 3. die Sowjetmacht musste trotz der Unterernährung der Arbeiterklasse zwangsläufig einen Teil der landwirtschaftlichen Produktion ausführen, denn dies war unter den gegebenen Bedingungen des in der ganzen Welt nach wie vor herrschenden kapitalistischen Austausches das einzige Mittel, um die unerlässlichen Produktionsmittel zu beschaffen (und sei es nur, um die Industrie wieder in Gang zu setzen). Aber damit kommt man anhand eines einfachen und konkreten Beispiels, das wohl jedem zugänglich sein wird, auf den dreifachen Druck, den 1. die gesamte ländliche Kleinbourgeoisie, 2. der erwachende Restbestand einer agrarischen Kapitalistenklasse (des Kulakentums) und 3. last but not least die imperialistische Großbourgeoisie der ganzen Welt auf die russische Arbeiterklasse, ihre Partei und ihre Macht ausübten. Wir kennen leider nicht die absoluten Getreidemengen, die das Proletariat im Laufe dieser furchtbaren Hungerjahre aus dem Mund nehmen musste, um die wenigen Maschinen zu bezahlen, die es importieren konnte; dennoch verdeutlicht eine einfache Gegenüberstellung der Abnahme des Getreideumsatzes einerseits und der Zunahme des Getreideexports andererseits (Bedingung für eine Zunahme des so unentbehrlichen Imports von Industrieerzeugnissen) mehr als genug, in welche schreckliche Widersprüche die Isolierung der Revolution das sowjetische Proletariat und seine Partei unentrinnbar verstrickte. Die Zunahme der Exporte hat die NEP nicht überdauert, sie hörte 1930-31 abrupt auf. Wir müssen allerdings sofort hinzufügen, dass die dann beginnende Abnahme, die den autarkischen Bestrebungen der Epoche des »Sozialismus in einem Lande« entsprach, keineswegs eine Erleichterung der Wirtschaftslage der Arbeiter mit sich brachte, ganz im Gegenteil, bedeutet sie ja übrigens die logische Folge der politischen Konterrevolution innerhalb des sowjetischen Lagers. Für die Periode, die uns im Augenblick beschäftigt, laufen die Zahlen gemäß der sowjetischen Enyklopädie in Millionen Rubeln zum Kurs vom 1. Januar 1961:

 

  Exporte  Importe
1913 1.192 1.078
1924 264 204
1925 477 648
1928 630 747

 

Die Progression des Exports wird durch die Getreideproduktion selbst begrenzt, welche sich ab 1926 um einen Durchschnitt von 730 Mill. Zentr. einpegelt. Dadurch wird nicht nur die Versorgung der Städte beeinträchtigt, sondern die Industrieentwicklung überhaupt, die ja im Rahmen der NEP und in Entbehrung von ausländischem Kapital im Wesentlichen vom Austausch des russischen Getreides gegen ausländische Maschinen abhängt (6). Soweit man im Rahmen der NEP bleibt, liegt die Schlüsselfrage also in der Erhöhung der land­wirtschaftlichen Produktion. Im Vergleich zur Vorkriegszeit besteht in der Tat nach wie vor ein Defizit von über 40 Mill. Zentnern, während die Bevölkerung andererseits zwischen 1918 und 1926 um 10 Millionen zunahm und weiterhin um 3 Mill. Einwohner zunimmt. Die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion und darüber hinaus die der verfügbaren Getreidemenge (die von der Produktion abhängig ist, jedoch, wie wir gesehen haben, nicht mit ihr identisch ist) stellt nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale Frage dar: Die Erhöhung der Produktivität setzt selbstverständlich eine technische Revolution voraus, die ihrerseits eine Entwicklung der industriellen Produktion, genauer gesagt eine massive Produktion von Landwirtschaftsmaschinen und Düngemitteln voraussetzt; aber einerseits wird gerade diese industrielle Entwicklung durch die niedrige Agrarproduktion beschränkt, während die rationelle Nutzung der hypothetischen neuen Produktionsmittel andererseits doch die Überwindung des Parzellenwesens auf dem Lande voraussetzt; der kulakische Großbetrieb ist einerseits natürlich der kleinen Familienparzelle überlegen, sei es in langer Sicht, weil er spätere technische Fortschritte nutzen kann, sei es aktuell infolge seiner höheren Produktivität, doch andererseits äußert sich dieser Vorteil nicht direkt auf der Ebene der gesellschaftlichen Verfügbarkeit über Getreide, weil es sich um eine Privatproduktion handelt, deren Ausdehnung und Kontraktion nicht in einem direkten und ausschließlichen Zusammenhang mit den technischen und naturgegebenen Möglichkeiten stehen, sondern von der Marktlage bestimmt werden und sich demzufolge dem Willen und der Reglementierung durch die revolutionäre Macht weitestgehend entziehen. Das ganze Geheimnis der Konterrevolution, die sich in Sowjetrussland noch vor dem Abschluss der NEP ereignete, muss also in der gesellschaftlichen Struktur der russischen Landwirtschaft gesucht werden, selbst wenn es in Ermangelung von statistischem Material leider sehr schwierig ist, ein lückenloses Bild dieser Struktur zu rekonstruieren. Wenn man von der Rede des Stalinisten Molotow auf dem XV. Parteitag ausgehen kann (es handelt sich um den Parteitag vom Dezember 1927, auf dem die Vereinte Opposition von Trotzki, Sinowjew und Kamenew zerschlage wurde), so ist anzunehmen, dass die in kleinen Familienparzellen bewirtschaftete Gesamtfläche, die vor der Revolution 60 Mill. Hektar betragen hatte, sich infolge der Verteilung des gutsherrlichen Besitzes und der Kirchen- und Staatsdomänen auf 100 Mill. Hektar erhöhte, denen man noch 40 Mill. Hektar, die vor 1917 »brachgelegen« hatten und für den Ackerbau erschlossen wurden, hinzufügen musste sowie weitere 36 Mill. Hektar, wenn es stimmt, dass den reichen Bauern vor dem Oktober 40 Mill. Hektar und 1927 nur noch 4 Mill. Hektar gehörten und die Differenz an die armen und mittleren Bauern ging. Derselben Rede zufolge soll es am Ende der NEP nicht weniger als 24 Mill. kleine Bauernhöfe gegeben haben, wovon 8 Mill. so klein gewesen sein sollen, dass »selbst die Anwendung eines Pferdes zu kostspielig wäre« - solche Höfe haben demzufolge keinen Überschuss liefern können, und es ist fraglich, ob sie ihre Besitzer überhaupt ernähren konnten.

So befanden sich fast 98% des Bodens in den Händen des Surplus armen Kleinbetriebs, während der Rest, der über 50% der lieferbaren Produktion stellte (7), sich in den Händen einer Kapitalistenklasse befand, die auf jeden Fall keinerlei Interesse am Erfolg der NEP hatte und, wenn sie auch in keiner »prinzipiellen Opposition« zur Sowjetmacht stand, nichtsdestotrotz nur dann produzierte bzw. die Ernte auf den Markt brachte, wenn es ihren Interessen passte; sie war durchaus in der Lage, ihre Überschüsse bei ihr schlecht erscheinenden Preisen zurückzuhalten, um damit einen Preisauftrieb zu verursachen.

Angesichts dieser Lage in der Landwirtschaft »hing alles von der Industrialisierung ab«; berücksichtigt man jedoch den vorgegebenen Rahmen des Austausches zwischen Stadt und Land sowie das äußerst niedrige Niveau, auf das die Produktivkräfte gefallen waren, so konnte die Schwäche der Landwirtschaft die industrielle Entwicklung nur hemmen, denn die Landwirtschaft konnte der Industrie weder Kapitalisten, noch Absatzmarkt, noch Lebensmittelüberschüsse für eine wachsende Arbeiterklasse liefern. Auf einer Stufe, die im Vergleich zu der sozialistischen Umgestaltung sehr niedrig war, stellte die industrielle Entwicklung dennoch Probleme, die im Rahmen des Wirtschaftsliberalismus der NEP unlösbar waren. Um den Preis einer äußersten Anstrengung aller Kräfte scheint die Industrieproduktion 1926 die Höhe des Jahres 1913 wieder erreicht zu haben; gewisse Industriezweige sollen diese Höhe 1927-28 sogar überstiegen haben. Es ist kein Zufall, wenn die Krise zu diesem Zeitpunkt ausbricht, wenn sich zu diesem Zeitpunkt die »grolle Wende« ereignet, die mit der »Entkulakisierung« und der Zwangseingliederung der kleinen und mittleren Bauern in die Kolchosgenossenschaften einerseits und der Industrialisierung im Eiltempo andererseits die eigentliche »Stalin’sche« Ära unter dem absurden und betrü­gerischen Banner des »Sozialismus in einem Land« eröffnen wird. Und wenn diese Wende zwar einem Determinismus gehorchte, der unabhängig von den »Ideen« der Führer war und in den realen ökonomischen Verhältnissen beruhte, so wurde sie jedoch auch durch die politische Konterrevolution von 1926-27 bedingt.

 

 

Die Wirtschaftsdebatte und der Prinzipienkampf in der bolschewistischen Partei von 1923 bis 1928

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Die explosiven Widersprüche der russischen Wirtschaft und Gesellschaft, die unter der kriminellen Wirtschaftsblockade durch die Weltbourgeoisie litt, mussten sich zwangsläufig innerhalb der Partei, in ihrem inneren Leben äußern. Jeder Wirtschaftskrise entspricht eine Parteikrise, zunächst 1923, dann 1925 und 1927-28. Der Kampf war immer sehr heftig, und es ist nicht immer einfach, die Divergenzen, die auf Prinzipienfragen beruhten, von denjenigen zu unterscheiden, die eine nur zweitrangige Bedeutung hatten. Bis 1928 scheint sich der Kampf auf eine liberale Rechte, deren Theoretiker Bucharin war, und eine dirigistische Linke, deren Theoretiker Trotzki und Preobraschenski waren, zu begrenzen, zwischen denen ein von Stalin repräsentiertes Zentrum laviert. Seit 1925 bekämpfen sich Rechte und Linke allerdings nicht mehr nur wegen Fragen der praktischen Wirtschaftspolitik, sondern auch wegen einer Prinzipienfrage, nämlich ob es möglich sei, den Sozialismus in einem Land aufzubauen; von dieser Frage hängt in der Tat die ganze Orientierung der Partei und damit des russischen Staates im Hinblick auf den internationalen Klassenkampf ab und ebenso die ganze Orientierung der Kommunistischen Internationale selbst, in der die russische Partei den vorwiegenden Einfluss hat. Da sich die liberale Rechte im Lager der Anhänger des »Sozialismus in einem Lande« befand, während die dirigistische Linke die Positionen des Internationalismus vertrat, konnte es bis 1928 scheinen, dass dieselbe Klassengrenze, die Nationalkommunismus und Internationalismus trennte, auch zwischen dem Dirigismus von Trotzki-Preobraschenski und dem Liberalismus Bucharins verlief. Die russischen Militanten waren von dieser falschen Überzeugung so eingenommen, bzw. die Linke glaubte so fest daran, im Bucharin’schen Liberalismus die Hauptgefahr und den Inbegriff des antiproletarischen Opportunismus erkannt zu haben, dass, als Stalin 1928 seine »Linkswende« in der Frage der praktischen ökonomischen Politik vollzog (ohne deshalb auf prinzipieller Ebene auch nur im geringsten von seinem Nationalkommunismus abzuweichen), der größte Teil der Militanten der Vereinigten linken Opposition den Augenblick für gekommen sah, sich den Stalinisten anzuschließen - als erster gar Preobraschenski, dessen Programm Stalin im Grunde durchführen wird. Zur Ehre Trotzkis muss man festhalten, dass er nicht kapitulierte.

Die Krise von 1923 war im Gegensatz zur späteren Krise von 1928 eine »Wachstumskrise«. Eine Wiederbelebung der Städte war durchaus festzustellen, und die Industrieproduktion, obwohl sie kaum 40% ihres Umfanges von 1913 überstieg, hatte immerhin 46% gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Der Anteil der Staatsindustrie an dieser Erhöhung lag weit zurück hinter dem des Handwerks und der Privatbetriebe, die in der Leichtindustrie vorherrschten; diese Privatbetriebe hatte der Arbeiterstaat, der nicht in der Lage war, alles zu verwalten, was er nationalisiert hatte, Privatleuten in Pacht gegeben. Aus diesen Wachstumszahlen ergab sich, dass die Schwerindustrie im Rückstand lag; die Betriebe der Schwerindustrie waren in Staatshänden geblieben und traten auf dem Rohstoff-, Arbeits- und allgemeinen Warenmarkt als selbständige Betriebe mit eigener Bilanz und Gewinnmarge auf, d.h. sie waren als kapitalistische Betriebe organisiert; der Unterschied zum Privatsektor bestand darin, dass ihr Profit dem Arbeiterstaat zufloss, der somit über ökonomische Ressourcen verfügte, die er mindestens theoretisch für Klassenzwecke verwenden konnte; das erklärt auch, warum die Bolschewiki diese Betriebe trotz ihrer ökonomischen Merkmale als »sozialistisch« bezeichneten. Trotz dieser missverständlichen Terminologie der russischen Kommunisten soll die Stärkung der privaten Pacht­industrie nicht als eine Stärkung des Kapitalismus im Vergleich zu einem nicht vorhandenen Sozialismus betrachtet werden: Sie bedeutete dennoch eine Gefahr, denn dadurch erweiterte sich ein unkontrollierbarer Wirtschaftssektor gegenüber dem einzigen Sektor, der eine gewisse Kontrolle erlaubte.

Durch die Erhöhung der Industriepreise wurden jedoch privater wie staatlicher Sektor mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre allgemeinen Kosten zu senken. Das führte zur Schließung wenig rentabler Betriebe zum Zweck einer Reorganisierung sowie zu einer Stagnation der Löhne. Die Arbeitslosenzahl stieg von 500.000 Ende 1922 auf 1.250.000 im Sommer 1923, während »rote Industrielle« und Kader der Staatsindustrie einen Druck auf die Arbeiter ausübten, um eine Erhöhung ihrer Produktionsanstrengungen zu erreichen, was zu einer Beunruhigung der Gewerkschaften führte. Wenn man die Kurve der Agrarpreise, die auf durchschnittlich 50% ihrer Vorkriegshöhe stagnierten, mit den Industriepreisen vergleicht, die 180 bis 190% der Vorkriegshöhe erreichten, hat man das, was Trotzki auf dem XII. Parteikongress als »Scherenkrise« anprangerte; dieses Auseinanderklaffen stellte eine direkte Gefahr für die Entwicklung der Landwirtschaft dar. In dem Maße, in dem der Bauer dadurch eines Teiles des Produkts seiner Arbeit beraubt wurde, bedrohte es auch das politische Bündnis von Arbeiterklasse und Bauernschaft. Um beide »Scherenhälften« zu schließen schlug Trotzki vor, die NEP einer Korrektur zu unterziehen durch eine Unterstützung der Industrie und die Ausarbeitung eines Wirtschaftsplans zur Förderung der Wiederbelebung der Schwerindustrie. Die Mehrheit des Zentralkomitees beschloss im Gegenteil die unveränderte Fortsetzung der NEP im Sinne des Interessenausgleichs mit der Bauernschaft, wofür einerseits die Steuerlast der Bauernschaft verringert und andererseits eine Senkung der Industriepreise befohlen wurden; für eine bessere Ausrüstung der Industrie wurde lediglich ein Exportzuwachs vorgesehen, während die Entwicklung der Schwerindustrie auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurde (8).

In Wirklichkeit gab es auf dem XII. Kongress noch keinen Konflikt über die Wirtschaftsfrage innerhalb der bolschewistischen Partei, und es ist auch nicht die beschlossene Aufrechterhaltung des Status quo im Hinblick auf diese Frage, was Trotzki in die Opposition führen wird. Hier ging es um die viel wesentlichere Frage einer drohenden Entartung der Partei, die seit Februar 1923 sowohl von Bucharin, der später in Wirtschaftssachen »rechts« stehen wird, als auch von Preobraschenski und vielen anderen, die in dieser Beziehung als »links« betrachtet werden, angeprangert wurde - genau wie Lenin es vor seiner Krankheit getan hatte. Diese Front von 1923 war nicht zufällig: Alles gesunde und lebendige was es in der Partei gab, richtete sich gegen den von Stalin und seinen Methoden dargestellten Fremdkörper auf, mit welchem sich alte Genossen Lenins wie Sinowjew und Kamenew zu ihrem Unglück leider verbündeten. Wie die inneren Kämpfe zwischen »Rechten« und »Linken« in der Folge auch ausfallen mögen, welchen Eindruck das persönliche Scheitern der Militanten bei der großen Wende von 1928 auch hervorrufen mag, so darf man nicht vergessen, dass man im leider ergebnislosen Versuch eines Bündnisses von Bucharin und Trotzki zur Zeit der »Liquidierung der NEP« dieselbe Einreihung der marxistischen Partei gegen den stalinistischen Nationalkommunismus wieder finden wird.

Trotzki geht im Oktober 1923 in die Opposition (9) und schreibt seit dem bis Dezember den berühmten »Neuen Kurs«; diese Schrift widmet sich zwar nicht direkt der Wirtschaftspolitik, sie enthält aber die Positionen, die Preobraschenski in Abwesenheit von Trotzki im Namen der Opposition auf der XIII. Konferenz (Januar 1924) vertreten wird; die Stalinisten (10) und Kamenew setzen sich mit Preobraschenski auseinander, wobei es offensichtlich ist, dass ihre Motivation nicht in der ökonomischen Frage liegt. Trotzki ahnte wahrscheinlich bereits, welches Ausmaß die gegen ihn entfesselte demagogische Kampagne annehmen würde, und so zeigt er im »Neuen Kurs« zunächst, dass er als erster den Vorschlag unterbreitete, »auf dem Land zur Neuen ökonomischen Politik« überzugehen und dass dieser damalige Vorschlag mit einem anderen zusammenhing, »der sich auf die Neuorganisation der Industrie bezog und weit ungenauer und vorsichtiger war, sich aber im Wesentlichen gegen das zentralistische Regime richtete (11), das sämtliche Verbindungen zwischen der Industrie und der Landwirtschaft zerstörte«. Es handelt sich also weder darum, »die Bauernschaft zu unterschätzen«, noch darum, der Industrie eine Rückkehr zum Kriegskommunismus aufzuzwingen: »Die wichtigste ökonomische Aufgabe besteht heute darin, eine wechselseitige Beziehung zwischen der Industrie und der Landwirtschaft herzustellen - und wenn möglich auch innerhalb der Industrie selbst - die es der Industrie gestattet, sich mit möglichst wenig Krisen, Stößen und Erschütterungen zu entwickeln, und die der Staatsindustrie und dem staatlichen Handel ein Übergewicht über das Privatkapital gibt (...) Welche Methoden muss man anwenden, um die nötige Wechselbeziehung zwischen Stadt und Land, zwischen dem Transportwesen, dem Finanzwesen und der Industrie, zwischen der Industrie und dem Handel herzustellen? Welche Behörden sollen diese Methoden anwenden? Welche sind schließlich die konkreten statistischen Daten, nach denen man jeweils die vernünftigsten wirtschaftlichen Pläne und Berechnungen erstellen kann? Alle diese Fragen lassen sich offensichtlich nicht durch irgendeine allgemeine politische Formel im Voraus lösen (...) Sind das prinzipielle, programmatische Fragen? Nein, denn weder das Programm noch die theoretische Tradition der Partei haben uns in dieser Beziehung gebunden; und sie konnten das auch gar nicht tun, da die notwendige Erfahrung und ihre Verallgemeinerung fehlten. Ist die praktische Bedeutung dieser Fragen groß? Unermesslich. Von ihrer richtigen Lösung hängt das Schicksal der Revolution ab. (...) Das Geschwätz über die Unterschätzung der Bauernschaft muss aufhören. Notwendig ist jetzt die Preissenkung der für die Bauern bestimmten Waren.«

»Der Neue Kurs« ist Bestandteil des energischen Kampfes von Trotzki in Verteidigung der Partei. In dem Zusammenhang, mit dem wir uns hier beschäftigen, ist es jedoch von Bedeutung, von prinzipieller Bedeutung, dass Trotzki hier erkennt, dass man sich bei der Bestimmung der Wirtschaftspolitik auf keine Prinzipien stützen konnte, sowie dass alle diesbezüglichen Fragen nicht die sozialistische Umgestaltung der russischen Wirtschaft und Gesellschaft betrafen, sondern die Bedingungen für die Erhaltung der Sowjetmacht. Durch seinen Kampf gegen die Bucharin’sche Rechte bedingt, wird Trotzki später diese zwei Punkte leider vergessen. Was die Industrialisierung angeht, so zeigt Trotzki im »Neuen Kurs«, dass »die Behauptung vollkommen unsinnig ist, die Frage beschränke sich auf das Entwicklungstempo und werde fast schon durch das »Temperament« entschieden. Tatsächlich geht es um die Richtung der Entwicklung.« Und in dieser Beziehung stellt er sehr maßvolle Forderungen: Mit den Improvisationen aufhören; sich bemühen, für die Staatsindustrie einen Wirtschaftsplan auszuarbeiten, der den materiellen Voraussetzungen und Ressourcen entspricht, wobei zu berücksichtigen ist, dass »man den bäuerlichen Markt nicht im Voraus genau berechnen kann und auch den Weltmarkt nicht«, und dass allein schon wegen der unterschiedlichen Ernten »Einschätzungsfehler unvermeidlich sind«; man soll sich nicht einbilden, dass die verschiedenen Staatsindustrien und das Transportwesen zu Beginn des dritten Jahres der NEP Gewinn bringen (12), sondern vielmehr versuchen, durch eine Rationalisierung der Staatsindustrie die Verluste im Vergleich zum zweiten NEP-Jahr zu verringern; kurz, man sollte handeln, um die Gefahr einer Verschmelzung der anarchischen Bauernwirtschaft mit dem Privatkapital zu bannen: Des Privatkapital »macht noch einmal die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation zuerst auf dem Gebiet des Handels und dann in der Industrie« und neigt dazu, sich zwischen den Arbeiterstaat und der Bauernschaft zu schieben, einen zunächst ökonomischen und dann politischen Einfluss über die Bauernschaft zu gewinnen, worin man eine ernste Warnung vor der Gefahr eines Sieges der Konterrevolution erblicken müsste. So groß die Bedeutung ist, die Trotzki »einer richtigen Organisierung der Arbeit durch unsere Planungskommission (Gosplan)« für die »Lösung der Probleme des Bündnisses von Stadt und Land - und zwar nicht durch die Aufhebung des Marktes, sondern auf seiner Grundlage« beimisst, so ausdrücklich erklärt er auch, »dass die Frage in keiner Weise durch die Existenz von Gosplan erschöpft ist«, bzw. dass es »Dutzende von Faktoren und Voraussetzungen gibt, von denen der Gang der Industrie und der gesamten Wirtschaft abhängt«. Aber, schreibt Trotzki, »eine richtige Berechnung dieser Faktoren und Voraussetzungen und eine entsprechende Organisierung all unserer Aktivitäten kann nur durch das Vorhandensein eines starken (...) Gosplan verwirklicht werden«. Abschließend erklärt er, dass die Partei den Aufbau der Landwirtschaft weniger direkt durch direkte Intervention des Staates, als vielmehr indirekt, durch den Aufbau der Industrie beeinflussen kann: »Der Arbeiterstaat muss dem Bauern sowohl mit landwirtschaftlichen Krediten (soweit die Mittel reichen!) zu Hilfe kommen, als auch durch eine agronomische Hilfe, die es den Produkten der Landwirtschaft, wie Weizen, Butter und Fleisch erleichtert, auf den Weltmarkt zu gelangen. Die Beeinflussung der Landwirtschaft wird allerdings großenteils durch die Industrie erleichtert (...) Man muss dem Dorf erschwingliche Landwirtschaftsmaschinen und Geräte zur Verfügung stellen, man muss ihm Kunstdünger geben, man muss ihm billige Gebrauchsgegenstände für den bäuerlichen Haushalt geben. Andererseits, um den landwirtschaftlichen Kredit zu organisieren und zu entwickeln, benötigt der Staat bedeutende Umlaufmittel. Zu diesem Zweck muss man erreichen, dass die staatliche Industrie rentabel wird, was seinerseits wieder unmöglich ist ohne eine richtige Übereinstimmung ihrer Bestandteile.« Wie Lenin, so verbindet auch Trotzki seine vorsichtigen ökonomischen Überlegungen immer wieder mit der internationalen Frage: »Wenn die konterrevolutionäre Gefahr (...) aus bestimmten sozialen Beziehungen erwächst, schließt das keineswegs aus, dass man diese Gefahr durch eine bewusst geplante Politik - auch unter Voraussetzungen, die für die Revolution ungünstig sind - vermindern, verzögern und hinausschieben kann. Eine derartige Verzögerung kann aber ihrerseits die Revolution retten (...), indem sie entweder im Land eine günstige ökonomische Wendung bringt, oder ein Bündnis mit der siegreichen Revolution in Europa.« Es gibt allerdings einen schwachen Punkt in der Position Trotzkis, einen einzigen. Er stellt fest, dass die »Kulaken, Zwischenhändler, Aufkäufer, Pächter« durchaus in der Lage sind, den Staatsapparat unter ihren Einfluss zu bringen, den proletarischen Charakter des Staates zu bedrohen; nun scheint Trotzki zu glauben, dass durch die Wiederbelebung der Staatsindustrie (die aber schließlich auf kapitalistischer Basis betrieben wird) günstige Voraussetzungen entstehen werden, damit die Partei im Kampf um den Staatsapparat gegen all diese bürgerlichen Schichten erfolgreich führen kann, bzw. damit sie die Erfolge der Staatsindustrie zu einem Anziehungspol für neue proletarische Kräfte machen kann, um durch diesen Kräftezuschuss den bedrohten proletarischen Charakter des Staates zu retten. Wenn er die Frage der Konterevolution stellt, so ist es immer die Frage, »auf welchen politischen Wegen der Sieg der Konterrevolution eintreten konnte«, wenn sich die Hypothese eines ökonomischen Sieges des Privatkapitalismus über den Staatskapitalismus erfüllen sollte. Dann würde es mehrere Möglichkeiten geben: »Entweder einfach der Sturz der Arbeiterpartei; oder ihre allmähliche Degeneration, oder schließlich die Verbindung ihrer teilweisen Degeneration mit Spaltungen und konterrevolutionären Umwälzungen.« Trotzki erwähnt zwar ausdrücklich die Gefahren, die aus einer Verschmelzung des Partei- und des Staatsapparates, bzw. aus der Einführung von Verwaltungsmethoden in die Partei, deren inneres Leben dadurch ernsthaft beeinträchtigt wird, resultieren; er warnt zwar ausdrücklich davor (»Gerade diese Gefahr ist heute am ausgeprägtesten, direktesten und deutlichsten. Der Kampf gegen die übrigen Gefahren muss unter den heutigen Voraussetzungen mit dem Kampf gegen den Bürokratismus beginnen«) doch scheint er völlig zu übersehen, dass die Entwicklung der Staatsindustrie diese Gefahr nicht verringern, sondern vermehren würde; er folgert im Gegenteil, dass »der Kampf gegen den Bürokratismus des Staatsapparates eine außerordentlich wichtige, aber langwierige Aufgabe ist, die mehr oder weniger mit anderen wesentlichen Aufgaben gleichzeitig in Angriff genommen werden muss; zu diesen Aufgaben zählen der wirtschaftliche Aufbau und die Hebung des kulturellen Niveaus der Massen.« So groß der Mut des Militanten ist, der die Schwierigkeiten nur aufzeigt und vor den Gefahren nur warnt, um sie besser bekämpfen zu können, so schmerzlich geht doch der unlösbare Charakter der Widersprüche, in denen die russische Revolution infolge des Rückzugs des europäischen Proletariats gefangen war, aus dem ganzen Text hervor.

Auf der XIII. Konferenz im Januar 1924 verfocht die Linke, durch Preobraschenski vertreten, diese Wirtschaftsplattform und forderte vor allem eine Gesundung des innerparteilichen Lebens; sie erlitt eine totale Niederlage (13). Wirklicher Gegenstand der Debatten war in der Tat keineswegs die Frage der Wirtschaftspolitik; dazu äußerten sich die Stalinisten nur, um mit billiger Ironie vor den »Bürokratisierungsgefahren« zu warnen, die der von Trotzki geforderte Wirtschaftsplan für die UdSSR bedeuten würde (!). Die Parteifrage stand im Mittelpunkt, und mit ihr befasste sich auch das Hauptreferat, das von Stalin gehalten wurde. Darin wurde der Opposition vorgeworfen, »den Schwerpunkt des Kampfes gegen die Bürokratie vom Staat in die Partei selbst verlagert« und die Losung der »Zerstörung des Parteiapparates« gegeben zu haben; die Opposition wird als Vertreterin einer »Preisgabe des Leninismus, die objektiv den Druck der Kleinbourgeoisie widerspiegelt« verurteilt. Es ging also nicht um einen Kampf zwischen zwei Parteiflügeln, die eine jeweils verschiedene Wirtschaftspolitik vertreten; es ging im Gegenteil lediglich um die Mobilisierung von zwielichtigen Kräften (die übrigens sehr bald ihre wahre Natur verraten sollten), nicht um Prinzipien, sondern gegen bestimmte Personen (Trotzki an erster Stelle), wobei sich die Führungsfraktion keineswegs durch die Überzeugungskraft ihrer Argumente behauptete, sondern durch Repressionsdrohungen und die völlig leere Beschwörung des Namens von Lenin, aus dessen krankheitsbedingter Abwesenheit allein die Stalinisten den Mut schöpften, die Parteitraditionen in einer solchen Form zu schlagen und zu zerstören.

Der Sieg der Gegner der Linken von 1923 konnte selbstverständlich nicht verhindern, dass die objektiven Widersprüche der NEP ausbrächen; diese hatten sich keineswegs gemildert, sondern im Gegenteil infolge der ökonomischen Entwicklung verschärft. So stellte 1925 eine neue Krise alle Fragen des Jahres 1923 wieder auf die Tagesordnung und führte zu einer erneuten Wirtschaftsdebatte innerhalb der Partei. Diese Debatte wurde umso heftiger, als sie nicht mehr allein die Fragen der praktischen Wirtschaftspolitik betraf, sondern eine viel höhere prinzipielle und programmatische Frage, eine Frage, von der die Zukunft der Sowjetmacht als proletarische Macht, ihre Beziehungen zu dem internationalen proletarischen Kampf und die Richtung ihres Einflusses auf die Kommunistische Internationale abhingen. Es handelte sich in der Tat um zwei Auseinandersetzungen verschiedener Natur, die sich jedoch zwangsläufig miteinander verstrickten. Eine Auseinandersetzung betraf die Frage der Industrialisierung und der Beziehungen zur russischen Bauernschaft und stellte eine Linke und eine Rechte einander gegenüber; die andere, die ominöse Frage des Sozialismus in einem Land, polarisierte auf der einen Seite die Linke, auf der anderen eine täuschende Koalition der Rechten und eines Zentrums, dessen wirkliche Natur und wahre Bedeutung allen Akteuren des Dramas erst zu spät klar wurden. Heute, vierzig Jahre später, müssen wir jedoch beide Debatten sorgfältig auseinanderhalten und vor allem die ganze Auseinandersetzung von den Vorurteilen freimachen, die die damaligen Militanten hegten und die die Geschichte zerstört hat.

Von 1923 bis 1925 hatte sich die industrielle und landwirtschaftliche Produktion wiederbelebt, das Transportwesen war reorganisiert worden, Austausch und Mandel hatten sich verstärkt. Das Kernproblem der NEP, nämlich die Beziehungen zwischen proletarischer Macht und Bauernschaft, stellte sich jedoch wieder: Eine Bauernrebellion griff seit dem Sommer 1924 in Georgien um sich, und 1925 gingen die Getreidelieferungen wieder zurück (und zwar in einem solchen Umfang, dass es eine Versorgungskrise in den Städten gab und die Staatsindustrie gezwungen wurde, ihre Importaufträge, die man ja mit den Erlösen des Agrarexports bezahlen wollte, zu streichen). Auf die Dauer gab sich die Bauernschaft mit den bereits gemachten Konzessionen, wie Abschaffung des Kriegskommunismus und Wiedereinführung der Freiheit des Handels, nicht zufrieden. Sie übte Druck auf den Staat aus, um eine Steuersenkung und eine Erhöhung der Agrarpreise durchzusetzen, was die kommunistische Macht bis dahin nicht hatte bewilligen wollen, und zwar einerseits aus Sorge um die Industrialisierung, andererseits um den Lebensstandard der Industriearbeiter zu schützen, der nach wie vor unter dem von 1913 lag. Noch gravierender war allerdings die Forderung der »reichen Bauern« (14); sie wollten eine Aufhebung der Gesetze, die die Beschäftigung von Lohnarbeitern in der Landwirtschaft und die Verpachtung von Land verboten, bzw. im allgemeinen eine Streichung aller Maßnahmen, die die wohlhabenden Bauern trafen, wie höhere Steuer, Ausschluss vom Wahlrecht usw., weswegen die mittleren Bauern aus Furcht, in diese höhere Kategorie eingestuft zu werden, davon absahen, ihre Höfe auch nur geringfügig zu verbessern.

Die erste Reaktion der Partei auf diese Situation waren die Beschlüsse der XIV. Konferenz vom April 1925; alle waren damit einverstanden, im Rahmen der NEP einen weiteren Rückzug zu machen (Verringerung der Bodenertragssteuer, Erleichterung der Restriktionen hinsichtlich der Beschäftigung von Lohnarbeitern und der Verpachtung, kurzum hinsichtlich der Entwicklung eines Privatkapitals auf dem Lande (15)).

Erst hinterher - und angesichts der Folgen und Begleiterscheinungen dieses Rückzuges - ereignete sich der Bruch im Lager der gestern noch Verbündeten Gegner der Linken von 1923, welche sich in eine Rechte (Bucharin, Tomsky, Rykov), eine neue Linke (Sinowjew, Kamenew und die gesamte Leningrader Sektion der Partei) und ein Zentrum (Stalin, Molotow, Kalinin) spalteten. Man kann jedoch die wahre Bedeutung dieser Gegensätze nur verstehen, wenn man sie auf die früheren Parteipositionen gegenüber der Bauernschaft bezieht. In der Phase des Bürgerkrieges war die militärische und politische Frage wichtiger als die ökonomische gewesen, und die Partei hatte sich demzufolge auf die natürlichen Verbündete des Fabrikproletariats, auf die Dorfarmut, die Reservelosen gestützt, deren Komitees eine wichtige Rolle bei der Errichtung der Roten Armee gespielt hatten. Der Übergang zur NEP hatte Lenin dazu verleitet, den Akzent auf den mittleren Bauern zu verschieben, dessen Wirtschaft etwas weniger armselig als die des armen Bauern war, der aber andererseits im Gegensatz zum reichen Bauer kein Ausbeuter fremder Arbeitskraft und kein Spekulant war und somit der proletarischen Macht nicht a priori feindselig gegenüberstand. Es war daher nur allzu natürlich, dass Lenin in einer Periode des wirtschaftlichen Wiederaufbaus seine genaue Charakterisierung der kleinbürgerlichen Natur und der kleinbürgerlichen Mängel des mittleren Bauern mit dessen »beeindruckender Verteidigung« verband, um der Partei klarzumachen, dass die Versorgung der Städte gänzlich von dieser Gesellschaftsschicht abhing.

Es ging noch ganz und gar nicht um die Frage, auf den Kampf gegen die Kulaken als Wucherer, Spekulanten und darüber hinaus virtuelle Anhänger einer Restauration des Regimes der Konstituante, zu verzichten. Höchstens infolge seiner Eigenschaft als Produzent unentbehrlicher Lebensmittel verdiente der Kulake Lenin zufolge eine weniger harte Behandlung als die, die der städtischen Bourgeoisie zuteil geworden war.

1925, nach vier Jahren Toleranz gegenüber dem mittleren Bauern und Einschränkung der Kulakenwirtschaft, wurde das Modell überhaupt in Frage gestellt, und zwar nicht durch eine Strömung, sondern durch die Tatsachen selbst, denn der »genossenschaftliche Kapitalismus« (16), auf den Lenin so große Hoffnungen (nicht von Sozialismus, sondern von Modernisierung der Landwirtschaft) gesetzt hatte, war wegen der schwachen industriellen Entwicklung um keinen Schritt vorangekommen. Die Rechte war die Strömung, die aus den Tatsachen die Konsequenzen zog und kühn von der Politik der Unterstützung des mittleren Bauern zu einer Politik der Begünstigung der privatkapitalistischen Entwicklung auf dem Lande überging; die Linke widersetzte sich heftig dieser Wendung und betrachtete die frühere Politik der Einschränkung der Kulakenwirtschaft, des staatlichen Schutzes der ärmeren Bauernschichten vor der kulakischen Ausbeutung und Wucherei und der wirtschaftlichen Unterstützung dieser Dorfarmut durch die proletarische Macht als unantastbar; was das Zentrum angeht, so kennzeichnete es sich nicht durch eine besondere Position zu dieser Frage: In dieser Beziehung akzeptierte es die Politik der Rechten aus Sorge um den Bestand der Staatsmacht und verurteilte gleichzeitig jede offenkundigere Ermunterung der ländlichen Bourgeoisie aus kleinbürgerlichem Antikapitalismus und formellem Orthodoxie gehabe. Das Zentrum erstickte die ganze Debatte in eklektischen Formeln, unterstützte die Politik der Rechten im Namen der Prinzipien der vorhergehenden Phase (Bündnis mit dem mittleren Bauern) und spielte nach allen Seiten die Rolle des »Versöhnlers«, während es in Wirklichkeit die »Säuberung« der Partei von ihren zwei marxistischen Flügeln und damit die Vernichtung der Partei vorbereitete. Wir lassen also das Zentrum für einen Augenblick beiseite (17), um uns mit der Frage zu beschäftigen, ob die Opposition zwischen Rechten und Linken wirklich eine Opposition zwischen »Industrialisierungsanhängern« und »Industrialisierungsgegnern«, bzw. wie die Linke glaubte und erklärte, eine Opposition zwischen einer »Pro-Kulak-Strömung« und einer rein proletarischen Strömung war.

In Wirklichkeit gab es in der russischen Partei keinen Gegner der Industrialisierung. Jedermann wusste sehr genau, dass die Industrialisierung eine unentbehrliche Voraussetzung für die Entwicklung und die Konzentration der Landwirtschaft darstellte, sowie (allerdings in unterschiedlichem Maße) eine Gefahr für die Diktatur des Proletariats in sich barg, denn sie musste sich zwangsläufig auf der Grundlage der Lohnarbeit und der Akkumulation des Kapitals vollziehen. Die Auseinandersetzung betraf nicht die Notwendigkeit der Industrialisierung, sondern deren Wege. Für die trotzkistische Linke von 1923 war die Industrialisierung im Wesentlichen vom Staatswillen und vom Beschluss, eine bestimmte Industrialisierungspolitik zu befolgen, abhängig. Es war kein Zufall, wenn sich Sinowjew und Kamenew 1925 dieser Position anschlossen, sondern stand vielmehr in vollkommener Übereinstimmung mit ihrem Widerstand gegen eine Wendung, die sie als »zum Vorteil des Kulaken« betrachteten. Für die Rechte war die Industrialisierung im Gegenteil zugleich Resultat und Bedingung einer organischen Entwicklung der Landwirtschaft. Ausgehend von der Feststellung, dass die erste Entwicklung der Industrie einerseits einer Ausdehnung der Industrieproduktion selbst, andererseits der Bereicherung der mit dem Handel beschäftigten Gesellschaftsschichten dient (18), anstatt einer Entwicklung der Landwirtschaft zugute zu kommen, folgerte Bucharin, dass die Arbeitermacht es der ländlichen Kleinbourgeoisie erlauben sollte, das für eine Rentabilitätserhöhung unentbehrliche Betriebskapital selbst zu akkumulieren. Das wäre allerdings nicht möglich, wenn die Beschäftigung von Lohnarbeitern auf dem Lande weiterhin illegal bliebe und die Partei auf einer Politik der Fürsorge für die ärmeren Schichten weiter bestünde, die diese Schichten nicht aus dem Elend herauszureißen vermochte, aus ihnen aber ökonomische parasitäre Schichten machte. Bucharins Kompromiss war in Wirklichkeit ein »Kompromiss à la Lenin«: Da auf dem Lande der direkte Übergang von der kleinen Parzellenwirtschaft zum Staatskapitalismus unmöglich war, musste man seiner Meinung nach einen indirekten- vermittels des Privatkapitalismus - in Kauf nehmen: da die ganze Entwicklung, einschließlich die der Staatsindustrie, dazu verurteilt war, sich auf der Grundlage der Warenproduktion und der Lohnarbeit zu vollziehen, lag darin ebensowenig wie in der NEP von 1921 ein Verzicht auf den Sozialismus.

Empört durch die provozierende Losung von Bucharin: »Bauern, bereichert Euch«, die keineswegs bedeutete: »fresst noch mehr auf Kosten des Proletariats«, sondern akkumuliert das Agrarkapital, das unsere Wirtschaft braucht, um die Stagnation zu überwinden, denn wir sind dazu nicht in der Lage, warf die Linke der Bucharin’schen Rechten vor, das Kulakentum zu schützen. Da die Rechte niemals eine Abschaffung der Nationalisierung des Grund und Bodens vertreten hat, förderte sie in Wirklichkeit keineswegs die Bildung einer Klasse von kapitalistischen Großgrundbesitzern sondern lediglich die Bildung einer Klasse von großen Staatspächtern, die unter Staatskontrolle Lohnarbeiter beschäftigen würde, um später, bei Erreichung der erforderlichen Konzentrationsstufe des landwirtschaftlichen Kapitals, selbst enteignet zu werden. Der Vorwurf der Linken ist insofern wissenschaftlich unhaltbar - obwohl die Linke durchaus auf der Linie der marxistischen Tradition stand - als sie unter Berufung auf Engels Bucharin entgegenhielt, dass das Proletariat zwar ein Gegner des Kleineigentums ist, in der Agrarfrage jedoch eine Politik verfolgt, die sich von der kapitalistischen Politik unterscheidet, die ja die kleinen Bauern ganz einfach in den Ruin treibt und mittellos dem Elend und dem Dahinvegetieren preisgibt (19). Es wäre der Rechten bestimmt nicht schwergefallen, auf diese zutreffende Entgegnung theoretisch zu antworten, und zwar mit dem Hinweis, dass die proletarische Macht den zum Lohnarbeiter gewordenen armen Bauer nicht anders schützen würde als die Lohnarbeiter der Industrie. In der Praxis konnte sie jedoch nicht darauf antworten, denn die Arbeitermacht war nicht in der Lage, diesen Schutz gegen die Ausquetschung durch den Kulaken wirklich zu leisten - und das ist auch der Grund, weshalb die Linke sich niemals der Wirtschaftsplattform der Rechten annäherte und nicht einmal ihre Gültigkeit vom marxistischen Standpunkt aus erkannte.

Es ist uns heute nicht möglich, in der Wirtschaftspolitik der Rechten eine Politik der »Restauration des Kapitalismus« und der »sozialdemokratischen Entartung« des Staates zu erkennen, wie es die Linke in den Jahren 1925-27 behauptete; es ist uns gleichwohl nicht möglich, in der Wirtschaftspolitik der Linken eine Linie zu erkennen, die, wäre die politische Niederlage nicht eingetreten, ohne Abweichungen in Richtung auf den Sozialismus geführt hätte. Dafür spricht die geschichtliche Tatsache, dass die Verwandlung der doppelten Revolution in eine rein kapitalistische Revolution nicht von der Rechten geführt wurde; dies ist aber nicht der einzige Grund: Die Rechte hatte bis zu einem gewissen Punkt jenen besonderen Typus der »Restauration des Kapitalismus« vorausgesehen und von Anfang an zu bekämpfen versucht, einen Typus, der sich dann in Form einer Linkswendung wirklich ereignete und dessen Folgen sich für die kommunistische Weltbewegung als noch verheerender erwiesen, als die hypothetischen Folgen einer menschewistischen und sozialrevolutionären Restauration. Am deutlichsten geht das aus der Debatte von 1925 hervor, in der sich einerseits der Führer der Rechten, Bucharin, andererseits ein Mitglied der Opposition von 1923, der »Trotzkist« Preobraschenski, engagierten, während sich Trotzki selbst nicht äußerte.

Die »linke« These des »Industrialisierungsanhängers« Preobraschenski besteht in folgendem (20): Die Ökonomie eines rückständigen und isolierten Landes (oder selbst einer Gruppe von Ländern, die die höchste kapitalistische Entwicklung noch nicht erreicht haben), wo die proletarische Macht eine nationalisierte Industrie leitet und für die Schaffung der materiellen Grundlagen des Sozialismus wirkt, wird von objektiven Gesetzen beherrscht, die - ob man will oder nicht - sich schließlich der Staatsmacht doch aufzwingen werden; es handelt sich um die Gesetze der »ursprünglichen sozialistischen Akkumulation«. Die proletarische Partei soll nicht versuchen, diesen Gesetzen zu widerstehen, sondern deren Wirkung im Gegenteil durch geeignete politische Aktion fördern. Sie soll das »sozialistische Monopol« (d.h. die Staatshoheit über Industrie und Außenhandel) benutzen, um durch eine geeignete Preispolitik die Mittel, die normalerweise von der Bauernschaft eingenommen würden, in den Industrialisierungsfonds des Staates zu kanalisieren; nur so würde sie sowohl der »Erpressung durch die Kulaken« als auch der ländlichen Überbevölkerung ein Ende setzen können. Dieser Ressourcentransfer würde jedoch allein nicht ausreichen, um den kritischen Punkt schnell zu überwinden, der dadurch entsteht, dass das Land nach der Revolution die Vorteile des Kapitalismus verliert, jedoch noch nicht in den Genuss der Vorteile des Sozialismus gekommen ist; so durfte das »sozialistische Monopol« auch nicht zögern, den Lohnfonds und die Einnahmen des privaten Industriesektors in ähnlicher Form heranzuziehen, um den Industrialisierungsfonds des Staates zu vergrößern. Preobraschenski schätzte, dass diese Phase der »ursprünglichen sozialistischen Akkumulation« im Falle eines revolutionären Sieges in Europa mindestens zwanzig Jahre dauern würde (bei Ausbleiben dieses Sieges also noch länger), und er verschwieg nicht, dass sie von deutlich antisozialistischen Folgen begleitet werden würde: Ausbeutung (im ökonomischen, nicht im moralisierenden Sinn des Wortes) der Bauernschaft, deren Einkünfte seiner Meinung nach unter der Diktatur des Proletariats langsamer wachsen sollten als die der Arbeiter; Entfaltung eines riesigen monopolistischen Apparats mit parasitären Tendenzen, der außerdem einen Herd sozialer Privilegien darstellen würde. Dennoch forderte er die Partei auf, die Ausflüchte der Rechten beiseite zu Lassen und diesen Weg entschlossen einzuschlagen, denn er war überzeugt, dass die Arbeiterklasse von der Sphäre des Verbrauchs aus handeln könnte, um den parasitären Tendenzen, die auf der Ebene der Produktion erscheinen würden, erfolgreich Einhalt zu gebieten. Preobraschenski fiel nicht ein, dass ein so verstandenes »sozialistisches Monopol« sich mit keiner Form von »proletarischem Handeln« vereinbaren ließe, und dass die Partei, um diesen Weg einzuschlagen, vorher aufhören müsste, die proletarische Partei zu sein.

Bucharin bezeichnete das vermeintliche Gesetz der »ursprünglichen sozialistischen Akkumulation« rundweg als »monströs«, denn es war nur ein Rechtfertigungsversuch für die Ausbeutung nicht nur der Bauernschaft sondern auch des Proletariats sowie für die Wiederentstehung einer neuen, in den Falten eines sozialistisch etikettierten Staatsapparates versteckten Ausbeuterklasse. Sollte es nur darum gehen, eine gegebene Produktion ein für alle Mal zwischen Arbeiter und Bauern zu verteilen, dann würde die »richtige Arbeiterpolitik«, wie er sagte, darin bestehen, den Höchstanteil zu erhalten. »Dann ginge es aber nicht um die Frage, die Produktion zu erhöhen, zum Kommunismus fortzuschreiten, das Bündnis von Arbeitern und Bauern zu verteidigen. Die Verantwortung für die Nationalwirtschaft steht der Arbeiterklasse zu. Sie muss eine richtige Orientierung dieser Entwicklung sichern; sie darf daher einerseits nicht engen Zunftvorstellungen verfallen, nicht sich lediglich um die eigenen unmittelbaren Interessen sorgen und die allgemeinen Interessen verraten, andererseits muss sie die Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen Bestandteilen der Nationalwirtschaft richtig verstehen«. »Das Höchsttempo der industriellen Entwicklung kann man nicht dadurch erreichen, dass man der Bauernschaft Jahr für Jahr ein Höchstmaß an Ressourcen entreißt, um sie in die Industrie zu stecken. Das kontinuierliche Höchsttempo wird man nur durch eine kombinierte Entwicklung erreichen, in der die Industrie auf der Grundlage einer schnell wachsenden Gesamtwirtschaft wächst.« Der Hebel für eine radikale Transformation der Landwirtschaft ist die Industrie. Aber wenn man die Agrarpreise autoritär niedrig hält, wenn man die wohlhabende Bauernschicht an der Akkumulation hindert, wenn man die Verwandlung der armen Bauern in Landarbeiter, die sich für Lohn verdingen, verhindert, dann schafft man nicht nur Unzufriedenheit in allen Bauernschichten, bürdet man dem Staat nicht nur eine enorme Fürsorgelast auf, sondern man hemmt auch die Industrialisierung selbst. Das Proletariat muss seine Hegemonie im Sowjetstaat sicherstellen; die Lehre des Kriegskommunismus und die Bedeutung der NEP liegen aber darin, dass das Proletariat diese Hegemonie durch andere Methoden als jene im Bürgerkrieg angewandten ausüben muss. Das Proletariat kann nicht die gesamte Wirtschaft leiten: »Sollte es diese Aufgabe übernehmen, dann müsste es einen kolossalen Verwaltungsapparat aufbauen (...) Der Versuch, alle Kleinproduzenten und Kleinbauern durch Bürokraten zu ersetzen, erzeugt einen so kolossalen Apparat, dass die Ausgaben, ihn zu unterhalten, unvergleichlich grösser wären als die unproduktiven Ausgaben, die aus den anarchischen Verhältnissen der Kleinproduktion resultieren; um alles zu sagen: Als Ganzes erleichtert der ökonomische Apparat des proletarischen Staates keineswegs die Entwicklung der Produktivkräfte; er hemmt sie nur; er führt zum direkten Gegenteil dessen, was man von ihm erwartete.« Bucharin folgerte, dass die Thesen von Preobraschenski nichts anderes darstellten als eine Idealisierung der Methoden des Kriegskommunismus, während das Proletariat in Wirklichkeit im Gegenteil »mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert wird, den gesamten ökonomischen Apparat des Staates zu zerstören, der aus jener Epoche übernommen wurde«; sollte das Proletariat das nicht tun, so würden »andere Kräfte die Herrschaft dieses Apparats stürzen«.

Dieser Verwaltungsapparat war aus der unwiderstehlichen, antibürgerlichen Oktoberrevolution entstanden; als Apparat des Staates hatte er an sich jedoch niemals irgendetwas »proletarisches« gehabt und konnte es auch nicht haben, denn die Macht der Arbeiterklasse verkörpert sich in ihrer Partei und nicht in einem beliebigen »Apparat«, und der Weg zum Sozialismus wird nicht durch eine Stärkung des erwähnten »Apparates«, sondern durch dessen Absterben begleitet. Kommen wir aber auf Bucharin zurück. Mehr als 25 Jahre sollten noch vergehen, bevor diese »anderen Kräfte« - die dem Proletariat und dem Sozialismus so feindlich gegenüber standen, wie er es befürchtet hatte - sich durch Chruschtschow und die übrige Bande der »Entstalinisierer« manifestierten, um ihrerseits den »staatlichen Wirtschaftsapparat« als »Bremse« für die »Entwicklung der Produktivkräfte« anzuprangern (21).

Keine zwei Jahre sollten jedoch vergehen, bis die Linke politisch liquidiert wurde, keine vier Jahre, bis die Rechte dasselbe Schicksal erlitt, also bis sich die Vernichtung der bolschewistischen Partei restlos vollzog. Diese Vernichtung begleitete den Umsturz der politischen Herrschaft des Proletariats; und hatte Bucharin diesen Umsturz nicht weniger als die Linke befürchtet, so hatte er dessen Vorbereitung und Durchführung im Laufe des Prinzipienkampfes um die Frage des »Sozialismus in einem Land« auf dem XIV. Parteitag vom Dezember 1925, auf der Erweiterten Exekutive vom Dezember 1926 und auf dem XV. Parteitag vom Dezember 1927 völlig übersehen - vielmehr, er hat sich dabei mit Schande bedeckt: er bildete einen Block mit dem Zentrum gegen die Linke und, was noch schlimmer ist, er kam als Theoretiker dem groben Empirismus eines Stalin zu Hilfe.

Die richtige marxistische Verurteilung des »Sozialismus in einem Land« musste zwangsläufig auf die von der Rechten verfochtene Wirtschaftspolitik abfärben, und die notwendige Unterscheidung zwischen der Theorie des Renegatentums einerseits und der »rechten« Politik andererseits wurde dadurch völlig verdrängt. Das war jedoch falsch, und es war eines der großen Verdienste der italienischen Linke, dies gezeigt zu haben (22). Die trotzkistische Linke erwartete von der Rechten die Konterrevolution, die sie nur allzu gut heraufziehen sah; die Rechte ihrerseits erkannte allein in der Linken die Gefahren, die die Revolution bedrohten. Nun, es war das Zentrum, das niemand je als eine eigenständige Strömung betrachtet hatte und das alle verachteten, das sich plötzlich »verselbständigte«, 1927 die Linke, 1929 die Rechte schlug (bevor es beide weniger als zehn Jahre später massakrierte) und der wahre Träger der Konterrevolution gewesen ist. Diese Konterrevolution, die zumindest in ihrer ersten Phase mit weniger Erschütterungen vor sich ging als die Konterrevolutionen, die in der Vergangenheit andere große geschichtliche Revolutionen ablösten, verbarg sich hinter der Fassade derselben Partei. In Wirklichkeit bedeutete jedoch die Verselbständigung des Zentrums gegenüber der marxistischen Rechten und der marxistischen Linken nichts anderes als die Entstehung einer neuen Partei und die Vernichtung der Partei des Oktobers. Auf internationaler Ebene äußerte sich das durch die Zerschlagung der allerdings vom Opportunismus schon ziemlich unterwanderten Kommunistischen Internationale bzw. durch ihre Herabsetzung auf die Rolle eines »Grenzschutzes« der UdSSR. Auch innenpolitisch änderte sich alles. Von einer ökonomischen Regression vom Sozialismus zum Kapitalismus kann man natürlich nicht reden, denn - wie das ganze Werk Lenins bestätigt - es gab in der UdSSR 1927 bis 1929 kein einziges Atom Sozialismus im rein ökonomischen Sinne des Wortes. Dennoch unterscheidet sich das stalinistische Regime deswe­gen nicht weniger krass vom bolschewistischen. So wird die Diktatur des Proletariats - natürlich nachdem sie vernichtet wurde und im Übrigen mit der sowjetischen Demokratie völlig verwechselt wird - aus einer stets bedrohten und leidenschaftlich verteidigten politischen Errungenschaft zu einem unantastbaren Verfassungs-Credo: In der UdSSR ist der Staat ein »Arbeiterstaat«, wie er woanders monarchisch oder republikanisch ist. So hört der Sozialismus auf, ein noch fernes Ziel (das aber gleichzeitig den Charakter einer genau umrissenen Wirklichkeit besitzt und damit nachweisbar ist, wenn sie geschichtlich auftritt) zu sein, um sich in eine Art Verfassungsartikel zu verwandeln; die UdSSR ist das »Vaterland des Sozialismus«, ergo ist ihre Wirtschaft sozialistisch: nicht anders ist die französische Wirtschaft französisch und die deutsche deutsch; für jeden Zweifel in dieser Beziehung ist die Polizei zuständig; Erscheinungen, die dagegen zu sprechen scheinen, sind das Produkt von Sabotage und Verschwörung. Und während diese erdrückende Litanei von den offiziellen kommunistischen Parteien in der ganzen Welt unter dem Namen »Marxismus-Leninismus« eifrig verbreitet wird, ging der Sowjetstaat weniger als zehn Jahre später daran, den Arbeitermassen Russlands und der ganzen Welt ein für alle Mal die »Wahrheit« zu zeigen: In Prozessen, die nach dem Muster der oben geschilderten Glaubenssätze geführt wurden, zeigte man die angesehensten alten Bolschewiki »in unwiderlegbarer Form« als Saboteure, Verschwörer und Agenten des ausländischen Imperialismus an.

Die Vernichtung des Bolschewismus eröffnete die dunkelste Phase der Reaktion, die je über die internationale proletarische Bewegung hereinbrach.

 

 

Die Krise von 1927-28 und die Auflösung der NEP

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Die Beseitigung der vereinigten linken Opposition aus der bolschewistischen Partei 1927 und der Bucharin’schen Rechten im November 1929 läutete unbestreitbar den Abschluss des kurzen proletarischen Zyklus der Revolution ein, nicht aber den des revolutionären Zyklus selbst. Der Grund dafür ist einfach: Erstens genügte es nicht, die Revolutionäre zu verhaften, zu verbannen oder nach spektakulären »Abschwörungen« als Geiseln in der neuen Partei zu behalten, um die Bauernfrage zu lösen; zweitens implizierte die Ausrottung der Marxisten keineswegs einen Verzicht auf revolutionäre, sprich: nicht-friedliche Methoden, denn der Marxismus hat keineswegs die Gewalt für sich gepachtet. Durch die »Säuberung« der Partei wollte sich die Konterrevolution vom Joch der Prinzipien und des Programms des Kommunismus freimachen; das ist begreiflich, denn mit dem Abschluss der Wiederaufbauperiode wurden diese ja zu einer Bremse nicht nur für die kapitalistische Entwicklung des Landes, sondern auch für die Eroberung seiner Selbständigkeit gegenüber dem westlichen Kapitalismus, dessen Halbkolonie das zaristische Russland ja immer gewesen war; es versteht sich auch, dass diese Bremse als etwas Verhasstes empfunden wurde. Diese »Befreiung« musste sich aber keineswegs ausschließlich in Richtung auf die Freisetzung. von versöhnlerischen Tendenzen auswirken; nur auf dem Gebiet des internationalen Klassenkampfes - gerade das Gebiet, wo die Partei ursprünglich unnachgiebig gewesen war - musste sie natürlich ausschließlich diese Richtung einschlagen. Es ist kein Zufall, wenn die Stalinisten keinen Militanten der Opposition mehr gehasst haben als Trotzki: Er war der einzige, der die Politik der Versahnung mit der Weltbourgeoisie und der internationalen Sozialdemokratie bekämpfte, eine Politik, an die sich Sinowjew und Bucharin aus Opportunismus sehr leicht angepasst haben. Auf ökonomischem Gebiet haben wir mit dem genauen Gegenteil zu tun: Auf diesem Gebiet war die ursprüngliche Position der Partei die Position eines Kompromisses gewesen (23). Kurzum, die Logik der stalinistischen Konterrevolution verlangte keineswegs den Übergang zur universellen Versöhnung, sondern lediglich die Umkehrung der authentischen bolschewistischen Positionen: Versöhnung in der internationalen Politik, hingegen »revolutionäre« Methode in der Innenpolitik, sofern die Aufrechterhaltung des Staates und die nationale Unabhängigkeit dies erforderten. Diese Logik ist heute leicht verständlich; damals musste sie aber unter den Kommunisten, die im Kampf gegen die einer anderen Logik entsprechende reformistische (und auch anarchosyndikalistische) Abweichung erzogen worden waren, große Verwirrung stiften. Diese Umkehrung versetzte sie außerdem in eine zweideutige Lage: Sie hatten bis dahin das »Versöhnlertum« der stalinistischen Partei angeprangert und mussten ihr jetzt den scheinbar widersprüchlichen Vorwurf machen, die Bauernfrage mit Gewalt lösen zu wollen. So erweckte die Opposition den falschen Eindruck der Unredlichkeit, während die stalinistische Partei 1929 -1930 brav auf die Methoden des Bürgerkrieges zurückgriff und den Eindruck erweckte, »weit mehr als die linke Opposition (und in noch höherem Maße als die rechte) das Recht zu haben, sich zum Vertreter des unnachgiebigen Kommunismus zu erklären« (24).

Ohne eine vorhergehende politische Konterrevolution waren die »Entkulakisierung« und die vermeintliche »Kollektivierung« nicht möglich gewesen; und gerade weil eine wirklich marxistische und proletarische Partei ein solches Werk nicht hätte vollbringen können, war ihre Niederlage unvermeidlich, denn dieses Werk entsprach durchaus einer »geschichtlichen Notwendigkeit« -1929- 30 wirkten die aus der vorhergehenden Epoche hervorgegangenen Bedingungen in einer Form zusammen, die keine andere Politik zuließ (25). Dies gesagt, muss man sofort hinzufügen, dass Entkulakisierung und »Zwangskollektivierung« keineswegs einem vorgesehenen Plan entsprachen; noch weniger waren sie je im bolschewistischen Programm enthalten, als Maßnahme für den Tag, an dem der Wiederaufbau abgeschlossen wäre. Es handelt sich dabei um Fälschungen, um die Vernichtung der Partei a posteriori zu rechtfertigen, bzw. den konterrevolutionären Charakter dieser Vernichtung zu verschleiern: Sie suggerieren in der Tat, dass die Partei auf dem Wege der »zweiten Revolution«, des »neuen Oktober« (die Kanaille wagte, von einem »Bauernoktober« zu reden!), dieser harmonischen Ergänzung der »ersten Revolution« des Oktobers 1917, den Widerstand der »Opportunisten«, der »Pazifisten«, der »Feinde des Muschik« und der »Freunde des Kulaken« brechen musste, weshalb auch diese »zweite Revolution« bis auf 1929-30 verzögert worden wäre. Diese entstellende Lesart verfehlte nicht ihre Wirkung, denn sie stellte Trotzkisten und Bucharinisten als Neu-Menschewiki und Neu-Sozialrevolutionäre dar und verlieh Stalin die Rolle eines neuen Lenins. Diese Schöne Symmetrie bricht jedoch völlig zusammen, wenn man den genauen Verlauf der »zweiten Oktoberrevolution« und vor allem ihre sozio-ökonomischen Folgen schildert. Die Agrarrevolution von 1929-30 bleibt als Tatsache selbstverständlich bestehen (26), aber der ganze Nimbus des »Sozialistischen«, ja selbst des »Progressiven«, mit dem die Totengräber der bolschewistischen Partei sie umgeben wollten, erlischt kläglich; die wahre Natur der Sache, der sie gedient, springt ins Auge und mit ihr zugleich der abscheulich defätistische Charakter des Vergleichs zwischen dem universellen, proletarischen und kommunistischen Oktober 1917 und den verworrenen und schmerzlichen Konvulsionen, aus denen schließlich das kapitalistische Russland Nr. 2 hervorgegangen ist.

Eine Woche nach dem XV. Parteitag, auf dem die Position der Linken verurteilt und die Forderung nach Wiederaufnahme einer bestimmten Anzahl ihrer Mitglieder abgewiesen wurden, stehen die russischen Städte wieder vor der Gefahr einer Hungersnot, während sich auf dem Lande Zusammenstöße zwischen Eintreibern von Getreide und Bauern, die neue Preiserhöhungen verlangen, wiederholen. Im Januar 1928 verzeichnet die auf den Markt gelieferte Getreidemenge eine 25%ige Abnahme gegenüber dem Vorjahr; das für die Städteversorgung erforderliche Minimum wird um zwei Millionen Tonnen unterschritten. Auf dem Parteitag hatte sich Stalin über die »Panikmacher« der Linken, »die Hilfe schreien, wenn die Kulaken ihre Nasenspitz zeigen«, lustig gemacht;  als sich aber das Politbüro am 6. Januar versammelt, um die Lage zu besprechen, führt er die Krise auf eine spekulative Vorratsbildung der Kulaken zurück. Notstandsmaßnahmen werden geheim ergriffen; der Befehl wird erteilt, den Artikel 107 des Strafgesetzbuches auf die Kulaken anzuwenden (Beschlagnahmung der Spekulantenvorräte); um die armen Bauern zu einer Beteiligung an der Suchaktion anzuspornen, beschließt man auch, dass ein Viertel des entdeckten Getreides unter ihnen zu verteilen ist. Die Ergebnisse sind schwach, was darauf hindeutet, es habe sich eher um einen echten Mangel als um spekulative Zurückhaltung gehandelt. Zwischen Februar und Juli findet eine wahrhaftige Mobilmachung der Stadt gegen das Land, der armen Bauern gegen die Kulaken statt. Stoßtrupps aus jungen Arbeitern werden unter Anleitung von ungefähr zehntausend Parteimilitanten ins Dorf geschickt; die armen Bauern werden aufgefordert, gegen die Reichen »den Klassenkampf zu führen« und an der Suchaktion teilzunehmen - dafür verspricht man ihnen ja einen Teil der Beute. Neue Notstandsmaßnahmen werden öffentlich ergriffen: Zwangsanleihen, Verbot des direkten Kaufs und Verkaufs im Dorf. Was die Presse angeht, so zieht sie nicht nur gegen die »Wiedergeburt des Kulakentums« zu Felde, sondern auch gegen die »Unterwanderung der Partei« durch Elemente, die »die Klassen im Dorf nicht sehen« und »mit dem Kulakentum in Frieden zu leben versuchen«, d.h. gegen die Rechte, deren Politik einige Monate zuvor bestätigt wurde. Während in den Städten die Furcht vor dem Hunger herrscht, lebt auf dem Lande die Atmosphäre des Kriegskommunismus wieder auf. Die Bauernschaft leistet Widerstand: Bucharin zufolge musste der Staat im ersten Halbjahr 1928 über hundertfünfzig Bauernrebellionen unterdrücken. Im April reichen dank der Beschlagnahmungen, die schließlich alle Bauernschichten getroffen haben, die Vorräte der Städte aus, um das Gespenst des Hungers zu bannen, dann verurteilt das Zentralkomitee »die Verwaltungswillkür, die Verletzung des revolutionären Gesetzes, die Überfälle auf die Wohnungen der Bauern und die illegalen Durchsuchungen«; die Beschlagnahmungen werden verboten (ausgenommen Spekulationsvorräte), die Zwangsanleihen eingestellt, die Freiheit des Kaufs und Verkaufs im Dorf wiederhergestellt. Stalin behauptet: »Die NEP ist die Grundlage unserer Wirtschaftspolitik und wird es noch lange bleiben.« Aber kaum scheint sich die Getreidekrise wieder abzuzeichnen, da erklärt derselbe Stalin einen Monat später, im Mai 1928, in einer öffentlichen Rede eine neue Linie, die einen Bruch mit der rechten Politik des XV. Parteitags bedeutet; jetzt behauptet er, dass die Lösung der Getreidekrise »im Übergang von den einzelnen Bauernhöfen zu den Kollektivhöfen« bestehe und andererseits, dass man »unter keinen Umständen die Entwicklung der Schwerindustrie verzögern oder aus der Leichtindustrie, die für den Markt arbeitet, die Grundlage der Industrie als Ganzes machen darf.« Gegen seinen nachträglichen Anspruch, eine eigene Linie vertreten zu haben, eine besondere Parteilinie, die sich der »Linksabweichung« wie der »Rechtsabweichung« entgegengestellt hätte, schwankte das stalinistische Zentrum im Gegenteil nach der Laune der Krise hin und her, unterstützte zunächst die Wirtschaftspolitik der Rechten gegen die Linke, um dann bei der ersten Schwierigkeit die Wirtschaftspolitik der Linken sich anzueignen und der Rechten aufzuzwingen; Beharrlichkeit und Kontinuität erwies das Zentrum in einer einzigen Hinsicht: der systematischen Zerstörung der Partei Lenins.

Die Rechte ihrerseits behielt vollständig die Positionen, die sie seit der ersten Auseinandersetzung von 1923 stets vertreten hatte, nicht aus mangelnder Einsicht, sondern weil sie prinzipiellen Überlegungen entsprachen, die stärker waren als die Eindrücke der Krise. Aus diesem Grunde ist es angebracht, an den letzten Kampf zu erinnern, mit dem Bucharin auf die stalinistische »Linkswendung« vom Mai 1928 antwortete. Bucharin erkannte durchaus, dass die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion von der progressiven Ersetzung der kapitalistischen Betriebe durch Genossenschaften der mittleren und armen Bauern abhing und dass der Übergang vom Klein- zum Großbetrieb sich auf dieser Grundlage vollziehen musste; er wiederholte aber, dass dieser Prozess dank der Belebung der Einzelbetriebe und nicht dank einer ökonomischen Auspressung der Bauernschaft durchzuführen war. Er gab durchaus auch zu, dass die Entwicklung der Landwirtschaft von der Entwicklung der Industrie abhängt, verwarf aber den Gedanken einer Beschleunigung des Industrialisierungstempos; mehr noch, er warnte vor dem Urheber des Druckes, der in diese Richtung ausgeübt wurde: »der gigantische Staatsapparat, in dem sich Elemente der bürokratischen Entartung eingenistet haben, die den Interessen der Massen, ihrem Leben, ihren materiellen und kulturellen Interessen völlig gleichgültig gegenüberstehen«, »die Funktionäre (...) die bereit sind, jeden beliebigen Plan auszuarbeiten«. Die Linke äußerte sich dazu mit Sarkasmus und sah in der Krise eine Bestätigung ihrer eigenen Positionen; und doch verteidigte Bucharin in dieser letzten Phase des Kampfes das Programm von Lenin, d.h. das Prinzip der Parteikontrolle über die natürliche Tendenz des Kapitals, ob privat oder verstaatlicht, seine beschleunigte Akkumulation auf dem Rücken der Arbeiterklasse und der Bauern zu vollziehen; der Staatsapparat ist der natürliche Kanal dieser Tendenz, ihr blinder und passiver Träger, der aber über jeden sozialistischen Willen siegen muss, wenn die Partei, statt zu versuchen, ihre Kontrolle über diesen Apparat aufrechtzuerhalten, dazu übergeht, den Befehlen des Staatsapparates - d.h. den Befehlen des unpersönlichen Kapitals - zu gehorchen, und in ihr eigenes Programm die Losung schreibt: »beschleunigte Industrialisierung«. Bucharin verteidigt damit auch die marxistische Auffassung von der Rolle der proletarischen Diktatur, die die Linke unter dem Einfluss einer durch mangelnden kapitalistischen Entwicklung charakterisierte Umgebung unwillkürlich ausgestellt hatte. In der marxistischen Auffassung, die von der Voraussetzung einer Revolution in einem entwickelten kapitalistischen Land ausgeht, besteht die Rolle der proletarischen Diktatur in der Zerstörung aller Hindernisse, die der Entstehung einer neuen Wirtschaftsordnung im Wege stehen, und das ist alles. Auf dieser Entwicklungsstufe gibt es keinen Gegensatz zwischen der Partei einerseits und dem Staatsapparat andererseits. Der revolutionäre Wille der Partei wirkt im Sinne der Bedürfnisse einer Gesellschaft, die der Akkumulationszwang des Kapitals zu einer Dauerkrise verurteilte, einer Gesellschaft, die eben aus diesem Grunde eine gewaltsame Revolution durchmachen musste. Unter solchen Bedingungen kann die Partei den Staatsapparat mit der größten Leichtigkeit in die gewünschte Richtung führen: Der Staatsapparat hat selbst keine Energie, er ist, wenn der Vergleich erlaubt ist, an sich nichts anderes als eine Karosserie - der Motor liegt woanders. Nun stand Russland auf einer sehr niedrigen Stufe des Kampfes um den Sozialismus, auf einer Stufe, wo selbst die materiellen Grundlagen dieses Sozialismus fehlten; aber auch hier kann es keine Umkehrung der Rolle der Partei und der Diktatur geben - und gerade davon versuchte Bucharin seine Gegner vergeblich zu überzeugen (27). Auch hier bleiben Partei und proletarische Diktatur Zerstörer von Hindernissen, sie verwandeln sich nicht in »Aufbau-« oder »Errichtungskräfte«. Die einzige wirkliche »Aufbau-« und »Errichtungskraft« befindet sich in der inhärenten Dynamik einer noch rückständigen Wirtschaft, die spontan zum Kapitalismus treibt. Sicherlich wird die Einwirkung des revolutionären Willens, der proletarischen Diktatur als eines politischen Faktors auf dieser Entwicklungsstufe Resultate haben, die sich völlig von den Resultaten unterscheiden, die sie auf einer höheren Entwicklungsstufe haben würde: die Form der Einwirkung ist aber in beiden Fällen die gleiche. Partei und Diktatur können nicht anders auf die Wirtschaft einwirken als durch Verbote und Aufhebung von Verboten. Verbieten sie jede kapitalistische Entwicklung, so blockieren sie gleichzeitig jeden Fortschritt überhaupt und werden daher kurzfristig als reaktionäre Bremse in die Luft gesprengt. Heben sie alle Verbote auf, so verzichten sie auf jedweden Einfluss. Hier liegt die Schwierigkeit. Wenn sie aber glauben, dieser harten Alternative dadurch entrinnen zu können, dass sie ihre strikt politische Rolle aufgeben und die Wirtschaftsaufgaben selbst übernehmen, so ist es noch schlimmer: Dadurch verlieren sie nicht ihren Einfluss, sondern überhaupt ihre eigene Natur von Instrumenten des Proletariats: In dem Moment, wo sie glauben, das Höchstmaß an Einfluss erreicht zu haben, gerade in diesem Moment hebt sich der spezifische Charakter ihres Einflusses auf. Die ökonomische Dynamik findet hier in der Tat im Staatsapparat, der nach der Revolution die bürgerliche Klasse ersetzte, ihren natürlichen Transmissionsriemen. Auf einer so niedrigen Stufe des Kampfes um den Sozialismus gibt es doch noch einen latenten Konflikt zwischen der Partei und diesem Apparat, während auf einer höheren Stufe dieser Konflikt undenkbar ist, weil der Kapitalismus die geschichtliche Triebkraft verloren haben wird und damit auch weitestgehend die Macht, mit der Partei um den Einfluss auf den Staatsapparat zu kämpfen. Der Konflikt zwischen Partei und Staat ist ein abgeleiteter; ihm zugrunde liegt der Konflikt zwischen kommunistischer Partei und Kapitalismus, einem Kapitalismus, den sie nicht verbieten kann, auf dessen Einschränkung sie aber nur verzichten kann, wenn sie sich selbst abschwört. Doch gerade das tut sie, wenn sie sich vornimmt, die Industrialisierung zu beschleuni­gen, die ganzen Ressourcen von der Leicht- auf die Schwerindustrie zu verlagern, denn dadurch kapituliert sie vor der kapitalistischen Dynamik der Wirtschaft, deren Erfordernisse beim Fehlen einer ausgebildeten Kapitalistenklasse der Wirtschaftsapparat des Staates voll und ganz zum Ausdruck bringt, ohne jegliche Rücksicht auf die Bedürfnisse des Proletariats und der Massen im allgemeinen. Möge dies alles als Erklärung dafür dienen, warum Bucharin im Hinblick auf die Industrie Maßnahmen vertrat, die der Linken lächerlich bescheiden vorkamen im Vergleich zu den unermesslichen Bedürfnissen: Man sollte sich damit begnügen, das bereits erreichte Wachstumstempo zu behalten und dafür die riesigen unproduktiven Ausgaben herabdrücken, die Produktionszeiten (zwölfmal höher als in den fortgeschrittenen Sektoren der US-Wirtschaft) verringern, gegen die Verschwendung kämpfen (für eine gegebene Produktion wurde in Russland anderthalb bis zweimal mehr Material verbraucht als in Amerika), kurzum man sollte rationalisieren, sparen, anstatt zu versuchen, Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. Die Sorge, die dem zugrunde liegt, ist augenscheinlich: Die nationale Industrialisierung darf nicht zu schwer auf den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse lasten. Das stalinistische Zentrum war auf eine solche Klassensorge zwar nicht anzusprechen, die Warnung war aber prophetisch, was übrigens auch dadurch bestätigt wird, dass gegenüber der stalinistischen Industrialisierung selbst die Kritik von Trotzki »Bucharin’sche« Akzente annehmen sollte.

Seit der Rede vom Mai 1928 (die Stalins Wende in der Bauern- und in der Industrialisierungsfrage markierte) bis April 1929, als Bucharin zum ersten Mal als Führer der Rechten angezeigt wird, und seither bis November 1929, als Bucharin kapituliert, entwickelt sich der Kampf nach dem üblichen stalinistischen Schema: »Säuberung« der Partei einerseits, heftige Kampagne gegen die Unterwanderung der Partei durch die Kulaken (28) andererseits - alles begleitet von unaufhörlichen Schwankungen in der Wirtschaftspolitik. Im Juli 1928 beschließt das Zentralkomitee »einstimmig« »rechte« Maßnahmen (29): Zweites Verbot von Beschlagnahmungen und Durchsuchungen bei den Bauern, Erhöhung der Getreidepreise um 20%. Die Stalin’sche Fraktion verlangt jedoch gleichzeitig einen »erbarmungslosen Kampf gegen das Kulakentum« und wirft der Rechten vor, sie sei »weder marxistisch noch leninistisch, sondern eine Vereinigung von rückwärtsgewandten Bauernphilosophen«. Entsprechend seinem üblichen Eklektizismus weist Stalin ebenso den Vorwurf zurück, der NEP den Rücken kehren zu wollen und spricht von einer »neuen Etappe« auf der Grundlage der NEP. Juli 1928 schreibt er noch: »Es gibt Leute, die denken, die landwirtschaftlichen Einzelbetriebe seien am Ende ihrer Kräfte und dass es sich nicht lohne, sie zu schützen. Solche Leute haben nichts mit unserer Partei zu tun.« Ende 1929 sieht der erste von der Partei beschlossene Fünfjahresplan vor, dass noch 1933 lediglich 20% der Saatfläche »kollektiviert«, d.h. durch Bauerngenossenschaften betrieben sein werden. Im Frühjahr 1929 (30) erklärt Stalin noch, dass »die Einzelhöfe noch weiterhin eine vorherrschende Rolle in der Versorgung des Landes mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen spielen werden.« Einige Monate später war die »allgemeine Kollektivierung« bereits auf dem Höhepunkt.

Die vermeintliche »zweite Revolution«, deren gewaltsame Phase sich durch die ganze zweite Jahreshälfte von 1929 erstreckte und sich bis Anfang März verlängerte, hatte nicht nur den Charakter einer unter dem Druck der Tatsachen improvisierten Politik, sondern auch den Charakter eines Kompromisses, des schlechtesten, den man je hätte eingehen können. Erstens war die von Stalin in seiner Rede vom Mai 1928 vorgesehene Form der »Kollektivierung« nicht die Sowchose (d.h. ein Staatsbetrieb, der von irgendeinem Beamten geleitet wird und Lohnarbeiter beschäftigt) sondern der Artel, also eine Kolchoseform, die zwischen der einfachen Genossenschaft und der Kommune liegt. Insofern hat Stalin nichts Neues erfunden, denn kein Bolschewik hatte im Laufe der früheren Jahre je behauptet, die Sowchoseform zügig verallgemeinern zu können. Um die Parzellenwirtschaft unmittelbar durch Sowchosen zu ersetzen, wären ja ein riesiges Betriebskapital (Maschinen, Werkzeuge, Kunstdünger usw.) und eine ebenso riesige qualifizierte Arbeitskraft (Agronomen und Mechaniker) erforderlich gewesen, und der Staat verfügte nicht über diese Mittel. Davon abgesehen, war es klar, dass das Regime einen solchen Versuch der Verwandlung von Millionen und aber Millionen Kleinbauern in einfache Lohnarbeiter nicht überleben würde. Anders bei Stalin: Dank seiner Demagogie gegen das Kulakentum verlieh er seiner Politik einen ausgesprochen opportunistischen Charakter; diese antikapitalistische Demagogie diente dazu, den Artel, eine einfache Genossenschaft, die als selbständiger Betrieb auf dem Markt auftritt, als eine kommunistische Form auszugeben, während der Artel in Wirklichkeit selbst hinter der staatskapitalistischen Form (der Sowchose) zurückliegt, wobei diese staatskapitalistische Form ihrerseits unter bestimmten Voraussetzungen lediglich als Hebel für die sozialistische Umgestaltung dienen kann. Es handelte sich um eine gigantische Verfälschung, um die Rivalität zwischen Klein- bzw. Mittelbauern und reichen Bauern um die Nutzung des Bodens und die Aneignung des Bodenertrages mit dem revolutionären Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie gleichzustellen. Nun wusste die marxistische Partei seit dem »Manifest« nur allzu gut, dass nur dieser zweite Kampf ein Emanzipationskampf ist, während der Kampf der besitzenden Klassen in der Verteidigung ihrer Lebensgrundlagen (des Privateigentums) ein reaktionärer Kampf ist, der das Rad der Geschichte zurückzudrehen trachtet. Aber kommen wir auf die Kolchose zurück, die Form, die sich nach heftigen Erschütterungen schließlich durchsetzte und deren »Statut« übrigens erst 1935 ausgearbeitet wurde. Sie liegt noch hinter dem Artel zurück und festigte sich nicht, weil dies der »Absicht« der Regierung entsprochen hätte, sondern weil die Regierung dazu gezwungen wurde, dies hinzunehmen. Daran kann man die Idiotie des bürokratischen Optimismus messen, der sich 1929-30 einbildete, »den Kommunismus in die Landwirtschaft einzuführen«.

Es ist sehr schwierig, die genauen Wechselbeziehungen von »Zwangskollektivierung« und »Entkulakisierung« festzustellen. Diese Frage wäre leichter zu beantworten, wenn man die Agrarkrise von 1927-29 auf die Ausdehnung der Kulakenwirtschaft zurückführen könnte: Infolge der ökonomischen Erpressung durch das Kulakentum wäre die Sowjetmacht vom Sturz bedroht gewesen und hätte dann keinen anderen Ausweg gehabt, als die Klasse der reichen Bauern den Plünderungen der ärmeren Schichten auszuliefern, d.h. sie hätte den Boden und die Maschinen der reichen Bauern den ärmeren übereignet, um anschließend diese ärmeren Bauern selbst dazu zu zwingen, den Genossenschaften beizutreten; obwohl sie nicht über die technischen Voraussetzungen für eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität verfügten, würden diese Genossenschaften schon infolge der Ersetzung der individuellen Arbeit durch die Kooperation doch einen höheren Gesamtertrag liefern können, was eine Entspannung der städtischen Versorgungslage zur Folge hätte.

Aber trotz des in dieser Beziehung übereinstimmenden Urteils der linken Opposition und der Stalinisten (oder vielleicht gerade wegen dieser Übereinstimmung) scheint eben diese Hypothese mehr als fraglich, derzufolge der Rückgang der auf dem Markt verfügbaren Lebensmittelvorräte nicht auf die Ausdehnung der kleinen Parzellenproduktion der Mittelbauern (Seredniaki), sondern im Gegenteil auf die Ausdehnung des kapitalistischen Betriebes des reichen Bauern und Spekulanten (Kulaki) zurückzuführen sei! Die Rede, die Stalin am 27. Dezember 1929 persönlich hielt, um die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« zu begründen, widerlegt nolens volens selber diese These. Stalin nannte in der Tat folgende Zahlen: Die Kulaken produzierten vor der Revolution 1.900 Mill. Pud Getreide und 1927 nur noch 600 Millionen; die Seredniaki und Biedniaki waren in derselben Zeit von 2.500 Mill. Pud auf 5.000 Mill. gestiegen. Diese offensichtlich übertriebenen Zuwachszahlen (100%!) Lassen sich durch den Eifer erklären, die Vorteile, die die Oktoberrevolution für die kleine und mittlere Bauernschaft gebracht hatte, zu betonen; aber selbst, wenn man von der Übertreibung absieht, zeigen die Zahlen alles andere, nur nicht eine Festigung der Kulakenwirtschaft.

In diesem Fall wäre die Wende von 1929 nicht so sehr mit einer dringenden Bedrohung durch das Kulakentum zu erklären, als vielmehr mit der Tatsache, dass der Bucharin’sche Weg einer progressiven, vornehmlich durch die Auswirkung des Marktes herbeigeführten Transformation der kleinen Parzellenbauern in Lohnarbeiter der Kulaken sich als zu langsam erwiesen hatte, während die Liquidierung der kleinen Produktion inzwischen aber zu einer Lebensfrage geworden war. Die Entkulakisierung erscheint dann nicht so sehr als Ursprung der »Zwangskollektivierung«, sondern vielmehr als deren Ergänzung. Die Enteignung der reichen Bauern zugunsten der Kolchosen erlaubte die Ausrüstung dieser Genossenschaften, die über keinerlei Produktionsmittel verfügten, mit mindestens einigen spärlichen Voraussetzungen für eine erste ökonomische Entwicklung; sie erlaubte aber zugleich, die Offensive des etatistischen Kapitalismus gegen die ländliche Klein- und Kleinstbourgeoisie hinter einem antibürgerlichen Mantel zu verschleiern: D.h. durch die Enteignung der Kulaken konnte der Staat der armen Kleinbourgeoisie des Dorfes einen demagogischen Ausgleich bieten, um sie dadurch noch fester unter sein hartes Joch zu bringen; schließlich lag darin das sicherste Mittel, um zu verhindern, dass die Landbevölkerung sich um die unternehmerischsten (weil weniger armen) Schichten vereinigte, um der Diktatur der Stadt Widerstand zu leisten.

Die erste Deutung würde besser den Positionen der marxistischen Linken entsprechen, die zweite denen der marxistischen Rechten. Ob man sich nun der einen oder der anderen anschließt, ist die Schlussfolgerung dieselbe: Die Politik des Stalin’schen Scheinzentrums war entschieden antimarxistisch und antiproletarisch.

Der Erfolg der Zwangseintreibungen von Getreide einerseits, andererseits die ermutigenden Berichte der Behörden über die Genossenschaftsbewegung in der zweiten Hälfte des Jahres 1929 ermunterten die Stalin’sche Fraktion dazu, die »Kollektivierung« weit über die ursprünglich fixierten Grenzen zu führen. Diese Erfolge zeigten in der Tat, dass die Bauernschaft als Ganzes bei weitem nicht so widerstandsfähig war, wie man es befürchtet hatte; sie zeigten auch, dass die ärmeren Bauernschichten mehr als erwartet für die Kampagne zugunsten der Kollektivierung zugänglich waren. Stalin war ja unfähig, sich an jegliche Prinzipien zu binden, und so genügte es, die Furcht vor der Bauernschaft zu vertreiben, damit er die letzten Bedenken, die ihn noch bis Mitte 1929 an die Rechte gebunden hielten, beiseite warf. Es wurde dann egal, dass man 1929 nur über 7.000 Traktoren verfügte, während nach dem Geständnis von Stalin 250.000 erforderlich gewesen wären; es wurde dann egal, dass die Kollektivierung von 5 bis 8 Millionen Kleinsthöfen, die noch auf der Stufe des Holzpfluges standen, ganz und gar nicht der Einführung einer höheren Produktionsweise gleichkam: Es wurde der Verwaltung der Befehl erteilt, »die Kollektivierung zu beschleunigen« und »das Kulakentum so hart zu treffen, dass es sich nicht wieder aufrichten kann«. Vom Oktober 1929 bis Mai 1930 stieg der Anteil der in Kolchosen eingegliederten Familien offiziell von 4,1% auf 58,1%, was - wie es sich von selbst versteht - von keiner fühlbaren Erhöhung der Maschinenanzahl begleitet wurde. Dieses Ergebnis konnte jedoch nur um den Preis eines solchen Kampfes, um den Preis so verheerender ökonomischer Folgen und einer solchen Zuspitzung der Spannung zwischen Stadt und Land erreicht werden, dass Stalin selbst seiner amtlichen »Revolution« ein Ende setzen musste. Wenn die statistischen Angaben stimmen, denen zufolge es 1,5 bis 2 Millionen wohlhabende, 5 bis 8 Millionen arme und 15 bis 18 Millionen mittlere Bauernhöfe gab, dann ist es klar, dass die Zwangsbildung von Kolchosen, wenn sie über die Hälfte der Bauernhöfe erfasste, die mittlere Bauernschaft in einem weiten Maße getroffen hat, zumal die Kulakenfamilien ausgeschlossen waren. Darin liegt das ganze Geheimnis des gewaltsamen Charakters, den die Unternehmung angenommen hat: Je grösser die »Differentialrente«, desto mehr klammert sich der Bauer an sein Land fest, wie Trotzki in einem Artikel erklärte, den wir als Anmerkung zitieren (31). In diesem Zusammenhang ist es wahrscheinlich, dass die ärmeren Bauernschichten die »Kollektivierung« doch mit der berühmten Begeisterung akzeptiert haben, sofern ihre bereits verzweifelte Lage dadurch ja nicht verschlechtert wurde.

Die geradezu naive These, derzufolge »in Russland alles besser gelaufen wäre, wenn man die Bauern in Ruhe gelassen hätte«, kann getrost dem bürgerlichen Liberalismus überlassen werden; ihr liegt die so stockmoralische wie heuchlerische Verabscheuung von Gewalt zugrunde, die wohl die Sicht dafür trübt, dass der Kapitalismus sich ohne Gewalt den eigenen Weg noch nirgends bahnen konnte und dass seine ursprüngliche Akkumulation Überall für die Kleinproduzenten nicht weniger als für die Proletarier ein einziger Leidensweg war. Einmal klargestellt, dass die proletarische Partei nicht das geringste Zugeständnis an die pazifistische Ideologie des Klassenfeindes macht, kann man ruhig sagen, dass sie eine Politik weder befürworten konnte noch befürworten kann, die unter dem Vorwand, den Gang der Geschichte zu beschleunigen, kein anderes Ergebnis haben konnte, als ihn maßlos zu verzögern - ganz abgesehen davon, dass sie die kommunistische Politik den unheimlichsten Vergleichen mit den schlimmsten Heldentaten der herrschenden Klassen der Gegenwart und der Vergangenheit aussetzte. Die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« (amtlicher Euphemismus, um den Glauben zu erwecken, man wollte den Millionen wohlhabenden Bauern und ihren Familien nichts antun, sondern bloß ihrer Produktionsweise) und die »beschleunigte Kollektivierung« bedeuteten faktisch die Entwurzelung und Zwangsverschleppung von über zehn Millionen Menschen (die Bevölkerung der UdSSR betrug damals 160 Millionen). Bald verteilen die Kleinbauern die Kulakenbeute habgierig untereinander, bald verbünden sie sich mit den Kulaken: In diesem Fall wird das rebellische Dorf mit Waffen belagert und zur Aufgabe gezwungen. Die Plünderungen durch gewisse städtische Stoßtrupps, die übertriebene Sorgfalt einer primitiven oder erschrockenen Verwaltung, die selbst die Schuhe, die Kleidung, ja die Brillen der Landbevölkerung »kollektiviert«, die zynische Korruption von Beamten, die den »Kulaken« die Sachen wiederverkaufen, die sie ihnen soeben abgenommen haben, das alles verzehnfacht die Verzweiflung der Bauern, die nicht nur so viele »Kommunisten« (und im allgemeinen Städter) ermorden (32), wie sie nur können, sondern auch das Vieh ja oft sogar ihr Werkzeug vernichten und die Ernte in Brand stecken, um nichts in den Kollektivhof einzubringen, denn sie wissen wohl, dass sie dort nur einen Arbeiterlohn erhalten werden. Die Stalin’sche Macht wird noch drei Jahre warten, bis sie im Januar 1934 das Ausmaß der dadurch verursachten Wirtschaftskatastrophe bekanntgibt: In einem Land, in dem es fast keine Traktoren gibt, gingen 55% der Zugpferde (18 Millionen), 40% der Rinder (11 Mill.), 55% der Schweine, 66% der Schafe verloren, und weite Anbauflächen hatten sich in Brachland verwandelt; Aufstände waren in der ganzen Union ausgebrochen (33). Die von der Regierung in Euphoriestimmung improvisierte Operation artete also in einen Bürgerkrieg aus. Aber in diesem Bürgerkrieg konnte die Stalin’sche Macht weder mit der Roten Armee rechnen, deren Offiziere zu einem großen Teil aus dem Kulakentum stammten und deren Soldaten in der Mehrheit Bauern waren (34), noch konnte sie mit der städtischen Arbeiterklasse rechnen, weil diese 1929 im Wesentlichen aus kürzlich zugewanderten Bauern bestand und ihre anfängliche Sympathie für die »Kollektivierung« in demselben Maße abnahm, wie mit dem Druck auf die Bauern auch die Versorgungsschwierigkeiten in den Städten zunahm. Andererseits führte eine solche Politik die Gefahr einer im Vergleich zu den vergangenen Jahren noch beträchtlicheren Einschränkung der Frühjahrssaat herbei, d.h. die Gefahr einer Versorgungskrise, die diesmal die letzte Stunde der Sowjetmacht sehr wohl bedeuten konnte. Diese Lebensgefahr zwang Stalin dazu, am 2. März 1930 in der »Prawda« den berühmtberüchtigten Artikel »Der Schwindel des Erfolgs« zu veröffentlichen, dessen Widerhall im ganzen Land, das ihn als einen Erlass betrachtete, riesig war. Hatte er einige Monate zuvor auf Engels und dessen Vorsicht noch herabgeblickt, so verwarf er jetzt die Gewaltanwendung, um die Bauern zum Eintritt in die Kolchosen zu zwingen, er verwarf die Verwechselung zwischen mittleren Bauern und Kulaken, die rein administrative, ungenügend vorbereitete Bildung von Kollektivhöfen, die Errichtung von Kommunen statt Artels, wobei die Verantwortung wohlgemerkt auf die Militanten und Beamten abgewälzt wurde, die durch neue und rigorose »Säuberungen« hindurch mussten. Diesem Artikel folgte am 15. März 1929 ein Parteibeschluss, demzufolge der Eintritt der Bauern in die Kolchosen nunmehr ausschließlich auf freiwilliger Basis erfolgen sollte, die »untragbare Entartung des Klassenkampfes auf dem Lande« aufzuhören hätte (wobei die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« unvermindert fortzusetzen war) und, was symptomatisch ist, der intensiven antireligiösen Propaganda und der Zwangs Schließung von Kirchen ein Ende gesetzt werden sollte! Da der Beschluss es den Bauern außerdem freistellte, die bereits gebildeten Kolchosen zu verlassen, vollzog sich die »Entkollektivierung« noch schneller als die »Kollektivierung«: Der Anteil der in Genossenschaften organisierten Familien fiel von den amtlichen 58% (mehr in den Getreideanbaugebieten, weniger in anderen Gegenden) auf 23%. Die Verwirrung war extrem, aber die Bauernschaft ist zu einer eigenständigen Politik absolut unfähig, sie stellte daher den Widerstand sofort ein, sobald der Druck nachließ. Dank diesem Umstand und auch der Tatsache, dass sich die Ernte von 1930 als gut erwies, konnte das Regime, das am Rande des Abgrunds getaumelt hatte, standhalten. So, unter der eisernen Faust des Stalinismus, des Henkers des Bolschewismus, durchwühlt von Lüge und Gewalt, von Prahlerei und Abschwörung, ging ein kapitalistisches Russland Nr. 2 in weniger als drei Jahren aus der UdSSR der NEP hervor. Die beispiellose Krise von 1929-30 in der Folge so vieler anderer Erschütterungen, die zerreißenden gesellschaftlichen Gegensätze, die durch das »Verschwinden der Bourgeoisie« keineswegs gemildert, durch die nationale Isolierung jedoch umso mehr zugespitzt wurden - das alles prägte dem neuen Nationalrussland einen fang anhaltenden, entsetzlichen aber eigenartigen Siegel auf, und es sollte hinter der Maske des Sozialismus die Welt noch für Jahrzehnte damit verwirren und manchmal erschrecken.

 

 

Das kapitalistische Russland Nr. 2

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Um es kurz zu machen, werden wir von einer guten Formulierung der gegnerischen These ausgehen, vom genauen Gegenteil der richtigen marxistischen Einschätzung der Wendung von 1927-30 und des zeitgenössischen Russlands: »Der Konflikt zwischen Stadt und Land und der Zusammenstoß zwischen den beiden Revolutionen beherrschten den inneren Schauplatz der UdSSR (...) während der ganzen 20er und 30er Jahre. (...) Lenin versuchte in den letzten Jahren seines Lebens das Dilemma mit Hilfe der Neuen Ökonomischen Politik (...) friedlich zu lösen; aber um 1927 oder 1928 musste der Versuch als gescheitert betrachtet werden. Stalin versuchte den Konflikt dann mit Gewalt zu lösen (...) Er trennte die sozialistische Revolution von der bürgerlichen, indem er diese vernichtete.« (35)

Dieser Auffassung zufolge soll der Stalinismus die Strömung gebildet haben, die vor der Zerschlagung des Kulakentums und der ländlichen Kleinbourgeoisie nicht zurückschreckte und damit die unreine sozialistische Revolution in Russland in eine rein sozialistische verwandelte. Gegenüber dem Stalinismus sollen Linke und Rechte nichts anderes dargestellt haben als einen großen rechten Flügel, der sich aus Pazifismus und Demokratismus der Befreiung der sozialistischen Revolution vom Joch der aus der bürgerlich-demokratischen Revolution hervorgegangenen Produktionsverhältnisse - d.h. der vorherrschenden unproduktiven Parzellenwirtschaft - entgegenstellten. Es tut weh, zuschauen zu müssen, wie solche Antiwahrheiten einem wehrlosen Publikum als Inbegriff marxistischen Denkens präsentiert werden!

Und doch genügt der bloße Vergleich der »Verfassung« von 1918 mit derjenigen von 1936, um feststellen zu können, dass nicht die bolschewistische Partei der Jahre 1917-1929 vor der bürgerlich-demokratischen Revolution kapituliert hat, sondern gerade die stalinistische Partei, die die Macht an sich gerissen hatte und bis heute in der Regierungspartei der UdSSR fortlebt. Die erste Verfassung hatte im Gegensatz zu allen Verfassungen in der Geschichte keine dieser persönlichen Rechte (Eigentum und Sicherheit) verkündet, die das bürgerliche Zeitalter charakterisieren (aber in der kapitalistischen Praxis tagtäglich mit Füssen getreten werden). Im Gegenteil: Das sozialistische Ziel, das sie laut verkündete - die restlose Abschaffung der Teilung der Gesellschaft in Klassen - , ist nicht nur mit dem Fortbestehen einer Klasse von kleinen Landwirten unvereinbar, sondern auch mit der Existenz einer Klasse von Genossenschaftsbauern, denen die Bodennutzung für das ganze Leben gesichert wird, und die ihre Erzeugnisse über den Markt an die Gesellschaft liefern. Die »Verfassung« von 1918 täuschte nicht vor, die Nationalisierung des Bodens (der den Grundbesitzern ohne Entschädigung entrissen und unter den werktätigen Bauern verteilt wurde) sei einer Vergesellschaftung des Bodens gleich; sie erklärte sie vielmehr als juristische Maßnahme, die dadurch gerechtfertigt war, dass diese Vergesellschaftung das Endziel darstellt, ein Endziel, das man erst dann erreichen kann, wenn die Gesellschaft als Ganzes und ohne Umwege über die landwirtschaftliche Produktion verfügen kann, d.h. wenn alle Hindernisse, die vor diesem Ziel stehen (ob diese nun im kleinen Parzelleneigentum, im genossenschaftlichen oder im kapitalistischen Eigentum bestehen werden) beseitigt werden konnten. Ganz anders die Verfassung von 1936: Hier erhält die Genossenschaft das Land zur ewigen und unentgeltlichen Nutzung, hier wird das genossenschaftliche Eigentum als »sozialistisches Eigentum« gesetzlich verankert! Es geht nicht mehr um die Abschaffung einer Produktionsweise, die antagonistische Klassen erzeugt: Genossenschaften und staatseigene »Maschinen- und Traktorenstationen« tauschen Lebensmittel gegen Dienstleistungen aus, bilden dennoch als Ganzes einen Komplex, der als ausgestaltetes sozialistisches System definiert wird. Man stellt sich nicht mehr das Ziel, den Klassengegensatz zwischen Proletariat und der in einem ewigen Zwist mit dem Staat begriffenen, besitzenden Bauernschaft in der klassenlosen Gesellschaft aufzulösen; oh nein: man negiert ganz einfach diesen Gegensatz und stellt die Gleichheit der politischen und Stimmrechte wieder her (die Erklärung von 1918 hatte dem Arbeiter vier Stimmen und dem Bauern nur eine zuerkannt). Das neue System wird offiziell als politische Demokratie bezeichnet, während sich das frühere ohne Zögern als Diktatur des Proletariats erklärt hatte, eine Diktatur, die mit der Bauernschaft einen Pakt des Gewaltverzichts geschlossen hatte aus dem wohl leicht verständlichen Grund, dass die Gewalt die Geburtshelferin, nicht jedoch die Mutter des Fortschritts ist - beruht letzterer ja auf dem Wachstum der Produktivkräfte. Diese antisozialistischen Neuigkeiten sollten 1953 völlig bestätigt werden: In seiner Schrift über die »Ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR« wendet sich Stalin gegen diejenigen, die das Kolchoseeigentum, diese Säule des Systems, so behandeln möchten, wie man 1917 (und 1929) das kapitalistische Eigentum behandelt hatte; gegen jede bessere Einsicht erklärt er die Kolchosen als sozialistische Eigentumsform, weil sie ja »kollektivwirtschaftliches« (genossenschaftliches) Eigentum sind. Das ist so idiotisch wie die Behauptung, die Verfügungsgewalt eines Unternehmens (und im Grenzfall aller Unternehmen) über seine Produktion komme einer gesamtgesellschaftlichen Verfügungsgewalt über die Produktion gleich, vorausgesetzt ... das Unternehmen dürfe offiziell keine Lohnarbeiter beschäftigen (!).

Wenn man die Tatsachen in Ruhe betrachtet, so muss eine so vollzogene »sozialistische Revolution« nur noch eine Bedingung erfüllen, um eine vollständige Kapitulation vor der »bürgerlich-demokratischen Revolution« darzustellen: Sie muss nämlich nur noch den Versuch einstellen, mittels des Staatsdespotismus der Anarchie der Produktion Schranken zu setzen. Davor hat sie sich bekanntlich schwer gehütet; sie steigerte den staatlichen Zwang im Gegenteil in einem solchen Maße, dass die ganze Weltbourgeoisie vor Neid erblasste; mehr noch, sie erklärte nicht nur die heiliggesprochene Kolchose zur ewigen Eigentumsfarm, sondern auch in demselben Maße den staatlichen Zwang zum ewigen Produktionsfaktor. Das sollte aber niemanden täuschen, denn wo hat man je eine auf der bürgerlich-demokratischen Revolution errichtete Macht gesehen, die den Hoffnungen und naiven Illusionen entsprochen hätte?

Vor einer politischen Untersuchung kann die Auffassung von der Stalin’schen Ära als Ära der rein kommunistischen Revolution noch weniger bestehen (36). Sie kann sich allenfalls auf eine einzige Tatsache zu stützen versuchen: Die Bolschewiki hatten ja befürchtet, ihre Macht könnte infolge eines Bürgerkrieges des Landes gegen die Stadt zugrunde gehen; nun wurde die bolschewistische Ära durch einen Bürgerkrieg der Stadt gegen das Land abgeschlossen. Gerade das müsst ihr berücksichtigen, mahnen uns die Thesen der Renegaten; ihr müsst dann noch bedenken, dass sich dieser »Krieg« nach der militärischen Phase dann unter ökonomischen Formen bis 1940 fortgesetzt hat (??? es wäre konsequenter zu sagen: bis 1956, d.h. bis zu den Reformen der Ära Chruschtschow!); und eins dürft ihr vor allem nicht vergessen: Das Staatseigentum in Industrie und Planwirtschaft; wenn ihr das alles in Betracht zieht, habt ihr das getreue Bild einer rein kommunistischen Revolution.

Das Misstrauen und die Feindseligkeit des Proletariats gegenüber der besitzenden Bauernschaft waren mehr als berechtigt, und man versucht geschickt, dort einen Ansatzpunkt zu finden. Aber der Kampf der Stadt gegen das Land ist an sich weit davon entfernt, den Kommunismus zu charakterisieren: Dieser Kampf ist im Gegenteil so alt wie die Zivilisation selbst! Ohne Zweifel besteht dieser Kampf unter der Diktatur des Proletariats, in der Phase des Übergangs zum Sozialismus, weiter, aber gerade hier und erst hier verliert er seinen uralten Charakter von ökonomischer, moralischer und geistiger Unterdrückung des Landes durch die Stadt, gerade hier und erst hier verwandelt er sich in eine fortschreitende Abschaffung der Trennung von Stadt und Land. Sicherlich kann (und wird) das Proletariat seinen Klassenzwang gegen die ländlichen Kleinbesitzer ausüben; ohne Zweifel kann es sich im Laufe des russischen Bürgerkrieges veranlasst sehen, ihnen Gewalt anzutun. Aber niemals, auf keiner Entwicklungsstufe seines Kampfes (nicht einmal auf der äußerst niedrigen Stufe, auf der es diesen Kampf in Russland gezwungenermaßen führen musste), wird sich das Proletariat dadurch befreien können, dass es andere Klassen unterdrückt und ausbeutet und zum elenden Dasein von Kleinbesitzern verurteilt. Nichts lag der leninistischen Politik ferner als jegliche Form von »Pazifismus« und »Demokratismus« (!): Diese Politik entsprach lediglich dem Wesenskern der sozialistischen Auffassung; und der Sozialismus ist ein absolut leeres Wort, wenn damit nicht der Prozess der Emanzipation des Proletariats gemeint ist, eine Emanzipation, die im Gegensatz zur bürgerlichen Emanzipation nicht die Errichtung der Herrschaft einer Klasse über die anderen bedeutet, sondern die Auflösung aller Klassen in eine harmonische, klassenlose Gesellschaft.

Die Stalin’sche Politik bildete sich ein, den »Sozialismus in einem Land« (37) aufzubauen; in Wirklichkeit verdient sie nicht einmal, als Fortsetzung der Lenin’schen Politik der »Errichtung der materiellen Grundlagen des Sozialismus« betrachtet zu werden: Diese stellte zwar unvergleichlich bescheidenere Ansprüche, verdiente aber voll und ganz, als proletarisch und kommunistisch bezeichnet zu werden.

Ob man nun die Beziehungen zwischen Stadt und Land, die sich herausgebildet haben, oder die Lage des Proletariats in der russischen Gesellschaft betrachtet: Die ganze ökonomische Geschichte dieses Landes nach 1929 beweist, es seitdem von einer neuen ursprünglichen Akkumulation des Kapitals beherrscht wird, die der Staatseigentümer so »plant«, wie ihm das von den Bedürfnissen einer imperialistischen Machtstellung der UdSSR aufgezwungen wird. Und die einzigen Hindernisse, die er beseitigen muss, um dieses Werk zu vollenden, bestehen in den bescheidenen Bedürfnissen an erster Stelle der Arbeitermassen, aber in einem bestimmten Maße auch der Bauernmassen. Mögen für dieses Werk der kapitalistische Zynismus und die jahrhundertealten Traditionen des Betrugs und der Klassenunterdrückung auch ausreichen, so hindert das diesen Staat nicht daran, in der Attitude des heroischen Kämpfers gegen einen mächtigen und furchtbaren Feind zu posieren!

Die Beweisführung muss natürlich mit der Untersuchung der ökonomischen Ergebnisse der »Zwangskollektivierung« beginnen, die, wie wir gesehen haben, mit Hilfe eines groß angelegten Manövers unter dem Motto »Entfaltung des Klassenkampfes im Dorfe« und »Entkulakisierung« durchgeführt wurde. Stalin selbst schätzte den Wert des den Kolchosen übereigneten Kulakenbesitzes auf 400 Mill. Rubel (!). Wenn man bedenkt, dass ein guter Teil davon im folgenden Durcheinander mit Sicherheit verschwendet wurde, so ersieht man, dass die Maßnahme ökonomisch absolut unwirksam war für eine Produktivitätserhöhung der kaum ausgerüsteten russischen Landwirtschaft (38). Andererseits, wie wir weiter oben schilderten, sollte Stalin selbst einige Jahre später zugeben, dass die Operation zu einer massiven Vernichtung von ökonomischen Ressourcen geführt hatte. Was die Ernte angeht, so soll sie 1930 835 Mill. Zentner erreicht haben, fiel jedoch 1931 auf 700 Mill. (gegen 801 Mill. 1913 unter dem Zaren) und 1932-33 noch tiefer zurück. In diesen Jahren herrschte auf dem Lande der schreckliche »Stalinhunger«, der Millionen Tote zur Folge hatte: Zustände aus dem selbst gegenüber Russland unvergleichlich rückständigeren Indien prägten das Bild dieser sich »voll entwickelnden«, »rein kommunistischen Revolution«! Dieses schöne Ergebnis ist glücklicherweise nicht der Passiva des Klassenkampfes des modernen Proletariats zuzuschlagen, sondern derjenigen des archaischen »Klassenkampfes im Dorfe« und dessen Bestrebung, zulasten der allgemeinen Interessen der Gesellschaft und der Entwicklung der Produktivkräfte eine Gleichheit der Kleinproduzenten bei der Nutzung des Bodens und seiner Produkte wiederherzustellen (39). Stalin hatte selbstverständlich nicht vor, den Staat in den Dienst der utopischen Gleichheitsbestrebungen der Bauern zu stellen. Hätte er aber irgendeine Sorge um den Sozialismus im Sinne gehabt, so würde er niemals versucht haben, im Dorfe einen Antikapitalismus reaktionärer Prägung neu zu beleben und zu fördern (40). Das Ergebnis davon war nicht nur weitere Leiden und Entbehrungen für das Proletariat infolge der Versorgungsschwierigkeiten, sondern auch die Herausbildung eines modus vivendi zwischen Stadt und Land, der in einem doppelten Gegensatz zur emanzipatorischen Aufgabe des Proletariats stand. Einerseits verfolgte die Politik der niedrigen Agrarpreise (die Bucharin zu Recht bekämpfte) eine maximale Ausbeutung des Landes durch die Stadt; andererseits wurden die Bauern der Barbarei des zwerghaften Familienbetriebs ausgeliefert: In der neuen Organisation der Landwirtschaft, die sich nach vier Jahren beispielloser Erschütterungen 1930 aus dem Chaos herausbildete, wurde dem Bauern als eine Art Ausgleich für die staatliche Ausplünderung der freie Besitz über ein Stück Hofland zugestanden, dessen ökonomische Bedeutung immer mehr wachsen sollte. Aus allen diesen Gründen, die wir rekapituliert haben, erkannte die marxistische Linke Italiens, aus der die Internationale Kommunistische Partei hervorgegangen ist, in der Kolchose »die wahre Kapitulation des glorreichen Bolschewismus« auf sozio-ökonomischem Gebiet.

Die beschleunigte Industrialisierung, die gerade anfing, führte den Städten eine wachsende Arbeitskraft zu, und die einzige Bedeutung der stalinschen Politik bestand darin, die Ernährung dieser Städte, gleichwie, sicherzustellen. Ein »kommunistischer« Zug ist darin nicht zu erkennen, denn auf allen, ja selbst auf den rückständigsten Stufen der Zivilisation mussten sich die verschiedensten Regime um die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln kümmern. Und dieses Werk war so wenig proletarisch, dass die Staatsmacht fast gleichzeitig mit der »Hexenjagt« der »Entkulakisierung« auch eine Offensive gegen die Arbeiter entfesselte. Die Tatsachen sind bekannt (41): »Am 19. Oktober 1928, auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen die Moskauer Rechten, nahm das Zentralkomitee eine Resolution über eine neue industrielle Politik an: »Infolge der Rückständigkeit unserer Technik können wir unsere Industrie nur dann mit solchen Wachstumsraten entwickeln, die es ihr erlauben, den Abstand zu den kapitalistischen Ländern nicht nur zu verringern, sondern diese Länder einzuholen und zu überholen, wenn wir alle Mittel und Kräfte des Landes ins Werk setzen und wenn in den proletarischen Reihen eine große Beharrlichkeit und eine eiserne Disziplin herrschen««. Die Zurückhaltung bestimmter Schichten der Arbeiterklasse und gewisser Teile der Partei wurde als »Flucht vor den Schwierigkeiten« bezeichnet. Indessen befasste sich der Wirtschaftsrat mit dem Projekt eines Fünfjahresplanes für die Industrie. Der Zusammenstoß mit der zweiten Bastion der Rechten, nämlich den von Tomski geführten Gewerkschaften, war unausweichlich. (Nebenbei gesagt, der von Trotzki des Trade-Unionismus bezichtigte Tomski war ein alter revolutionärer Militant; er gehörte seit 1904 der Sozialdemokratie an, wurde unter dem Zarismus zur Zwangsarbeit verurteilt, schloss sich den Bolschewiki an, rückte 1919 ins Zentralkomitee, 1922 ins Politbüro und war von 1917 bis 1929 Vorsitzender des Zentralrats der Gewerkschaften.) »Tomski war fest entschlossen, die allgemeine Rolle der Gewerkschaften als Verteidigungsorgan der Arbeiterinteressen zu wahren (…), (darin) sah er ein unentbehrliches Element der Sowjetordnung. Demgegenüber verringerte die neue Politik die Rolle der Gewerkschaften auf den blossen Kampf um eine Erhöhung der Rentabilität und der Produktion. Seit Juni kritisierte das Zentralkomitee zahlreiche »bürokratische Missbräuche« der Gewerkschaftsführung und rief die Partei dazu auf, in die Gewerkschaften einzugreifen, um die »Fehler« über Tomskis Kopf hinweg zu berichtigen. Die »Prawda« warf (der Gewerkschaftsrechten) vor, sie verweigere eine Selbstkritik und mobilisiere nicht die Massen für den sozialistischen Aufbau. Ende Dezember gab Tomski auf dem gesamtrussischen Gewerkschaftskongress einige Unzulänglichkeiten zu, forderte jedoch erneute Anstrengungen, um die Arbeiterlohne insgesamt zu erhöhen. Dessen ungeachtet unterbreitete die kommunistische Fraktion (d.h. die stalinistische Fraktion in den Gewerkschaften, IKP) eine Resolution (...) mit der Forderung einer beschleunigten Industrialisierung und mit der Zurückweisung einer »rein arbeitermäßigen« (sic!) Auffassung der Gewerkschaften, denn diese hätten die Aufgabe, die Massen für eine Überwindung der Schwierigkeiten der Wiederaufbauperiode zu mobilisieren. Diese Resolution wurde mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Dieser Desavouierung Tomskis folgte die Wahl von fünf wichtigen Mitgliedern des Parteiapparates in die Führung der Gewerkschaften. Die Rechte war geschlagen.« Es ist klar, dass in dieser Phase die Unterscheidungen zwischen »Rechten« und Zentrum jegliche Bedeutung verloren haben: Rechts vom Zentrum gibt es nichts mehr (genau das Gegenteil der These Deutschers). Und die schwache Verteidigung der Gewerkschaft durch Tomski soll man nicht als Manifestation von »Zunftdenken« abtun, sondern als leider äußerst schwachen Widerstandversuch gegen die Erdrückung der russischen Arbeiterklasse durch den »sozialistisch« verkleideten Staatskapitalismus.

Wir wollten zeigen, dass die russische Arbeiterklasse 1927-29 nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomische Niederlage erlitten hat, dass also der so gerühmte Sieg über die ländliche Bourgeoisie und Zwergbourgeoisie keineswegs ein Sieg der Arbeiterklasse war. Wenn man dies verstanden hat, so kann man auch leicht begreifen, dass die stalinistische Bauernpolitik schließlich nichts anderes darstellte, als eine zugespitzte Form der Unterdrückung der kleinen Produzenten durch das Kapital. In einem mehr oder weniger großen Maße gehört diese Unterdrückung überall und zu allen Zeiten zum Kapitalismus, und ihre extreme Zuspitzung in Russland ist nicht auf einen geheimnisvollen Wesenszug der stalinschen Macht und noch weniger auf die »falschen Auffassungen« Stalins über den Sozialismus zurückzuführen. Die Ursache für diese Zuspitzung liegt in einem Phänomen, das mindestens in den Ländern alter Besiedlung als klassisch gelten kann, nämlich das Missverhältnis zwischen kapitalistischer Industrie und kleinbürgerlicher Landwirtschaft: Gerade dieses Missverhältnis hatte in Russland infolge der Verspätung der bürgerlichen Revolution einerseits und das Ausgestoßen sein vom Weltmarkt andererseits ein wahrscheinlich einmaliges Ausmaß erreicht. Der Grund für den »Der intellektuellen Fantasie von Laplace verdanken wir die Beschreibung eines universalen Gehirns, das gleichzeitig alle Vorgänge der Natur registrieren, die Dynamik ihrer Bewegung messen und die Ergebnisse ihres Wirkens voraussehen würde. Gäbe es ein solches Gehirn, so würde es selbstverständlich einen endgültigen und vollkommenen Wirtschaftsplan a priori erstellen können, beginnend mit der Futteranbaufläche und endend bei den Westenknöpfen. Die Bürokratie bildet sich freilich ein, vor allem sie besitze ein solches Hirn (...) Doch in Wirklichkeit täuscht sie sich ihrer schöpferischen Fähigkeiten (42) ist sie in Wirklichkeit gezwungen, sich auf die Verhältnisse (oder besser Missverhältnisse), die vom kapitalistischen Russland Übernommen wurden, zu stützen, sowie auf die gegebene Struktur der zeitgenössischen kapitalistischen Nationen und schließlich auf die Erfahrungen, Erfolge und Fehler der Sowjetwirtschaft.«

«Selbst eine richtige Verbindung all dieser Elemente erlaubt nur die Ausarbeitung eines unvollständigen Plangerüsts (43) (...) Die Prozesse des Wirtschaftsaufbaus spielen sich gegenwärtig noch nicht in einer klassenlosen Gesellschaft ab. Die Fragen der Verteilung des Nationaleinkommens bilden die zentrale Achse des Plans« (Wohlgemerkt nicht des stalinistischen, sondern eines den Tages- und Endzielen des Proletariats unterstellten »Plans«, IKP). »Durch den Kampf zwischen den Klassen und Gesellschaftsgruppen einschließlich der verschiedenen Schichten des Proletariats drängen sich diese Fragen auf. Die wichtigsten ökonomischen und sozialen Probleme, wie das Verhältnis von landwirtschaftlichen Lieferungen an die Industrie und Industrielieferungen an die Landwirtschaft, das Verhältnis von Akkumulation und Konsumption, von Kapitalfonds und Lohnfonds, die Regelung der verschiedenen Arbeitskategorien (Facharbeiter, Hilfsarbeiter, Gelegenheitsarbeiter, Spezialisten, führende Bürokraten), schließlich die Verteilung des im Dorf produzierten Nationaleinkommens unter den verschiedenen Bauernschichten, alle diese Probleme erlauben, und zwar schon durch die Tatsache ihrer blossen Existenz, keine aprioristischen Entscheidungen (...) « Für Trotzki kann es nicht um die Beseitigung der »Missverhältnisse binnen weniger Jahre« gehen (das wäre eine Utopie), sondern um ihre Verringerung und damit um die Vereinfachung der Grundlagen der Diktatur des Proletariats (44) bis zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Siege der Revolution das Schlachtfeld der sozialistischen Planung ausdehnen und »das Planungssystem neu gestalten werden« (Hervorhebung IKP; »ökonomische Probleme der UdSSR«, Prinkipo, 1932).

Die offiziellen Phrasen stehen im vollkommenem Gegensatz zu diesen marxistischen Betrachtungen: Artikel 11 der Verfassung von 1936 verstieg sich gar zu folgender Ungereimtheit, die den stalinistischen Voluntarismus sehr plastisch darstellt: »Das wirtschaftliche Leben der UdSSR wird durch den staatlichen Volkswirtschaftsplan (...) bestimmt und gelenkt.« In Wirklichkeit wird das Wirtschaftsleben natürlich durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die Klassenverhältnisse und die Weltlage bestimmt, und was die Lenkungsmöglichkeit angeht, so steht sie selbstverständlich im umgekehrten Verhältnis zu den sozialen Widerstandsbestrebungen, die die Wirtschaftspolitik des Staates in den verschiedenen Gesellschaftsschichten hervorruft: Die Wirklichkeit kümmert sich Überhaupt nicht um verfassungsmäßige Glaubensparagraphen. Die stalinistische »Wirtschaftslenkung« widersprach voll und ganz den Klassensorgen, von denen Trotzkis zitierter Text getragen wird; und wenn Stalins Erben ihrerseits ab 1956 das System nach ihrer Facon »ummodeln« sollten, so keineswegs weil die sozio-ökonomische Natur ihrer Sorgen sich verändert hätte, sondern ganz einfach weil die UdSSR eine neue Stufe der Entwicklung ihrer Produktivkräfte (Produzenten inbegriffen) erreicht hatte.

Der absolute Siegesmarsch der kapitalistischen Imperative über die unmittelbar proletarischen, geschweige denn sozialistischen Bedürfnisse geht aus allen ökonomischen Zahlen hervor, wohl aber am krassesten aus der Gegenüberstellung der jeweiligen Entwicklung von Sektor A (Produktionsgüter) und Sektor B (Konsumgüter). Die Zahlen der untenstehenden Tabelle geben den Jahresindex der Gesamtindustrieproduktion sowie jeweils der Produktion von Sektor A und Sektor B, immer im Vergleich zum Jahre 1913 wieder; die Werte für 1913 wurden in allen drei Fällen gleich 100 gesetzt, natürlich nicht (versteht sich!) weil die absoluten Werte in jenem Jahr gleich gewesen wären, sondern weil hier nicht die absoluten Werte sondern die Wachstumsraten wichtig sind:

 

Jahr gesamte Industrie-produktion davon
 Sektor A Sektor B
(Produktions-) (Konsumgüter)
1913 100 100 100
1917 71 81 67
1921 31 29 33
1940 852 1.554 497
1945 782 1.744 295
1958 3.662 8.332 1.379
1964 6.182 14.207 2.023  (45)

  

Unterschied zwischen Bauernpolitik des Stalinismus und der Bauernpolitik jener Staatsmächte, die sich in der Vergangenheit ebenso mit den Ergebnissen einer bürgerlich-demokratischen Revolution konfrontiert sahen, liegt also keineswegs in einer jeweils anderen Klassennatur. Auch der Stalinismus gehorchte bürgerlichen Klassenimperativen, aber unter spezifischen Bedingungen: kurz gesagt, der Konflikt zwischen XX. Jahrhundert und »Mittelalter« wurde hier nicht zwischen entfernten Kontinenten ausgetragen sondern in den Grenzen eines einzigen, isolierten Landes!

Wenn der Stalinismus in einem großen Maß mit dem vermeintlichen Radikalismus seiner Bauernpolitik prunkte, so stützte sich seine sozialistische Demagogie doch vor allem auf das Staatseigentum an den Produktionsmitteln in der Industrie und auf das Vorhandensein einer zentralen Planung. Das hat sich bei den Erben Stalins fortgesetzt: Sie sind zwar liberaler gegenüber der Landwirtschaft und viel vorsichtiger im Hinblick auf den ökonomischen Nutzen einer durchgreifenden staatlichen Intervention in die Sphäre der Produktion und Zirkulation, auf das heilige Dogma aber lassen sie nichts kommen: Nach wie vor bedeuten Verstaatlichung der »wichtigsten« Produktionsmittel und Sozialismus ein und dasselbe. Trotz des fatalen Echos, das dieser Glaubenssatz bei der Arbeiterklasse gefunden hat, ist er völlig unhaltbar. Der Begriff Staatseigentum bezeichnet eine juristische Form und nicht ein ökonomisches Produktionsverhältnis, vor allem liefert er überhaupt keine Antwort auf die Frage nach der Richtung, in der sich diese Entwicklung vollzieht. Fangen wir mit einem einfachen Beispiel an. Die Stalinisten selbst haben die Leiter der Staatsbetriebe periodisch wegen Sabotage, Korruption und Machtmissbrauch angezeigt; damit gaben sie klar zu, dass die Ersetzung der besoldeten Angestellten der Aktiengesellschaften durch die besoldeten Angestellten des Staates keineswegs zu den von ihnen gepriesenen sozialistischen Vorteilen der Nationalisierung gehört, d.h. dass diese sozialistischen Vorteile im Gegenteil nur in der wachsamen Kontrolle durch die Partei gesucht werden können. Gerade so geht der Moskauer Revisionismus in der »Theorie« vor: Der potentielle Kritiker wird anscheinend von dem unsicheren und unbeständigen Bereich der Politik auf die handfesten Tatsachen der Wirtschaft zurückgewiesen (»jawohl, man hat viele Fehler gemacht, es bleibt aber die unwiderlegbare Tatsache des sozialistischen Staatseigentums«), aber in Wirklichkeit hält man ihn immer im Kreise eines einzigen und unhaltbaren politischen Axioms gefangen: Die Kontrolle durch die Partei sei eine proletarische und sozialistische Kontrolle. Die Stalinisten täuschten vor, neue Verhältnisse zwischen den Menschen einzuführen im Rahmen einer Wirtschaftsordnung, die nach wie vor auf der Lohnarbeit beruhte und alle anderen Charakteristika des Kapitalismus aufwies: Doppelcharakter der Produkte als Gebrauchswerte und Tauschwerte, d.h. Warenproduktion; Verwandlung des Warenkapitals in Geldkapital und umgekehrt. Nun, auf dieser Grundlage sind die Verhältnisse einer universellen Kooperation unmöglich; auf dieser Grundlage müssen sich alle Interessen durchkreuzen und zur allgemeinen Konkurrenz führen: Damit sie ihr Plansoll erfüllen, treten die Staatsbetriebe in Konkurrenz zueinander, um sich die notwendigen aber unausreichenden Rohstoffe zu beschaffen und Arbeitskräfte anzuwerben; der Staat steht in Konkurrenz zu seinen Kontrahenten, ob es sich dabei um die bäuerlichen Kolchosen handelt oder um die »Organisationen«, die unter Vertrag unzählige »Montage- und Bauarbeiten« durchführen; zwischen Stadt und Land besteht Konkurrenz. Und die Arbeiterklasse, die theoretisch die Säule des Systems ist? Konnte sie sich unter dem Vorwand, dass der gewerkschaftliche Kampf (Ausdruck der Konkurrenz zwischen Lohnarbeitern und Arbeitgebern) verboten ist, fernhalten lassen von all dieser bürgerlichen Gärung, die den offiziellen Mythos der auf Lohnarbeit und Warenaustausch beruhenden Erlösung der Sowjetbürger so krass Lügen strafte? Selbstverständlich nicht. Vielmehr zwang das nackte Bedürfnis sie dazu - und zwar so heftig wie jede andere Gesellschaftsschicht. Und keine Klassentradition konnte sie mehr aufhalten, nachdem sie sich ja zum größten Teil aus soeben zugewanderten, von einem tiefen Individualismus geprägten Bauern rekrutierte (46). Auch sie kämpfte also, aber unterschwellig und in den primitivsten Formen, die von der vollkommenen Trägheit in der Produktion bis zur Beschädigung der Produktionsmittel und zur allgemeinen Plünderung des »Staatseigentums« reichten - genau wie die Bauernschaft.

Hier geht es nicht darum, ob die Partei an der Macht proletarisch und revolutionär ist oder nicht; es geht auch nicht darum, jede Einflussmöglichkeit des Staates über die Wirtschaft zu bestreiten. Hier geht es ganz einfach darum, dass es absolut unmöglich ist, eine solche Produktionsweise einer gesellschaftlichen Kontrolle zu unterziehen, sei es, weil die zersplitterte Einzelarbeit und das Eigentum von einzelnen sozialen Gruppen einen riesigen ökonomischen Sektor nach wie vor beherrschen, sei es, weil die gesellschaftliche Arbeit, sofern sie - wie in der Industrie - besteht, auf Lohnarbeit und Betriebswirtschaft beruht und somit einen antagonistischen Charakter hat, der, wie es unter dem Kapitalismus immer der Fall ist, den gesellschaftlichen Charakter der Produktion unterjocht. Gerade Trotzki, der wie kein anderer für die »Planung« und die Ausdehnung des Verantwortungsbereiches der Planungsinstanz (des Gosplan) gekämpft hatte (47), widerlegte in glänzender Weise die Einbildungen der stalinschen Partei; diese glaubte ganz einfach, die zynische Verkennung der Lebensbedürfnisse der Massen und die Unterjochung der Pläne unter den Selbstzweck des quantitativen Wachstums bedeute einen tatsächlichen Sieg über die Anarchie der Warenproduktion und damit eine tatsächliche Kontrolle über die Wirtschaft: Selbst der Leser, der sich mit Zahlen schwer tut, kann eine sehr einfache Tatsache feststellen: Wenn die falschen russischen »Sozialisten« die Massen dazu auffordern, ihre »grandiosen Errungenschaften« zu bewundern, nämlich die Tatsache, dass ihre Industrieproduktion zwischen 1913 und 1964 um das 62-fache gestiegen ist, so möchten sie wohlgemerkt glauben machen, dass sich das Los der proletarischen und bäuerlichen Massen unheimlich ohne Vergleich zu dem, was man im Westen beobachten konnte, verbessert hat. In Wirklichkeit war die Steigerung der Produktion von Industrieerzeugnissen für den Verbrauch sehr viel geringer: 20-fache als Ganzes und, wenn man die Bevölkerungszunahme zwischen 1913 (159 Millionen) und 1958 (208 Millionen) berücksichtigt, nur 12-fache pro Einwohner. Berücksichtigt man dazu noch, dass 1913 das Lebensniveau der russischen Bevölkerung unvergleichlich hinter dem der europäischen stand, so ist das Ergebnis mehr als bescheiden. Ganz anders sieht es mit dem Sektor A, mit der Produktion von Investitionsgütern und Waffen aus, die wegen ihrer Beschaffenheit zum Verbrauch im üblichen Sinne des Wortes nicht geeignet sind. Hier haben wir einen Zuwachs, der absolut das 141-fache, pro Kopf immerhin das 113-fache beträgt, also eine in jedem Fall beachtliche Zahl. Was bedeutet das? Dass die nationale Macht Russlands unter Stalin spektakulär gewachsen ist, ohne dass sich das Los der Bevölkerung -und vor allem des Proletariats, versteht sich (48) - wesentlich verbessert hätte. Darin liegt eine schlagende Bestätigung der marxistischen These, derzufolge nationale Größe und proletarische Interessen nicht miteinander übereinstimmen, sondern in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen - und ebenfalls, dass der Sozialismus in einem Lande eine reaktionäre Utopie darstellt. Um solche Schlussfolgerungen abzutun, wenden die Moskaufreunde im allgemeinen mit der üblichen Heuchelei ein, der Sozialismus reduziere sich überhaupt nicht auf die Erhöhung des individuellen Verbrauchs, ja es sei im Gegenteil der Kapitalismus, der mit allen verfügbaren Mitteln oft absurde und selbst schädliche Bedürfnisse wecke, um den Massenverbrauch künstlich aufzublähen, und zwar allein mit der Absicht, dem Kapital neue Akkumulationsmöglichkeiten zu eröffnen. In einem gewissen Maße stimmt das auch (49), der Einwand nimmt sich aber lächerlich aus, denn es geht weniger um die Entwicklung des Massenverbrauchs an sich als vielmehr um des eklatante Missverhältnis zwischen diesem Verbrauch und der Gesamtbewegung der Produktion des materiellen Kapitals.

Dieses Missverhältnis kennzeichnet den Kapitalismus: Diese Produktionsweise unterscheidet sich darin von allen früheren und ebenso von der künftigen, der sozialistischen Produktionsweise. Im Kapitalismus ist die Produktion von Konsumtionsgütern nicht der Zweck, sondern eine einfache Bedingung der ökonomischen Tätigkeit. Wenn die Erzeugnisse des Sektors B für die Unternehmen dieses Sektors ein Warenkapital darstellen, dessen Verkauf wie jeder andere die Realisierung eines Profits ermöglicht, so verhält es sich ganz anders vom Standpunkt der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit: Die Verbrauchsgegenstände, die den ökonomischen Kreislauf verlassen, erscheinen in dem Augenblick ihrer Konsumtion nicht als Kapital sondern als Revenue, denn sie werden entweder gegen den Lohn oder gegen den Teil des Mehrwerts ausgetauscht, den die herrschende Klasse für ihren persönlichen Verbrauch bestimmt. Für den bürgerlichen Staat wird das wirkliche Kapital im gesamtstaatlichen Rahmen durch die Produktionsgüter gebildet, d.h. durch die Gesamtheit der Industrieanlagen, Maschinen und Rohstoffe, die man, wie es die Kapitalisten sagen, »produktiv konsumiert«. Dieses materielle Kapital ist nicht nur die scheinbare Quelle des Ganzen, von der Nationalwirtschaft in einem gegebenen Produktionszyklus erbrachten Profits sondern auch die Grundlage ihrer ökonomischen und militärischen Macht im Weltmaßstab. Dem Kapitalismus geht es in Wirklichkeit um das Wachstum dieses materiellen Kapitals: der Verbrauch im eigentlichen Sinne des Wortes ist etwas »Unproduktives«. Er wird lediglich einerseits als ein Mittel unter anderen betrachtet, um Geschäfte zu machen und einen. Profit zu realisieren, andererseits als eine Bedingung, bei deren Ausbleiben die Arbeiter nicht mehr arbeiten könnten (die obige Tabelle erfasst nur die von der Industrie erzeugten Konsumtionsgüter, es ist aber klar, dass der größte Teil der Agrarproduktion zum Sektor B gehört), und die Kapitalisten selbst, von ihrem Leben völlig enttäuscht, nicht mehr zur Investition getrieben würden. Es ist klar, dass das Kapital nicht den Wohltätigkeitszweck verfolgt, die Arbeiter und die anderen Werktätigen mit allen möglichen Gütern zu beliefern, wenn es sich Jahr für Jahr vergrößert und akkumuliert. Das wird allein schon durch die allgemeine Wehklage bewiesen, welche ein Generalstreik für die Erhöhung der gegen Konsumtionsgüter auszutauschenden Löhne oder bereits eine »gefährliche Konjunkturerhitzung« infolge einer zu starken Nachfrage hervorrufen. Allerdings verfolgt das Kapital entgegen der idiotischen Auffassung der Opportunisten ebensowenig den plausibleren, aber viel zu eng gefassten Zweck, einer Handvoll Großbourgeois ein Leben wie Gott in Frankreich zu erlauben. Kurzum, es stand dem Kapitalismus zu, die Unterordnung der Produktion unter die Bedürfnisse der Menschen, die so alt war wie die Zivilisation, auf den Kopf zu stellen, um eine neue Zivilisation zu schaffen, in der das Leben der Menschen bis in die kleinsten Einzelheiten den Bedürfnissen der Produktion unterstellt ist.

Aber warum zeigt sich dieses Missverhältnis in der russischen Wirtschaft noch krasser als überall sonst? Das hängt zum Teil, aber nur zum Teil, damit zusammen, dass sie von einer sehr niedrigen Stufe ausgehen musste, dass sie sich mit einem Grundstock an Kapital ausrüsten musste, was - wie wir sahen - die Marxisten ja nie bestritten haben. Das ausufernde Missverhältnis ist aber nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass die machthabende Partei den »Mut« hatte, eine kapitalistische Politik zu praktizieren ohne jegliche Zugeständnisse an die »vergeblichen Illusionen« der Massen, die sich naiv vorstellten, dass die Produktion für den Menschen da sei und nicht der Mensch für die Produktion, und noch weniger an die »sentimentalen und sozialdemokratischen« Einwände der Revolutionäre, die geltend machten, dass diese Überzeugung den proletarischen Sozialismus kennzeichne. Aber wenn sie zumindest bis zu den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg eine solche Unnachgiebigkeit zur Schau stellen konnte, so hängt das nicht mit etwaigen Eigenarten der sowjetischen Institutionen zusammen sondern lediglich mit einem außerordentlichen Verhältnis zwischen den Klassenkräften, die sich gegenseitig neutralisierten, und mit der weltweiten Isolierung Russlands. Selbst der Fachmann für sowjetische Wirtschaft, Bettelheim, das Russland für sozialistisch hält (50), muss zugeben, dass »die Frage der ökonomischen Wahl in der UdSSR keineswegs durch die alleinige Handhabung der Planungsinstrumente entschieden wird«. Mit anderen Worten, die ökonomische Wahl entspringt einer Politik, die durch die »Planungsinstrumente« ermöglicht wird, die aber durch Klassenerwägungen bestimmt wird und nicht - wie sich die Idioten einbilden - durch das Vorhandensein der Nationalisierung. Gerade das meinen wir auch. Es ist das kapitalistische Streben nach nationaler Größe, das, selbst wenn eine kapitalistische Klasse nicht offen in Erscheinung tritt, sich der stalinistischen und nachstalinistischen Macht aufgezwungen hat und das sie dazu führte, für die absolute Vorherrschaft der Schwerindustrie einzutreten. Und die heutigen »Liberalisierer« können auf dieses Credo nicht verzichten, welche kleinen Reformen sie in die Wirtschaftsverwaltung auch einführen mögen. Das »Planungsinstrument«, das am geeignetsten ist, ihnen die praktische Verwirklichung dieser Wahl zu ermöglichen, heißt Umsatzsteuer zulasten der Staatsunternehmen und Genossenschaften. Nicht umsonst wird sie von den Sowjetökonomen »eine der wichtigsten Methoden der Verteilung der sozialistischen (sic!) Akkumulation und der finanztechnischen Einwirkung auf die sozialistische Wirtschaft« genannt. Diese Steuer, deren Satz je nach Tätigkeitsgebiet und Unternehmenslage variiert (51), bildet zusammen mit der »Ertragssteuer« (die sich zwischen 10% und 80% der jeweiligen Gewinne bewegt) eine der wichtigsten Quellen der staatlichen Finanzierung der Betriebe; diese verbindet sich in den verschiedenen Proportionen mit der Finanzierung der Betriebe aus Eigenmitteln; auf diese Weise wird die erforderliche Kapitalinvestition gewährleistet. Ob der Staat ohne die Beseitigung der mehr oder weniger selbständigen und rivalisierenden Gruppen der durch die Oktoberrevolution gestürzten städtischen Bourgeoisie je in der Lage gewesen wäre, eine so systematische und rigorose Wertübertragung von der Konsumtionsgüterindustrie in die Industrie des Sektors A sicherzustellen, ob er dann je in der Lage gewesen wäre, die Konsumtionsgüterindustrie so hoch zu besteuern, ohne dass sie dabei ihre gesellschaftlich so unentbehrliche wie in den Augen der neokapitalistischen Macht politisch zweitrangige Tätigkeit hätte einstellen können, sei dahingestellt. In dem Maße, in dem die Entpersonalisierung des Kapitals einen realen »Vorteil« darstellte, diente dieser Vorteil lediglich der hemmungslosesten Akkumulation des Kapitals und keineswegs dem Proletariat, vom Sozialismus ganz zu schweigen, denn dieser war, wie wir ausführlich belegt haben, im unmittelbaren Programm der Bolschewiki nicht enthalten, und fängt übrigens gerade dann an, wenn die Fragen der Finanzierung und Subvention, der Wertübertragung und der Wirtschaftspolitik aufhören zu existieren: Diese Fragen gehören entweder zu einer sehr niedrigen Phase des Übergangs zur neuen Gesellschaft, oder, wie es in Russland seit 1929 der Fall ist, des Übergangs zum modernen Imperialismus (52).

Befassen wir uns nun mit der Agrarproduktion. Sie bildet den wesentlichen Teil des Sektors B (Konsumtionsgüter), denn von ihr hängt ja die Ernährung der Bevölkerung ab. Für die Darstellung ihrer Entwicklung verfügen wir über keine Tabelle, die mit der vorhergehenden vergleichbar wäre; wir verfügen aber über eine Tabelle, die mit Zahlen sowjetischen Ursprungs (53) zusammengestellt wurde und doch eine beredte Sprache spricht. Während die Kurve der Industrieproduktion seit 1921 einen ständigen Aufstieg zeigt (Stagnation und Verfall waren nur zwischen 1940 und 1945 zu verzeichnen), läuft die Kurve der Agrarproduktion fast horizontal mit Schwankungen unterhalb des Indexes 100; bis 1953-54 bewegt sie sich weit unter dem Index 200; während des Krieges ist aus offensichtlichen Gründen wie bei der Industrie ein Sturz zu verzeichnen, er geht allerdings bis unter den Index 100. Wir verfügen auch über eine Tabelle mit den Durchschnittserträgen für die verschiedenen Agrarprodukte je Hektar: Hier zeigt sich die landwirtschaftliche Bilanz des kapitalistischen Russland Nr. 2 als noch beklagenswerter als die der Konsumtionsgüterindustrie:

 

Durchschnittlicher Ertrag in Zentner/Hektar
  1903-1913 1938-1940 1949-1953 1954-1962
 Getreide 6,9 7,7 7,7 9,2
 Zuckerrüben 150,0 135,0 150,0 174,0
 Kartoffeln 78,0 71,0 89,0 90,0
 Rohbaumwolle 13,0 12,0 15,4 -

 

Um diese Ergebnisse richtig beurteilen zu können, muss man sie mit den Ergebnissen anderer Länder, wo die Landwirtschaft ebenso unter kontinentalem Klima und extensiv betrieben wird, vergleichen. Nehmen wir die Getreideproduktion: In den USA war 1909-13 der Ertrag 9,9 Zentner/Ha, 1954-56 13 Zentner/Ha; für Kanada lauten die Zahlen 11,2 und 13,7 Zentner. Die Ertragserhöhung in Russland stand fast in derselben Proportion, war aber schwacher. Was die Zuckerrüben und die Kartoffeln angeht, so stehen die Erträge noch deutlicher unter denen von Ländern vergleichbarer Naturbedingungen. Der Abstand vergrößert sich noch, wenn man die Erträge der Viehzucht, insbesondere bei den Milchkühen betrachtet. Was die Entwicklung des Viehbestandes pro Kopf der Bevölkerung angeht, so zeigt sie eine deutliche Verschlechterung der Ernährungslage des Landes - Schweinefleisch ausgenommen.

 

Index des Viehbestandes
je Kopf der Bevölkerung (54)
  1916 1960 Veränderung in%
Rinder 100 82 -18%
Kühe 100 77 -23%
Schafe u.Ziegen 100 98 -2%
Schweine 100 163 +63%

 

Ein anderes grundlegendes Element, um das Agrarbild des kapitalistischen Russland Nr.2 abzurunden, liegt in der Entwicklung der qualitativen Struktur. Sie geht aus folgender Tabelle hervor, die ebenso russischen Ursprungs ist:

 

Aufteilung der Saatfläche 1913-1959
jeweiliger Anteil an der Gesamtfläche in %
Jahr Gesamt-fläche
%
Ge-treide
%
Industrie-rohstoffe
%
Gemüse + Kartoff.
%
Futter-mittel
%
1913 100 89,9 4,3 3,6 2
1940 100 73,5 7,8 6,7 12
1953 100 67,9 7,3 6,6 18,2
1956 100 66 6,7 6,1 21,2
1959 100 61 6,3 5,9 26,8

 

Diese Tabelle zeigt, dass Russland die »Getreidephase«, die die Landwirtschaft der vorkapitalistischen Gesellschaften und die ersten Stufen des Kapitalismus charakterisiert, immer noch nicht verlassen hat. Mit der Einführung des Futtermittelanbaus in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts holt Russland mit 150 Jahren Verspätung die in Europa gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts begonnene Agrarrevolution ein (55).

Aber welche Bedeutung haben alle diese wohl bekannten Zahlen, für die das abgedroschenste bürgerliche Denken natürlich den Kommunismus verantwortlich macht? Nun, das Missverhältnis zwischen der Industrieentwicklung und der Landwirtschaftsentwicklung (und wenn wir hier von Industrie reden, meinen wir die Industrie als Ganzes, also einschließlich der Produktion von Konsumtionsgütern, deren Ergebnisse alles andere als brillant sind) charakterisiert gerade das geschichtliche Zeitalter des Kapitalismus. Der erste Grund dafür ist sehr einfach: Die jährliche Umschlagszahl des Kapitals, die in der Industrie erreicht werden kann, ist viel höher als in der Landwirtschaft, die ja vom natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten abhängig ist. Nun ist gerade die Beschleunigung der Umschlagszeit des Kapitals ein Mittel im Kampf gegen den Fall der Profitrate, der den technischen Fortschritt tendenziell begleitet. Sieht man von Einwanderungsländern wie den USA oder Australien ab, wo das Bedürfnis nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen mit beschleunigtem Tempo wuchs und die Entwicklung der großen kapitalistischen Landwirtschaft von der Existenz des kleinbäuerlichen Eigentums nicht gehemmt wurde, so musste das Kapital vorzugsweise der Industrie und nicht der Landwirtschaft zuströmen; hinzu kommt, dass die Nahrungsbedürfnisse viel weniger »elastisch« sind als der Bedarf an den verschiedenen Industrieerzeugnissen. So blieb die Landwirtschaft trotz der Konzentration des Bodens und der fortschreitenden Mechanisierung ein Sektor kleinbürgerlicher Produktion; in verschiedenen Ländern zeigt die jüngste Entwicklung das Schwinden der Landarbeiter, bzw. die maschinelle Bearbeitung immer größerer Flächen durch die Bauernfamilie, während die absolute Lohnarbeiterzahl in der Industrie nach wie vor unbestreitbar wächst. Der Rückstand der russischen Landwirtschaft gegenüber der Industrie hat also nichts Geheimnisvolles an sich; er entspricht vollkommen den Gesetzen der kapitalistischen Produktion. Dieser Rückstand der russischen Landwirtschaft im Vergleich zu den entwickelten Ländern wird allerdings dem »Kommunismus« angelastet. Es ist eine Tatsache, dass die russische Landwirtschaft eine gewisse Konzentration erfahren hat; sie ist heute nicht mehr die elende Parzellenwirtschaft der Jahre 1927-28, die auf den Städten so vernichtend lastete bzw. die Niederlage der proletarischen Partei und die großkapitalistische Offensive der stalinschen Ära hervorrief. Worauf ist also die ungeheure Stagnation zurückzuführen? Die Gegner des Kommunismus antworten natürlich sofort: auf den »Kollektivismus«. Diese Erklärung erklärt aber überhaupt nichts, denn wenn es in der UdSSR »Kollektivismus« gibt, so in der Industrie nicht weniger als in der Landwirtschaft - und wie ließe sich dann die spezifische Rückständigkeit der Landwirtschaft erklären? Hier erscheint der reaktionäre Hintergrund dieser vulgären, aber weit verbreiteten These ganz deutlich: in ihrem Kern liegt der Gedanke, dass es irrsinnig sei, die landwirtschaftliche Arbeit nach den Grundsätzen der Industriearbeit zu organisieren; assoziierte Arbeit und Aufgabenteilung (nicht zu verwechseln mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung) sollen demzufolge nur in der Industrie anwendbar sein. Wenn dem so wäre, müsste man alle kommunistischen Hoffnungen ablegen, denn ohne Abschaffung des vorhandenen Gegensatzes von Stadt und Land, von Industrie- und landwirtschaftlicher Arbeit wird man nie zu einer Gesellschaft gelangen, die »nach einem gemeinsamen Plan« arbeitet und keine Klassenunterschiede kennt. Nun ist aber die These rein faktisch falsch. Es genügt, die Kolchosen (gemischte Kolchosen mit einem genossenschaftlichen und einem privaten Sektor) mit den Sowchosen (landwirtschaftliche Betriebe, die wie die Industrie organisiert sind und Lohnarbeiter beschäftigen) zu vergleichen: Letztere haben eine höhere Rentabilität. Aus dem Bericht von Chruschtschow im ZK der Regierungspartei (5. Dezember 1958) geht hervor, dass der Arbeitseinsatz in den Kolchosen denjenigen in den Sowchosen pro Produktionseinheit um folgende Werte überstieg:

 

Gebiete Getreide Milch
Schwarzerdegebiet 2,4 Mal 1,3 Mal
Wolgagebiet 2,6 Mal 1,4 Mal
Nordkaukasus 3,0 Mal 1,4 Mal
Westsibirien 2,2 Mal 1,2 Mal
Kasachstan 2,2 Mal 1,1 Mal

 

In Frage gestellt wird also die Kolchose, die heute vorherrschende Form der sowjetischen Landwirtschaft, sowie die Beziehungen, die der Industriestaat mit ihr unterhält.

Der Vergleich zwischen Investitionen in der Industrie und in der Landwirtschaft einerseits und die Untersuchung der Entwicklung der staatlichen Investitionen in der Landwirtschaft andererseits sind besonders aufschlussreich. Wir übernehmen von Bettelheim in der untenstehenden Tabelle zwei vergleichbare Zahlenreihen (handelt es sich ja um ein und dieselbe Quelle), aus der sich Prozentsätze ergeben, die bestimmt zu hoch sind; andere Quellen liefern viel höhere Zahlen für die Investitionen in der Industrie, sagen aber leider nichts über die in der Landwirtschaft aus. Auf der rechten Seite der Tabelle geben wir daher die Prozentsätze wieder, die man jeweils erhält, wenn man von Bettelheims Zahlenreihe für die Investitionen in der Industrie ausgeht. Die Wahrheit wird wohl zwischen beiden Prozentreihen liegen, man muss aber bemerken, dass die Kurve in beiden Fällen gleich läuft (56).

 

Investitionen  in Mill. Rubel
zum Wert des laufenden Jahres
Jahr Indus-trie Landwirt-schaft  Anteil der Landwirtschaft
an der Gesamtinvestition
 in%
1928 1.880 379 16,7 % -
1929 2.615 840 24,9 % 9,9
1930 4.115 2.590 38,3 % 12,1
1931 7.407 3.645 32,9 % 16,5
1932 10.43 3.820 26,8 % 15,0
1933 8.864 3.900 30,6 % 17,8
1934 10.62 4.661 30,4 % 16,4
1935 11.880 4.983 29,5 % 15,1
1936 13.96 2.633 15,8 % 7,2
1937 13.93 2.614 15,8 % 6,4
1939 - 1.600 -  3,7 
1940 - 1.300 -  2,9 

 

Aus dieser Tabelle (die dennoch die Stalinisten in einem günstigen Licht erscheinen lässt, unterstreicht sie ja in sicherlich übertriebener Weise ihre Anstrengungen, um eine äußerst rückständige Landwirtschaft auszurüsten) geht auf jeden Fall deutlich hervor, dass die Landwirtschaft die »arme Verwandte« blieb, selbst in den schlimmsten Krisenjahren 1930-35, in denen die Belieferung der entstehenden Kolchosen (57) mit Maschinen und Kunstdünger eine Lebensnotwendigkeit für das Fortbestehen des Regimes darstellte. Ebenso klar geht daraus hervor, dass der Staat, sobald die Gefahr gebannt war, eiligst einen größeren Teil seiner Mittel für die Industrie, an erster Stelle, wie wir gesehen haben, für die Schwerindustrie bestimmt hat. So fallen die Investitionen in der Landwirtschaft seit 1936 auf das ziemlich bescheidene Niveau von 15,8%, das 1939-40 noch weiter sinkt; für diese beiden Jahre gibt es zwar eine Unterbrechung in der ersten Zahlenreihe unserer Tabelle, ihre Tendenz, sich von den Zahlen für die Landwirtschaft abzuheben, ist aber unverkennbar. Für die Nachkriegszeit muss man sich auf Hypothesen beschränken. Nach den massiven Kriegszerstörungen sah der IV. Plan nur für die Jahre 1945-50 ein Investitionsvolumen in der Landwirtschaft von 19,9 Milliarden, d.h. ca. 3,3 Milliarden jährlich vor. Wenn man bedenkt, dass sowjetische Quellen die Planinvestitionen später mit folgenden Zahlen bezifferten, so wäre der Anteil der Investitionen in der Landwirtschaft 1945 auf 7,7 und 1950 gar auf 3,6% gefallen!

 

Investitionen des IV. Wirtschaftsplans
(in Milliarden Rubel)
  Industrie Landwirt-schaft Anteil der Investitionen  in der Landwirtschaft in %
1945 39,2 3,3 7,7 %
1946 46,8 3,3 6,8 %
1947 50,8 3,3 6,4 %
1948 62,1 3,3 5,3 %
1949 76,0 3,3 4,3 %
1950 90,8 3,3 3,6 %

 

In seinem »Paysans soviétiques« (Die sowjetischen Bauern) erklärte Chombart de Lauwe (1960): »Im Laufe der fünf ersten Fünfjahrespläne, ja bis 1956 betrugen die in der Landwirtschaft getätigten Investitionen insgesamt 13 bis 15% der Globalinvestitionen in der Nationalwirtschaft« (58). So groß waren die Sorgen des sogenannten »Arbeiterstaates« um die Versorgung der städtischen Arbeiter...

Diese Investitionspolitik der industriellen Überspannung zu Lasten der Landwirtschaft hat nicht nur einen strikt kapitalistischen Charakter: in ihr liegt auch die stalinistische Bevorzugung der Kolchose, jener genossenschaftlich-privaten Mischform, gegenüber der Sowchose, dem fortgeschritteneren Staatsgut, begründet. In der Tat, um die Sowchosewirtschaft in den Vorkriegsjahren oder in der Wiederaufbauperiode nach dem Krieg (1945-50) verallgemeinern zu können, hatte der Staat seine direkten Investitionen in der Landwirtschaft weiterhin erhöhen müssen, statt sie auf die unbedeutenden Prozentsätze zurückfallenzulassen, die wir für die Jahre 1936-40 und 1945-50 beobachten konnten (und die sich im Laufe der Ära Chruschtschow übrigens keineswegs erhöht haben; darauf werden wir aber später zurückkommen). Die Kleinproduzenten waren in der Kolchose individualistische Kleinbürger geblieben; aber schon als solche erregten sie, nachdem sie infolge der »Zwangskollektivierung« weniger zersplittert waren, die Furcht des Staates; hätte nun der Staat sie in ein riesiges Landproletariat verwandelt, würde er sich bald einem unvergleichlich furchterregenderen Feind gegenüber sehen, als es das zahlenmäßig kleine Industrieproletariat der Städte war (59). Schließlich wäre eine Verallgemeinerung der Sowchosen nicht zu vereinbaren gewesen mit der Aufrechterhaltung einer relativen Überbevölkerung auf dem Lande, wie sie in der Kolchose infolge der Toleranz gegenüber dem kleinen Familienhof durchaus gegeben ist. Viel mehr Arbeitskraft würde freigesetzt werden, als die Industrie, selbst bei vollem Wachstum, unmittelbar hätte eingliedern können; damit würde man zugleich die Gefahr von großen sozialen Bewegungen heraufbeschwören. Das Kolchosensystem erlaubte hingegen eine im Vergleich zu dem normalen Bedarf der mechanisierten Großbetriebe viel höhere Anzahl an Arbeitskräften auf dem Lande, während die Staatsmacht dadurch noch den Vorteil genoss, auf diese überschüssige Landbevölkerung in dem Maße zurückgreifen zu können, in dem zusätzliche Arbeitskräfte in der Industrie benötigt wurden. Wenn die Sache in Russland auch eine besondere Form annahm, so waren es hier nicht weniger als in allen anderen Ländern die Bedürfnisse der kapitalistischen Entwicklung selbst, welche die Abschaffung der archaischen Form der Kleinproduktion auf dem Lande verhindert haben. War aber das mehr oder weniger verschleierte Fortbestehen dieser archaischen Formen eine Folge der Entwicklung, so sollte es gleichwohl zu einem bestimmenden Faktor der schwachen Rentabilitätssteigerung in der russischen Landwirtschaft werden. Spart man einerseits mit den Investitionen, so wird das vorhandene Kapital andererseits nur miserabel genutzt, was der Gleichgültigkeit des Kolchosenkleinbürgers gegenüber den allgemeinen Gesellschaftsinteressen und vor allem dem technischen Unvermögen des Parzellenbauern gut entspricht; die »kulturelle Revolution« auf dem Lande (Alphabetisierung, Entsendung von Fachleuten in die Kolchosen) scheint bis heute noch nicht vollentet zu sein.

Gerade die im kapitalistischen Russland Nr.2 feststellbare Bodenkonzentration zeigt sehr deutlich die Lebenskraft des Parzellenanteils der Kolchosenwirtschaft. Der Stalin’sche Opportunismus der Jahre 1934-45 schützte die kleinen Bauernhöfe als »Nebenerwerb« der Kolchosbauern (und musste sie auf jeden Fall tolerieren als Ausgleich für die drakonischen Forderungen, die er sehr bald der Bauernschaft ebenso wie dem Proletariat stellen sollte); er sah nicht voraus, dass die Parzelle sich in einen unersättlichen Parasiten verwandeln würde, der die Arbeitskraft, welche der Kollektivhof, selbst wenn er mechanisiert ist, benötigt, unentwegt an sich reißt. Zwischen 1928, als die erste Maschinen- und Traktorenstation gebildet wurde, und 1959 ging die durchschnittliche Fläche der Kolchosen von 33 Hektar und 13 Höfen auf 5.800 Hektar und 300 Höfe zurück (60). In der Kolchose mit 13 Höfen belief sich die autorisierte Größe der Einzelparzellen im Prinzip auf 0,25 bis 0,70 Ha, erreichte aber zusammen mit dem Weideland 3-6 Ha; die von den Bauernfamilien privat bewirtschaftete Gesamtfläche durfte 39 bis 78 Ha erfassen: Verglichen mit den durchschnittlichen 33Ha des Kollektivhofes bedeutete dies 54 bis 70% der jeweiligen Gesamtkolchosefläche. Auch 1958 deuten die Verhältnisse auf dieselbe Toleranz hin: In der Kolchose mit 300 Höfen werden 900 bis 1.800 Ha privat bewirtschaftet, was gegenüber den durchschnittlichen 3.200 Ha kollektiv bewirtschafteter Fläche immerhin 21 bis 36% der Gesamtfläche darstellt - entschieden zu viel für eine vermeintlich »kollektivierte« Landwirtschaft

Und entschieden zu viel, wenn man an die »barbarische Verschwendung« von Arbeit - und insbesondere von Frauenarbeit - denkt, die eine solche Produktionsweise zwangsläufig mit sich bringt: Hier ist der Widerspruch zu dem von den Bolschewiki unaufhörlich anvisierten Ziel der Emanzipation der gesamten arbeitenden Masse unter Führung des Proletariats geradezu schmerzlich. Und ebenfalls entschieden zu viel, wenn man bedenkt, dass die Familienbetriebe der Kolchosen keineswegs eine schwache Rolle in der russischen Landwirtschaft spielen, denn 1957 befanden sich in ihren Händen 54% der Kartoffel- und Gemüseanbauflächen und 1959  41% der Rinder, 57% der Kühe, 36% der Schweine und 26% der Schafe - 1958 bestritten sie die Hälfte der Fleisch- und Milchproduktion der UdSSR (61).

Es ist nicht nötig, auf die Unverfrorenheit der Sowjetmacht hinzuweisen: Nachdem sie Sozialismus und verstaatlichte Wirtschaft miteinander identifiziert hatte (was ja ein vollkommener Begriffsmissbrauch ist, denn, wie wir gesehen haben, schließt das eine das andere aus: Nur in der durch die Diktatur des Proletariats gekennzeichneten Phase des Übergangs zum Sozialismus kann die Wirtschaft einen verstaatlichten Charakter haben), verstieg sie sich zu der Behauptung, die Wirtschaftsstruktur sei nach 1929-30 völlig sozialistisch, obwohl diese in der Landwirtschaft einen bedeutenden privaten Sektor wie ein Krebsgeschwür in sich barg, von der wirklichen Lage in der Industrie ganz zu schweigen (darauf werden wir später bei der Behandlung der Reformen der Ära Chruschtschow und dessen Nachfolger zurückkommen). Die einzige Frage, die sich stellt, betrifft die Ursachen für die un­geheure Lebensfähigkeit des archaischen Familienhofes in der UdSSR, denn die Toleranz seitens der Regierung erklärt an sich so viel wie der berühmte »Besitzinstinkt« der Kleinbauernschaft, also nichts. In Frankreich zum Beispiel hat die Regierung keine sozialistischen Ansprüche, die »Toleranz« gegenüber der Bauernschaft ist eine Selbstverständlichkeit, und doch ist die kleinbäuerliche Wirtschaft im Laufe der letzten 15 oder 20 Jahre wahrscheinlich noch viel weiter zurückgegangen als in Russland; und was den »Besitzinstinkt« angeht, so ist er entgegen den Behauptungen der Diener der Bourgeoisie nichts der »menschlichen Natur« (selbst nicht einmal der bäuerlichen) inhärentes, sondern eine einfache Schutzreaktion der Individuen (die selbstverständlich an erster Stelle ihre eigene physische Erhaltung im Sinn haben), die in allen Gesellschaftsformationen in Erscheinung tritt, in denen derjenige, der kein Kapital oder ganz einfach keine Reserven besitzt, zum Sklavendasein, zum Verfall, wenn nicht gar zum Tode verurteilt ist - die Diktatur des Proletariats wird diesen »Instinkt« wenn nicht gleich, so doch mindestens treffsicher vertilgen, denn sie wird die elende und illusorische »Sicherheit« des persönlichen Eigentums durch eine unvergleichlich höher stehende und wirkungsvollere gesellschaftliche und kollektive Sicherheit ersetzen. Das Geheimnis für die Versteinerung des russischen Pseudosozialismus in privatwirtschaftlichen Formen, die noch hinter denen der entwickelteren Länder des Westens zurückbleiben, liegt, wie man bereits erraten haben wird, in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Industriestaat und den Kolchosbauern, und diese Frage geht über die Untersuchung der Investitionspolitik des Staates hinaus.

Bereits 1928 hatte Trotzki darauf hingewiesen, die Verhältnisse zwischen Sowjetstaat und Bauernschaft seien rechnungsmäßig so verwickelt, dass man ziemlich ausgekocht sein müsste, um feststellen zu können, ob der Staat nun faktisch Eigentümer der ihm als theoretischem Besitzer des Bodens rechtmäßig (d.h. vom rein juristischen Standpunkt aus) zustehenden Grundrente war oder nicht. bis zu Chruschtschows halber Kapitulation kann man wohl sagen, dass zwischen stalinistischem Staat und Bauernschaft die Verhältnisse eines verbissenen Kampfes herrschten; dieser Kampf spielte sich hinter dem Schutzschirm der »Arbeiter- und Bauerndemokratie« ebenso ab, wie sich auch der Kampf der bürgerlichen Klassen gegen das Proletariat in den westlichen Ländern hinter der noch brüchigeren Fassade der parlamentarischen Demokratie abspielt. Und jener Kampf wurde eben um die Rente geführt, d.h. um den landwirtschaftlichen Produktionsüberschuss, der nach Deckung des seinem Wesen nach unkontrollierbaren Selbstbedarfs der Bauern unter dem Strich bleibt.

In der Landwirtschaft tangiert die sogenannte Planung, von der die Bewunderer des »russischen Sozialismus« den Mund immer so voll nehmen, nicht die Produktion selbst, oder besser sie betrifft nur indirekt die Produktion. Ihre Grenzen werden von den staatlichen Kapitalinvestitionen in der Landwirtschaft gegeben, und nach allem, was wir geschildert haben, kann man sich gut vorstellen, wie eng sie sind. Hinzu kommen noch die wiederholten Interventionen des Staates, um zu verhindern, dass die Kolchosen den ganzen, aus dem wohlfeilen Verkauf ihrer Erzeugnisse resultierenden Geldertrag unter ihren Mitgliedern verteilen, statt ihn zu behalten und damit den gesetzlich vorgeschriebenen »unteilbaren Fonds«, der ja das Betriebskapital der Genossenschaft bilden sollte, zu vermehren. In Sachen Agrarproduktion beschränkt sich die ganze »Planung«, wie man sieht, schließlich darauf, dass die Kolchosen zu einer privaten Kapitalakkumulation ermuntert werden, was den Staat auch von der schmerzlichen Pflicht entbindet, einen Teil seiner Mittel von der Schwerindustrie in die Landwirtschaft abzuzweigen. Also alles andere als eine sozialistische Planung, die im Gegenteil bestrebt sein müsste, den Spielraum für private Unternehmungen möglichst einzuengen, und übrigens zugleich auch alles andere als eine Planung schlechthin, denn private Unternehmungen sind ihrem Wesen nach unkontrollierbar und unvorhersehbar.

Wenn es überhaupt eine »Planung« gibt, so wirkt sie erst auf der Stufe der Eintreibung der Produkte, die auf der Grundlage eines komplizierten Systems von Lieferpflichten an den Staat organisiert wird; von Plan kann also nicht die Rede sein, denn gerade das Element der Vorplanung fehlt - es bleibt nur (und zwar keineswegs zugunsten des Stadtproletariats sondern des kapitalistischen Staatsindustrialismus) die Zwangseinwirkung ... anhand der empirischen Erfahrung einer »langen Praxis«. Um die »Normen« für die Lieferpflichten der jeweiligen Republiken, Gebiete und Bezirke festzusetzen, geht man von den ortsüblichen Agrarprodukten und deren traditionellen Ertrag, der sich aus den klimatischen Bedingungen und vorhandenen Produktionskapazitäten ergibt, aus. Es geht nicht um die direkte Einwirkung auf diese Faktoren, sondern um deren Berücksichtigung, und das ist alles: Wenn sich Veränderungen von selbst ergeben und offensichtlich werden, wird die Aufteilung der Lieferkontingente unter den Gebieten und Betrieben ihrerseits den veränderten Voraussetzungen angepasst. Schöne »Planwirtschaft«!

Es gibt nicht weniger als fünf verschiedene Handelskreisläufe für die Agrarprodukte (mindestens bis zur Reform von 1958), die folgendermaßen aussehen (62):

»Kreislauf Nr. 1 (Naturalkreislauf): Die Kolchosen liefern einen Teil ihrer Produktion an die Maschinen- und Traktorenstationen (staatliche Industrieunternehmen, die mehrere Kolchosen beliefern) in Naturalien ab; dieser wird von den MTS an den Staat weitergegeben. Als Gegenleistung betreibt der Staat die MTS, die für die Kolchose arbeitet. In der Theorie entspricht die Produktenlieferung seitens der Kolchose den geleisteten MTS-Diensten.«

Worauf kommt es bei diesem angeblich »sozialistischen« Austausch an? Auf dasselbe wie bei jedem Austausch, nämlich wer wen übers Ohr haut. Dabei ist alles eine Frage der Kräfteverhältnisse. Der »planende« Staat gibt vor, grundsätzlich daraus den Nutzen zu ziehen, was allerdings wenig wahrscheinlich ist; die um ihre Autonomie bedachte und sich über die Staatstyrannei bitter beklagende Kolchose verfolgt dasselbe Ziel: Schöne »sozialistische« Harmonie!

»Kreislauf Nr. 2: Die Kolchose muss ihre Pflichtlieferungen an den Staat abführen; der Staat kauft diese Produkte zu einem sehr niedrigen Preis und verkauft sie zu einem viel höheren Preis an die Verbraucher weiter; der Staat realisiert also einen beträchtlichen Profit. «

In dieser Beziehung erinnert man sich an die Worte Lenins: Vor der Revolution hatte der kapitalistische Handel die Verbindung zwischen Stadt und Land nur durch Ausplünderung und Diebstahl hergestellt, aber er hatte ihn immerhin hergestellt; wir Kommunisten können unter den gegebenen Bedingungen leider auch nur durch den Handel diese Verbindung herstellen, wir müssen sie aber durch einen europäischen, durch einen modernen Handel herstellen und nicht durch den primitiven, wucherartigen Handel des alten Spekulanten. Was machte nun der stalinistische Staat? Er vernichtete nicht diesen alten Handel, der die Produzenten ausraubte, sondern nahm ihn in seine eigenen Hände, praktizierte ihn selber, wurde zum Oberwucherer und Oberspekulanten. Und das Einzige, was diese Wirklichkeit vor den Augen der Dummköpfe verschleiert, die an den »Sozialismus in einem Land« glauben, ist, dass dies für die beschleunigte Industrialisierung Russlands geschah - schöne »Diktatur des Proletariats«!

»Kreislauf Nr. 3: Die Kolchose schließt mit dem Staat Lieferverträge ab, hauptsächlich für den Anbau industrieller Rohstoffe; der Staat bezahlt die vereinbarte Summe und liefert der Kolchose die im Vertrag vorgesehenen Produktionsmittel (Düngemittel, Saatgut). Er verkauft das landwirtschaftliche Produkt wiederum an den Verbraucher, und da der Verkaufspreis, den der Verbraucher zahlen muss, höher ist, als der Einkaufspreis, den die Kolchose erhielt, realisiert der Staat auch bei dieser Operation einen Gewinn.«

Es sei darauf hingewiesen, dass die »Verträge« nicht weniger als der Austausch im Gegensatz zum Sozialismus stehen, denn sie setzen die Existenz von unabhängigen und gegeneinander kämpfenden Wirtschaftseinheiten voraus.

»Kreislauf Nr. 4: Einen Teil der Kolchosenproduktion kann der Staat zu festgesetzten Preisen kaufen, welche jedoch viel höher sind als die der Pflichtlieferungen. Die Kolchose ist nicht zur Lieferung verpflichtet, so dass die Preise sich denjenigen des Kolchosmarktes annähern.«

»Kreislauf Nr. 5: Nachdem die Kolchose ihre Lieferpflichten gegenüber der MTS und dem Staat erfüllt hat, darf sie die verbleibende Produktion auf dem Kolchosmarkt direkt an den Verbraucher verkaufen. (Hier) werden die Preise durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt; sie sind sehr günstig für die Kolchose, jedoch betreffen diese Transaktionen nur kleine Mengen.«

Hier liegt das ganze Geheimnis für das Fortleben der Parzellenwirtschaft. Theoretisch ist das Kolchosmitglied ein »Genossenschaftler«; es erhält nicht nur einen Lohn für die geleisteten »Arbeitstage«, sondern auch seinen Anteil an den Gewinn der Kolchose. In der Praxis sieht es jedoch anders aus, denn die Lieferungspflichten gegenüber dem Staat sind mengenmäßig so bedeutend und der hierfür bezahlte Preis so niedrig (er steht unter dem Marktpreis und im Falle von Zwangslieferungen selbst unter den Produktionskosten), dass nach Abzug des »unteilbaren Fonds« (d.h. des zur Kapitalisierung bestimmten und vom Staat aus den erläuterten Gründen streng überwachten Teils der Geldrevenue) nichts mehr übrig bleibt zur Verteilung unter den Mitgliedern der Kolchose (63); letztere erweist sich damit schließlich eher als Arbeitgeber, denn als Genossenschaft. Der Kolchosbauer erhält im Endeffekt also nur einen niedrigen Lohn, und es ist anzunehmen, dass dieser Lohn in den zurückgebliebenen Kolchosen, bzw. in den ärmlichen Gebieten noch niedriger ist als die Arbeiterlöhne in der Industrie, zumal alle Beobachter feststellen, dass der Lebensstandard auf dem Lande deutlich hinter dem in den Städten zurückbleibt. »Verkauft er auf dem Kolchosmarkt einige Tonnen Gemüse aus seinem Nebenbetrieb, so erhält der Bauer, der dafür nur ein paar Arbeitsstunden verausgabt hat, eine Summe, die höher liegt, als das von der Kolchose für das ganze Jahr ausgezahlte Einkommen« (64). Noch 1958 erwirtschaftet der Bauer mit seinen Zwerghandel durchschnittlich 50% seines Gesamteinkommens. Es ist also nicht verwunderlich, wenn der Kolchoshandel sehr lange zum größten Teil von den Kolchosbauern und nicht von der Kolchose selbst betrieben wurde (65): Die Arbeit des Sowjetbauern auf seiner Parzelle hat dieselbe Ursache wie die »Schwarzarbeit« des schlechtbezahlten Arbeiters in Industrie und Handwerk, und solange die ihnen zugrundeliegenden Bedingungen bestehen bleiben, ist die eine so unausrottbar wie die andere. Wie der schlecht zahlende kleine Unternehmer seinem Arbeiter nie untersagen wird, der mehr oder weniger unerlaubten Zusatzbeschäftigung nachzugehen, die ihm dazu verhilft, sein Schicksal zu ertragen, so sieht der Sowjetstaat sorgsam davon ab, den Nebenerwerb des Kolchosbauern zu verbieten; sollte er es absurderweise tun wollen, so bliebe es dennoch dabei, denn die Kleinproduktion kann man nicht per Dekret abschaffen. Die Kleinproduktion verschwindet erst, wenn sie ökonomisch absurd geworden ist; das ist übrigens in den Ländern, die kapitalistisch fortgeschrittener sind als Russland, bereits der Fall; ökonomisch und sozial gesehen befinden sich diese Länder deshalb auch weiter vorne auf dem Wege, der zum Sozialismus führt, obwohl sie politisch ebenso reaktionär sind. In krasser Widerlegung der amtlichen Lügen über den russischen Sozialismus hat die kleine Nebenwirtschaft der Kolchose immer auf der »genossenschaftlichen« Wirtschaft gelastet, denn die Arbeitsstunden, die auf dem persönlichen Hofland verausgabt werden, müssen je der Kollektivwirtschaft gestohlen werden (66). Der Sozialismus war der stalinschen und post-Stalin’schen Macht zwar immer völlig egal, die verheerende Bilanz ihrer Landwirtschaft konnte ihr à la longue jedoch nicht egal bleiben. Es liegt also nichts Verwunderliches darin, wenn die letzten Veränderungen in Russland, die nach Chruschtschow benannten Reformen, auf der Agrarfrage beruhen wie früher alle anderen Wenden, die sich unter ganz anderen Bedingungen vollzogen: Die NEP, die Liberalisierung der Agrarpolitik 1925, dann die Wende von 1929-30. Man muss allerdings darauf hinweisen, dass die letzte Veränderung im kapitalistischen Russland Nr. 2 noch andere Probleme als nur die Agrarpolitik der Regierung betroffen hat.

Mit seinem bäuerlichen Proletariat, das die Stalin’sche Macht ohne Zögern unter eine Arbeitsgesetzgebung stellte, die nichts zu wünschen übrig ließ im Vergleich zur Gesetzgebung, die in der Morgendämmerung des Kapitalismus im Vaterland dieser Produktionsweise (in England) geherrscht hatte; mit seinen riesigen Kolchosmassen, die diese Macht hofierte, aber dennoch im selben Elend und dazu noch in der Idiotie der Kleinproduktion behielt, ging das kapitalistische Russland Nr. 2 erfolgreich durch die Prüfung des zweiten imperialistischen Krieges. Dieser Krieg, der die russische Bevölkerung 23 Millionen Menschenleben kostete (das »wertvollste Kapital« Stalins), lieferte damit wohl die blutigste Widerlegung der irrsinnigen Doktrin von der Emanzipation des Proletariats und der Werktätigen im nationalen Rahmen. Aber das Land, das aus dem Wiederaufbau der Jahre 1947-55 (IV. und V. Fünfjahresplan) hervorging, war keineswegs mehr das Land aus der Epoche der Industrialisierung. Die Vergleichsmaßstäbe zu den Jahren 1929-30, d.h. zu dem Beginn der Offensive der kapitalistischen Revolution, fehlen zwar, dennoch spricht allein schon die Progression der städtischen Bevölkerung eine beredte Sprache: Sie stieg von 56 Millionen im Jahre 1938 auf 61 Millionen 1940, 87 Millionen 1956 und 99,3 Millionen 1958. Weil die Zuwachsrate der Bevölkerung auf dem Lande höher liegt als in den Städten, geht die Abnahme der Landbevölkerung langsamer vor sich als das städtische Wachstum: Von 115 Millionen 1938 geht die Landbevölkerung 1956 auf 113 Millionen und 1958 auf 109 Millionen zurück. Interessanter ist die Zusammensetzung der aktiven Bevölkerung; sie lässt auf eine gesellschaftliche Arbeitsteilung schließen, die an sich schon die These von der Existenz des »Sozialismus« in Russland völlig zerstört (67) und darüber hinaus eine genaue Kennzeichnung der vom russischen Kapitalismus erreichten Entwicklungsstufe erlaubt:

 

Aktive Bevölkerung 1958: 90.000.000
(45,4% der Gesamtbevölkerung)
 Landwirtschaft 42% (38 Millionen) (68)
 Industrie 31% (28 Millionen) (69)
 Dienstleistungen 23%    
 Handel 5% (aufgerundet)

 

Es handelt sich um einen reifen Kapitalismus, hat er ja die Schwelle der 50%igen Beschäftigung der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft hinter sich; es handelt sich aber auch um einen jungen Kapitalismus, denn der Anteil der Bauernschaft ist noch sehr hoch (zum Vergleich: im selben Jahr betrug er 12% in den USA und 28% in Frankreich) und der Anteil des Dienstleistungssektors noch sehr gering (23% gegen 51% in den USA und 35% in Frankreich). Was den geringen Anteil des Handels angeht (5% gegen 16,5% in den USA und 13,4% in Frankreich), so hängt er mit der schwachen Zirkulation von Konsumtionsgütern und nicht mit einem hypothetischen Sozialismus zusammen; wenn er nach der Bemerkung eines bürgerlichen Publizisten »spartanischen Sitten« entspricht, so sind es nicht diejenigen eines proletarischen Regimes, das den hemmungslosen und idiotischen Konsumfimmel der westlichen Gesellschaft sicherlich mit Verachtung überwin­den wurde, sondern diejenigen, die der kapitalistische Industrialismus Stalins ohne Schwierigkeiten einer Bevölkerung aufzwingen konnte, deren Bedürfnisse geringfügig waren, war sie ja zum Zeitpunkt der Revolution wenig »zivilisiert« wobei der berühmte »eiserne Vorhang«, der nicht nur die ausländischen Waren, sondern auch jede Information über die Welt außerhalb des »sozialistischen Paradieses« zurückhielt, sie im Übrigen vor gefährlichen Gelüsten schützte. Mag es auch noch arm sein, so verfügt dieses Land im Vergleich zu 1929-30 doch über eine weit größere Produktionskapazität. Das beschränkt sich nicht nur  auf die intensive Mechanisierung, die man den Wachstumszahlen über die Schwerindustrieproduktion ohne Schwierigkeit entnehmen kann, und auch nicht nur auf die zahlenmäßige Vergrößerung der Arbeiterschaft (so dürfte es 1958 23-24 Millionen Arbeiter gegeben haben gegenüber 11.590.000 im Jahre 1928,wenn die Zahl von 4 bis 5 Millionen »Industriekadern« und »-technikern« richtig ist. Es geht auch um qualitative Veränderungen, die bei der zweiten Generation einer vor kurzem aus dem Land zugewanderten Stadtbevölkerung immer zu beobachten sind. Im Falle Russlands reichten sie immerhin dazu aus, die Abschaffung der unter Stalin geltenden drakonischen Arbeitsgesetzgebung zu erlauben, jener Gesetzgebung, die von der Notwendigkeit herrührte, ungeheure Menschenmassen unter die Disziplin der Industriearbeit zu zwingen: Millionen Bauern, die an das langsamere Tempo der überlieferten landwirtschaftlichen Arbeiten gewohnt waren, »entwurzelte Dorfbewohner, Städter wider ihren Willen, verzweifelt, anarchisch und hilflos (...) die mit dem groben Individualismus der Muschiks in die Fabriken kamen«, was sich der Stalinismus zunutze machte, indem er »die Industrierekruten anstachelte, miteinander um Zulagen, Prämien und Akkordlöhne zu konkurrieren« (70) oder sie unter der Fuchtel des »stachanowistischen Wettbewerbs« hielt. Unter »qualitativen Veränderungen« ist die Gesamtheit der Bedingungen zu verstehen, die mindestens ebenso viel wie die Anwendung von Maschinen dazu beitragen, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen: Alphabetisierung, Disziplinverbesserung infolge des Industrie- und Stadtlebens usw. Auch sie gehören zu jenen »materiellen Voraussetzungen des Sozialismus«, die die Bolschewiki, solange sie auf die Weltrevolution warten mussten, zu schaffen gedachten, allerdings ohne in die Schande und Grausamkeit des Kapitalismus zurückzufallen; sie stellen aber keine »sozialistischen Errungenschaften« dar, o nein, sie sprengen nicht den Rahmen jenes bürgerlichen Fortschritts, der in allen Ländern die Industrialisierung begleitet hat. Aber früher wurde dieser Fortschritt niemals mit der knechtischen Ehrfurcht angebetet, die ihm die Pseudomarxisten unserer Tage im Fahrwasser der Sowjetherren bezeugen.

Die erste grundlegende Konsequenz dieses bürgerlichen Fortschritts, verbunden mit den komplexen Folgen des Krieges, war die, die Aufrechterhaltung des »eisernen Vorhangs« unmöglich zu machen. Stalin wähnte, hinter dem Schutz dieses »Vorhanges« dem alles verschlingenden kapitalistischen Merkantilismus widerstehen zu können, aber je entwickelter eine Nationalwirtschaft ist und je grösser zugleich die Bedürfnisse der Bevölkerung sind, desto mehr bedarf sie der Weltwirtschaft, desto weniger kann sie das Joch der Wirtschaftsautarkie ertragen (71).

Auf politischer Ebene äußerte sich diese Konsequenz in der »Theorie« der »friedlichen Koexistenz« (die in der Klassenpolitik seit langem praktiziert wurde, wenn auch nicht unbedingt in den zwischenstaatlichen Beziehungen); auf wirtschaftlicher Ebene äußerte sie sich durch eine spektakuläre Wende in der Entwicklung des russischen Außenhandels. Nun, selbst wenn die absoluten Werte dieses Aufschwungs des russischen Welthandels zunächst sehr bescheiden blieben, so brachte die Tendenzwende doch eine unterschwellige Strömung zum Ausdruck, die dazu bestimmt war, das mühsame Lügengebäude des stalinschen »Sozialismus« fast gänzlich zu zertrümmern. Das Bild des sowjetischen Außenhandels sieht folgendermaßen aus: Von 1932 bis 1945 spektakulärer Sturz mit einer durchschnittlichen Jahresabnahme von 7% (die Einfuhrzahl von 2.514 Millionen Rubel für 1945 entspricht den geliehenen und vorgeschossenen Kriegslieferungen); von 1946 bis 1961 (wir verfügen nicht über vergleichbare Zahlen für spätere Jahre) ein ebenso spektakulärer Wiederaufschwung zu einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich 15% :

 

Volumen des Aussenhandels der UdSSR
 (in Millionen Rubel von 1961)
 Jahr Ausfuhren Einfuhren Total
 1913 1.192 1.078 2.270
 1932 451 273 662
 1933 389 273 662
 1934 328 182 510
 1935 288 189 477
 1936 244 242 486
 1937 295 129 524
 1938 230 245 475
 1939 104 167 271
 1940 240 245 485
 1945 243 2.514 2.757
 Hier wird die Fahrtrichtung umgekehrt:
 1946 588 692 1.28
 1947 694 672 1.364
 1948 1.177 1.102 2.279
 1949 1.303 1.34 2.643
 1950 1.615 2.31 2.925
 1951 2.061 1.792 3.853
 1952 2.511 2.255 4.766
 1953 2.653 2.492 5.145
 1954 2.9 2.864 5.764
 1955 3.084 2.754 5.838
 1956 3.254 3.251 6.505
 1957 3.943 3.544 7.487
 1958 3.868 3.915 7.783
 1959 4.897 4.566 8.463
 1960 5.006 5.066 10.072
 1961 5.399 5.249 10.648

 

Im Zusammenhang mit der Wiederherstellung von Handelsbeziehungen zum Ausland, d.h. zum kapitalistischen Weltmarkt, ist in Russland seit 1956 eine merkwürdige Veränderung zu beobachten: Nach einem Vierteljahrhundert »Sozialismus in einem Land« verlangt man von allen Seiten eine »Rückkehr zur NEP!« Was darunter zu verstehen ist, liegt auf der Hand: Es handelt sich keineswegs um eine Linderung des Druckes, den die Erfordernisse der Kapitalakkumulation auf das russische Proletariat oder auf die russische Kleinbauernschaft ausüben - diese Zeiten, in denen man von proletarischen Erwägungen ausging, sind längst dahin und werden nie wieder zurückkommen.

Es handelt sich um die Rationalisierung des Akkumulationsprozesses im kapitalistischen Sinne. Die Losung des Vorrangs der Schwerindustrie bleibt in voller Gültigkeit bestehen, zumal die Verpflichtung, das entwickeltste kapitalistische Land (die USA) »einzuholen und zu überholen« bei Strafe der ökonomischen und dann der militärischen Zerdrückung ebenso bestehen bleibt. Die Tatsache, dass dieses Rennen von vornherein verloren ist (72), reicht mitnichten aus, Russland zum Aufgeben zu verleiten. Im Gegenteil, jene Unterlegenheit, die Russland als tödlich empfindet, diktiert die neue Losung: »Senkung der Produktionskosten!«. Wie davon besessen ergreift es seit einem Jahrzehnt all jene Maßnahmen, in denen bürgerliche Geistesschwäche eine »Wiedereinführung des Kapitalismus« erblickt - als hätte unter Stalin etwas anderes als das unpersönliche Staatskapital geherrscht!

Das Wesen der zunehmend bitteren Vorwürfe gegen die »alte Planwirtschaft«, bzw. das Wesen der durchgeführten Reformen lässt sich mit wenigen Worten beschreiben: Solange es darum ging, Russland mit einem früher völlig fehlenden Produktionsapparat zu versehen, taugten die zentralistischen, autoritären und administrativen Methoden sehr gut, während sie jetzt zu einem Hindernis auf dem Wege der weiteren Wirtschaftsentwicklung wurden. Die Wirtschaftsreform von 1957 fing dementsprechend damit an, die vertikale gesamtstaatliche Leitung durch eine horizontale Regionalleitung zu ersetzen. Das bedeutet die Abschaffung von 25 (von insgesamt 35) zentralen Industrieministerien und die Unterordnung der Betriebe unter lokale Behörden, die Sownarchosen, deren Zahl sich in ganz Russland auf 104 erstreckt. Diese Maßnahme ist vom kapitalistischen Standpunkt aus völlig berechtigt: Die Anmaßung des Zentralstaates, die Tätigkeit von nunmehr 200.000 Industriebetrieben und über 100.000 Bauunternehmen im Einzelnen zu kontrollieren, konnte nur noch zur administrativen Anarchie führen. Es geht nicht, wie im Sozialismus, darum, verfügbare Mittel und Bedürfnisse zentral zu erfassen, um die sozialen Aufgaben nach Maßgabe der Möglichkeiten und des gesellschaftlichen Nutzens aufzuteilen, bzw. die jeweiligen örtlichen Bedingungen nach und nach anzugleichen und Missverhältnisse zu beseitigen. Es geht lediglich darum, die Produktion nicht zu hemmen. In dieser Optik bringt die zentrale Kontrolle, die unter dem Sozialismus unabdingbar wäre, keinen Nutzen mehr; im Gegenteil, wenn die Anzahl der Produktionseinheiten eine bestimmte Größe erreicht, verwandelt sie sich in einen Bremsfaktor. Das System der Sbyts, d.h. der Vermittlungsbehörden, an die sich alle Unternehmen zu wenden hatten, wenn sie in Beziehung untereinander treten wollten, war besonders verhasst. Solange das Volumen dieser Handelsbeziehungen noch gering und der Warenverkehr zwischen den Unternehmen qualitativ noch wenig differenziert war, stellten die Sbyts ein gutes Mittel zur optimalen Verteilung der vorhandenen Produktionsmittel dar. Die Steigerung des Austauschvolumens und vor allem die zunehmende Differenzierung des Produktionsmittelbedarfs der jeweiligen Betriebe (und eine solche Differenzierung ist den Bürokraten nicht zugänglich, denn von Technologie verstehen sie nichts, was andererseits nicht heißen soll, dass sie von Volkswirtschaft viel verstehen) verwandelte die Sbyts in das beste Mittel, um die Unternehmen daran zu hindern, die benötigten vervollkommneten oder seltenen Maschinen bei anderen, einschlägigen Unternehmen schnell und ohne Komplikationen zu beschaffen. So müssen die Sbyts ins Museum des »Sozialismus in einem Land« wandern, wo sie an der Stelle der Zentralministerien stehen werden.

Das ist aber nicht alles. Man wirft ja den autoritären Methoden vor, sie hätten einen rein administrativen und antiökonomischen Charakter: Sie beruhten viel zu sehr auf Gehorsam gegenüber den hierarchischen Vorgesetzten und liegen wenig Spielraum für die Suche nach einer kapitalistischen Wirtschaftsrationalität im Sinne der Rentabilität der einzelnen Betriebe und nicht der gesamten Volkswirtschaft. Das System des Hin-und-her von der zentralen Planstelle zu den Unternehmen und von den Unternehmen zu der zentralen Planstelle laste sich zunächst in einem Duell zwischen den Unternehmen und der zentralen Leitung auf: Die einen versuchten, den am leichtesten durchführbaren Plan durchzusetzen, die anderen, ein hohes Plansoll aufzuzwingen. Der schließlich gefundene Kompromiss hatte nicht nur nichts »Wissenschaftliches« an sich, sondern führte vielmehr dazu, dass die bestfunktionierenden Unternehmen geradezu bestraft wurden. Statt eine gründliche Ausnutzung der jeweiligen Produktionskapazität herbeizuführen, verleitete dieses System im Übrigen die Unternehmen dazu, einen Teil dieser Kapazität »in Reserve« zu halten, um eventuellen Erhöhungen der gerade laufenden Staatsaufträge nachkommen zu können. Lediglich von der Sorge gelenkt, den Plan zu erfüllen, ja zu übertreffen, kümmerten sich die Betriebe nicht um eine bessere Auslastung ihrer Anlagen, denn in dieser Beziehung konnten sie besser oder schlechter abschneiden - dies hatte keinen Einfluss auf die staatliche Zuteilung der für die Produktionserweiterung erforderlichen Mittel. Da die Ausrüstungen vom Staatshaushalt finanziert wurden ohne eine auch nur gering bedeutende Beteiligung der Unternehmen selbst, waren diese weder für die eigene Vergrößerung noch für die eigene Modernisierung verantwortlich. Das Prinzip der Rentabilität der einzelnen Produktionseinheiten wurde zwar stets verfochten, konnte sich aber unter solchen Umständen in der wirklichen Betriebspraxis nicht durchsetzen: Den Betrieben ging es einzig und allein darum, solche Aufgaben zu erhalten, die leichter zu erfüllen waren oder deren Erfüllung, bzw. Übererfüllung der Betriebsleitung, ja der Belegschaft die größten materiellen Vorteile versprachen. Auch auf dem Lande wollte man diese »Wirtschaftsrationalität« reinsten bürgerlichen Wassers erreichen. Die Kolchosen kümmerten sich früher hauptsächlich um die Einhaltung der Produktionsmengen für die Zwangslieferungen; sie betrieben eine wahrhaft skandalöse Verschwendung der staatseigenen Produktionsmittel. Jetzt wurden sie ge­zwungen, den Maschinenpark der staatlichen Stationen zu erwerben; dieser soll damit zum Kapital der Kolchose werden, für das sie allein die Verantwortung trägt. Man hofft, die Kolchosen dadurch zur »gesunden« Gewohnheit erziehen zu können, ihre »Kosten« zu kalkulieren, Sparmaßnahmen zu treffen, bzw. die Verschwendung an Produktionsmitteln einzuschränken. Dasselbe erwartet man auch von einer Erweiterung des Verantwortungsbereiches der Direktoren der Industrieunternehmen.

Die Krönung des ganzen neuen Gebäudes liegt in einer Politik der »ehrlichen Preise«, deren Ausgangspunkt wohl nicht banaler sein könnte: Wenn die staatlich festgesetzten Preise systematisch unter den Selbstkostenpreisen liegen - und dies gilt vor allem für die Landwirtschaft dann hat der Betrieb kein Interesse daran, die Produktionskosten zu senken, zieht er ja keinen Profit aus seinen Anstrengungen. Im Falle der Kolchose begünstigt dieser Mangel an Interesse den persönlichen Nebenbetrieb zulasten der Kollektivwirtschaft, was eine Fortsetzung »unserer« Versorgungskrise, die mit der »Würde eines zivilisierten Landes« unvereinbar ist, zur Folge hat. Kurz und gut, seit über zehn Jahren mischen sich in die Würdigung des »großen Werkes von Stalin« die Klageseufzer über den überholten Charakter seiner Methoden, bzw. die Forderung nach den altbekannten, »gesunderen« Wirtschaftsprinzipien des klassischen Kapitalismus.

Aus diesem Anlass wiederholt sich die alte und völlig überflüssige Diskussion über die »historischen Notwendigkeiten«. Schwörend, dass der russische Sozialismus der russische Sozialismus bleibt, beugen sich alte Stalinisten mit zerrissener Seele vor ihnen. Vom Standpunkt der historischen Notwendigkeiten des Kapitalismus besteht kein Zweifel darüber, dass die »Prinzipien«, die sie über Bord werfen, in der Tat hinfällig geworden sind. Den Marxisten und Revolutionären stellt sich jedoch ein ganz anderes Problem, das eigentlich nichts damit zu tun hat, ob die Stalinisten oder deren Kritiker Recht haben, ob Zentralisation oder Dezentralisation, Autoritarismus oder Liberalismus, materieller Anreiz oder Zwang besser sind. Marxisten und Revolutionären geht es nicht um solche restlos langweiligen Auseinandersetzungen: Die authentisch kommunistische Auffassung von der Wirtschaftsrationalität unterscheidet sich völlig vom Rationalitätsverständnis, das in Russland den Ton angibt, unterscheidet sich von ihm so radikal, wie der Sozialismus sich vom Kapitalismus unterscheidet. Mit anderen Worten, es ist die von den Marxisten und Revolutionären verkörperte »historische Notwendigkeit« selbst, die sich von derjenigen unterscheidet, der die Sowjetunion gehorcht. Und vom Standpunkt dieser Rationalität, vom Standpunkt dieser historischen Notwendigkeit schneiden die poststalinistischen Kritiker des Stalinismus so schlecht, vielleicht sogar schlechter ab, als die Stalinisten selbst. Um es kurz zu sagen, die »Rationalität« dieser »Neo-Sozialisten-in-einem-Land« beschränkt sich darauf, das konstante Kapital ökonomischer einzusetzen, um den Fall der Profitrate zu verlangsamen und aufzuhalten, um damit auf dem Weltmarkt den »friedlichen Wettbewerb« mit den entwickeltesten kapitalistischen Ländern unter günstigeren Bedingungen aufnehmen zu können.

Wir proletarischen Kommunisten erkennen eine einzige »Rationalität« als solche an, und diese heißt Abschaffung der gigantischen Ausplünderung und Vergeudung der lebendigen Arbeit, die den Kapitalismus immer und überall charakterisiert.

Die eine »Rationalität« bedarf des Respekts vor dem Wertgesetz, sie bedarf der Wirtschaftsfreiheit, der Konkurrenz, kurzum der Anarchie des Marktes und der schmutzigen bürgerlichen Vorteilssuche; die andere verlangt die Abschaffung dieser Freiheit, dieser Konkurrenz und damit dieser Anarchie, sie verlangt, dass an Stelle des Wertgesetzes das Gesetz des gesellschaftlichen Nutzens tritt, an Stelle des »Anreizes« die Solidarität; die eine erzeugte die monströse »Theorie« Chruschtschows vom »merkantilen Sozialismus«, nachdem sie die nicht weniger monströse »Theorie« Stalins vom »nationalen Sozialismus« erzeugt hatte; die andere führt die kleine internationale Partei von heute zur bedingungslosen Verteidigung der internationalistischen und antimerkantilen Prinzipien, denen die Bolschewiki niemals abschworen; die eine führt zu einem dritten imperialistischen Krieg; die andere wird der internationalen Arbeiterklasse den Weg der Revolution und der proletarischen Diktatur aufzwingen; und wenn deren Stunde wieder schlagen wird, dann wird es nicht nur die Stunde der Vergeltung des roten bolschewistischen Oktobers sein, der in der Zwangsjacke der hinter dem Schutzwall des »nationalen Sozialismus« wiederaufblühenden kapitalistischen Verhältnisse langsam erstickte: Es wird die Stunde einer totalen Emanzipation sein, der Emanzipation des Proletariats und mit ihm der ganzen Menschheit - der Abschluss dieser barbarischen Vorgeschichte, der kein bürgerlicher und kapitalistischer Fortschritt jemals ein Ende wird setzen können.

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(*) Der Text erschien 1967. Mittlerweile sieht die China- und Südostasienpolitik der USA anders aus.

 

(1) Dekrete über die Arbeiterkontrolle, die Nationalisierung der Banken, die Bildung von Konsumgenossenschaften, die Einstellungen von Dividendenzahlungen an die Aktionäre der Aktiengesellschaften, die Annullierung der Staatsanleihen und das Staatsmonopol im Außenhandel.

(2) Geht man von einem Index 100 für die Industrieproduktion im Jahr 1913 aus, so überstieg sie 1921 nicht die Indexzahl 31: Die Produktion betrug in diesem Jahr also weniger als ein Drittel des Vorkriegsvolumens

(3) Es handelt sich um den X. Parteitag, der im März 1921, 8 Tage vor dem Ausbruch des Kronstädter Aufstandes und unter der Drohung einer bäuerlichen Konterrevolution stattfand.

(4) Der Sinn ist klar: Die soziale Grundlage der Partei, die für den Sozialismus kämpft. Der »volle Sieg« ist ebenso klar ein politischer Sieg dieser Partei und nicht der Triumph der sozialistischen Gesellschaftsformation allein in Russland, denn das würde ja allen Erklärungen von Lenin über die Notwendigkeit eines langen Kampfes für den Staatskapitalismus widersprechen.

(5) Quelle: Bettelheim, »L’Economie soviétique«.

(6) Hier muss man auf einen Punkt hinweisen, der zwar keine praktische, dafür aber eine umso größere prinzipielle Bedeutung hatte. Um die Industrie wiederaufzubauen, rechnete Lenin 1921-22 im Wesentlichen mit den Konzessionen, d.h. mit der Verpachtung von Sowjetbetrieben bzw. der Errichtung und Ausbeutung von Produktionsstätten durch das ausländische Kapital - allerdings immer unter bolschewistischer Kontrolle. Wie Lenin feststellen musste, war es jedoch unmöglich, akzeptable Konzessionsverträge zu schließen. Die Sorge um die »nationale Unabhängigkeit« und um den »sozialistischen« Protektionismus (diese Terminologie entstand viel später und ist voll und ganz Stalinistisch) war Lenin völlig fremd, und - was ja bezeichnend ist - niemand dachte im Laufe der ersten NEP-Jahre daran, die kühne Position Lenins in Frage zu stellen.

(7) Dieser Anteil (in genauen Zahlen 53% für das Jahr 1926) wurde von der linken Opposition in ihrer Plattform für den XV. Parteitag genannt. Dieser Parteitag fand nach dem Ausschluss von Trotzki und Sinowjew im Dezember 1927 statt; wie es sich von selbst versteht, wurde die Plattform der Linken auf dem Parteitag nicht einmal besprochen.

(8) Trotzki verlieh der Wirtschaftsfrage eine so große Bedeutung, dass er in dieser Phase all seine Bemühungen auf sie zentriert hat. So verzichtete er auf jeden Eingriff gegen die Georgienpolitik von Stalin, Dzerzinski und Ordshonikidse, obwohl Lenin - der infolge des zweiten Anfalls seiner Krankheit den Parteiversammlungen fernbleiben musste - ihn am 5. März ausdrücklich gebeten hatte, die Sache der Georgier zu verteidigen. Dasselbe gilt auch für die Parteifrage. Bekanntlich hatte Lenin seine Absicht bekundet, auf dem Parteitag eine Bombe gegen Stalin platzen zu lassen, wenn er daran teilnehmen könne. Trotzki schwieg aber und griff nicht ein zur Unterstützung der Kritik von Bucharin, Preobraschenski und Rakowski an dem Apparat der Troika Stalin-Kamenew-Sinowjew (Bucharin bezeichnete die Nationalitätenpolitik Stalins als chauvinistisch, Preobraschenski griff die inneren Parteizustände an, Rakowski kritisierte die »Russifizierung« im Namen der ukrainischen Delegation). Lenin hatte in der Nacht vom 5. zum 6. März per Brief mit Stalin gebrochen (das zeigt übrigens, welche politische Einschätzung er von Stalin hatte); entgegen dem ausdrücklichen Wunsch von Lenin, verzichtete Trotzki jedoch auf eine Opposition gegen die Wiederwahl Stalins zum politischen Sekretariat, bekundete die Solidarität des Politbüros und des Zentralkomitees und rief die Partei zur Disziplin auf. Es ist also klar, dass für Trotzki im März 1923 die Wirtschaftsfrage die zentrale Bedeutung hatte; allerdings konnte Trotzki nicht ahnen, welche Kampagne ab Herbst gegen ihn wegen seiner vermeintlichen »Unterschätzung der Bauernschaft« entfesselt werden sollte, eine rein politische Kampagne unter sozialem Vorwand.

(9) Im März hatte Trotzki noch verzweifelt versucht, die Spannungen, die in der Partei herrschten, zu entschärfen. Ursache dieser Spannungen war die rein parlamentarische Politik, mit der die Troika um die Macht kämpfte. Nach den ersten Ereignissen des Sommers sah sich Trotzki jetzt aber gezwungen, in die Opposition zu gehen. Die Wirtschaftslage hatte sich verschlechtert und die Lohnzahlung an die Arbeiter musste eingestellt werden. Wilde Streiks brachen aus, in die Parteimitglieder, die die NEP nicht akzeptiert hatten, eingriffen, um die Führung zu übernehmen (es handelte sich dabei um Mjasnikow und ca. 30 Mitglieder seiner sogenannten »Arbeitergruppe« sowie um den alten Bogdanow und seine Gruppe »Arbeiterwahrheit«). Diese Militanten sollten bald ausgeschlossen werden, aber - und hier liegt ein ernstes Anzeichen vor - sie wurden zunächst von der GPU verhaftet, deren Leiter, Dzerzinski, aus diesem Anlass vom Politbüro verlangte, »jedes Parteimitglied muss verpflichtet sein, der GPU jede Oppositionstätigkeit anzuzeigen«. Trotzki hatte sich gegenüber den Apellen der Opposition (vor allem von Preobraschenski und Bucharin), »die Demokratie in der Partei wiederherzustellen«, bislang sehr zurückhaltend verhalten; Dzerzinskis Ersuchen offenbarte jedoch eine solche »Zersetzung der inneren Lage der Partei seit dem XII. Parteitag«, dass er das Bündnis mit Sinowjew, Kamenew und Stalin, zu dem er sich gezwungen hatte, auf der Stelle brach.

(10) Es handelte sich um Molotow und Mikoyan, die mit billiger Ironie gegen die Projekte einer mehrjährigen Planung der Industrie zeterten und der Opposition vorwarfen, die Bauernschaft der Industrieentwicklung opfern und bürokratische Auffassungen in der Wirtschaft durchsetzen zu wollen.

(11) Gemeint ist das Regime der »Glavs«, d.h. der zentralen Wirtschaftsleitungen, die während der NEP errichtet worden waren und die Staatsindustrie außerhalb jedes Tausch- und Marktverhältnisses mit Staatsgewalt führten. Als 1921 die Freiheit des Handels wiedereingeführt wurde, wurden sie aufgelöst.

(12) In der Vorbereitungszeit zum XII. Parteitag war es Rykow, ein künftiger Vertreter der Rechten, gewesen, der trotz seiner eigenen Feststellung, das Grund- und Umlaufkapital der Staatsindustrie habe sich im Laufe von 1922-23 weiter verringert, doch die Ansicht vertrat, dass die Staatsindustrie 1923 Gewinne erzielen Trotzki erklärte zu Recht, diese »optimistischen Hoffnungen« nicht teilen zu können.

(13) Das war ein alarmierendes Zeichen, das für den Erschöpfungszustand der gesunden Parteikräfte Bande spricht; die Demoralisierung hatte sich vor allem nach der deutschen Niederlage im Oktober 1923 breit gemacht, die alte Militante wie Lutowimow und Eugenie Bosch, einen Sekretär von Trotzki (Glatzmann) und viele andere weniger bekannte Militante der Opposition in den Selbstmord getrieben hatte. Viele Militante der Opposition wurden für die Verteidigung ihrer Positionen mit Versetzung gestraft, was die Schwächeren einschüchterte und nunmehr zur »Vorsicht« verleitete.

Die Niederlage der Linken wurde 1925 durch die Entfernung von Trotzki aus dem Kriegskommissariat, und damit aus der Regierung, ergänzt. Trotzki unterwarf sich dieser Entscheidung mit vollkommener Disziplin und ließ sich niemals auf die Ebene einer persönlichen Polemik herab.

(14) Es ist schwer festzustellen, wie zahlreich und wie reich die »reichen Bauern« waren. Die zwei Tendenzen, die sich innerhalb der Partei bekämpften, sagten in dieser Beziehung die widersprüchlichsten Dinge, während die ausländischen Beobachter ihrerseits von der schrecklichen Rückständigkeit der gesamten russischen Landwirtschaft so beeindruckt waren, dass ihnen die Unterscheidung zwischen armen, mittleren und reichen Bauern (Biedniaki, Seredniaki und Kulaki) keine grolle ökonomische Bedeutung zu haben schien; es gab sogar ausländische Beobachter, die so weit gingen, zu behaupten, die lokalen Behörden hätten in ihrem Eifer, die Parteidirektiven anzuwenden (und es ist klar, dass die Partei aus politischen Gründen der sozialen Differenzierung innerhalb der Bauernschaft die größte Bedeutung beimessen musste), die »Kulaken« ganz einfach erfunden bzw. die Daten für die Einstufung in die jeweiligen Kategorien gefälscht.

Diese Vermutung hätte Lenin bestimmt nicht schockiert, der am Ende seines Lebens erklärte, dass »unser Staatsapparat nichts taugt«, ja bereits im März 1919 auf dem VIII. Parteitag bemerkt hatte, dass Karrieristen und Abenteurer sich an die Kommunisten heranmachten, »weil die Kommunisten jetzt an der Macht sind, weil die ehrlicheren »beamteten« Elemente wegen ihrer rückständigen Ideen nicht zu uns gekommen sind, während die Karrieristen weder Ideen noch Ehrgefühl haben.«

Der Linken zufolge hatte man 1925 folgende Lage: Wahre Nutznießer der NEP sind ca. 3-4% der Bauern; arme und mittlere Bauern, die nicht die Mittel hatten, ihr eigenes Land zu bebauen oder sich mindestens davon zu ernähren, haben ihr Land zum Teil dieser Kulakenklasse überlassen, die nunmehr illegal die Hälfte der Saatfläche in ihrer Band behält sowie 60% der Maschinen; die reicheren Kulaken (2%) liefern 60% der auf den Markt kommenden landwirtschaftlichen Erzeugnisse; sie behalten 3/4 des illegal gepachteten Bodens und beschäftigen ebenso illegal dreieinhalb Millionen Landarbeiter und über 1,5 Mill. Tagelöhner zu Löhnen, die um 40% unter den Vorkriegslöhnen liegen. Diese Zahlen, die von Victor Serge in »Vers l’industrialisation« zitiert und von P. Broué in seinem Buch »Parti bolchevique« übernommen wurden, sind nicht nachprüfbar.

(15) Selbst Trotzki gab zu, dass diese Zugeständnisse unvermeidlich seien, allerdings durch den Fehler der Führung bedingt worden wären, die die notwendigen Anstrengungen für eine zügigere Industrialisierung vernachlässigt hätte.

(16) Unter »Kooperation« bzw. Genossenschaftswesen verstanden die Bolschewiki alle Formen der assoziierten Arbeit, vom einfachen »Towarischtschestwo« (einfacher genossenschaftlicher Ackerbau) bis hin zum Artel und der Kommune; die Stufe des Staatskapitalismus er reichte die Kooperation erst in der Sowchose. Im »Towarischtschestwo« wird das Land kollektiv bebaut, während Vieh und Gerät Privateigentum sind. Im Artel wird nicht nur das Land kollektiv bebaut, sondern gehören auch Zug- und Mastvieh der Genossenschaft und nicht den einzelnen Mitgliedern (insofern steht die spätere Kolchose unter dem Niveau des Artels). In der Kommune gehören selbst die Wohnungen, Hausgärten und Geflügel der Genossenschaft; die Produktenverteilung erfolgt nach dem Gleichheitsprinzip und ist nicht an die jeweilige Arbeitsleistung gebunden. Vom Standpunkt ihrer internen Organisation ist die Kommune also eine kommunistische Vereinigung, während ihre Beziehungen zur Außenwelt merkantil und bürgerlich bleiben. In der Sowchose geht das gesamte Betriebskapital in die Hände des Staates über, und die Bauern verwandeln sich in reine Lohnarbeiter.

(17) Nicht jedoch, ohne vorher darauf hingewiesen zu haben, dass Stalin in seinem Erzopportunismus so weit gegangen war, angesichts der Unruhen in Georgien die Abschaffung der Nationalisierung des Bodens vorzuschlagen; dies wäre gleichbedeutend gewesen mit dem völligen Verzicht seitens des proletarischen Staates, die Landwirtschaft und deren Entwicklung überhaupt, und sei es ansatzweise, zu kontrollieren. Da Rechte und Linke wie ein Mann gegen diese Position auftraten, machte Stalin sehr vorsichtig den Rückzieher und behauptete, nur Feinde des Sowjetstaates hätten solche Gerüchte überhaupt in Umlauf setzen können!

(18) Auszahlen von 1925 geht hervor, dass die im Privathandel angelegten 900 Mill. Rubel einen Jahresgewinn von 400 Mill. einbrachten, die selbstverständlich für die Entwicklung der Produktivkräfte, um die sich die »Nepmänner« absolut nicht kümmerten, verloren gingen.

(19) Engels hatte seinerzeit die französischen Sozialisten, die »das Kleineigentum schützen« wollten, heftig angegriffen aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der proletarischen Partei auch nicht darin liegt, den Ruin der Kleinbauernschaft zu fördern. Lenin wiederholt die Argumente in seinem »Referat über die Stellung des Proletariats zur kleinbürgerlichen Demokratie« vom 27. Nov. 1918.

(20) Diese These wurde in einem zweibändigen Werk »Die neue Ökonomik« dargelegt, wovon lediglich der erste Band vor dem gesetzlichen Verbot der Linken erscheinen konnte. Dieses Werk wurde bekanntlich erst mit großer Verzögerung im Westen bekannt.

(21) Allein die Tatsache, dass diese »anderen Kräfte« sich manifestiert haben, zeigt die Richtigkeit der marxistischen Einschätzung Bucharins, der allerdings das Pech hatte, gerade das »vorauszusehen«, was sich erst ein Vierteljahrhundert später ereignen sollte, das aber, was sich unter seinen Augen vollzog, erst in der letzten Minute zu begreifen.

(22) Allein die italienische Linke hat dies aufgezeigt. Die entarteten Schüler Trotzkis, die darin nicht weniger kurzsichtig sind als auf allen anderen Gebieten, rehabilitieren Bucharin nur als vermeintlichen Vertreter der »proletarischen Demokratie«. Wenn man bedenkt, welche Rolle Bucharin gegenüber der russischen Linke gespielt bat (und für die Linke - dies nebenbei - bedeutete der Ausdruck »proletarische Demokratie« lediglich »Verteidigung der Partei«!); wenn man bedenkt, dass er Trotzkis Vorschlag eines Bündnisses der Rechten und Linken, um diese Verteidigung gegen das Zentrum zu sichern, zurückwies; wenn man schließlich bedenkt, dass Bucharin sehr wahrscheinlich der Autor der Verfassung von 1936 war, eine Verfassung, die Trotzki mit Recht angriff - wenn man das alles bedenkt, dann kann man sich wohl nur noch wundern über die verblödende Macht des demokratischen Vorurteils.

(23) Kompromiss sowohl mit der Bauernschaft als auch in einem gewissen Sinne mit dem Weltmarkt: Lenin war sich der Tatsache sehr bewusst, dass der Weltmarkt Russland dazu zwingen würde, strikt kapitalistische Methoden anzuwenden, und er warnte deshalb vor der Gefahr, die darin bestünde, sich dieser Prüfung zu entziehen - mit anderen Worten sich in die Autarkie zurückzuziehen. Diese leninistische Position verteidigte Bucharin 1925 durch den Kampf gegen die bereits deutlichen autarkischen Tendenzen (die Unternehmensführer forderten »echte Schutzzölle« für die russische Industrie und nicht mehr rein fiskalische), der mit seiner sogenannten »Pro-Kulak-Wendung« zeitlich zusammenfiel. Was die vermeintliche »Radikalität« Stalins angeht, so bedeutete sie das genaue Gegenteil davon: So weit wie möglich völliger Bruch mit dem Weltmarkt und zugleich Zerschlagung des Kulakentums.

(24) So urteilte ein amerikanischer Beobachter der »Zwangskollektivierung«, Calvin Hoover, der 1932 ein Werk über »Das Wirtschaftsleben in Sowjetrussland« schrieb. Dieses Werk entspricht genau jenem bornierten »gesunden Menschenverstand«, den Trotzki in »Ihre Moral und die unsere« angesichts derselben Frage zu Recht angriff. Allerdings wurde dieser bornierte Menschenverstand leider nicht von den Gegnern des Kommunismus, wie Hoover, gepachtet, denn wie sonst ließe sich schließlich die wahre Epidemie von »Abschwörungen« erklären, die zwischen 1927-30 unter den russischen Kommunisten grassierte.

(25) Es gibt absolut keinen Widerspruch zwischen dieser Behauptung und der Tatsache, dass eine proletarische Strömung eine solche Politik kritisiert und bekämpft. Zu den Niederträchtigkeiten des Opportunismus gehört nicht zuletzt der Glaube, man müsse sich vor jeder »geschichtlichen Notwendigkeit« beugen, wenn man sie erkennt. Rosa Luxemburg erklärte sehr treffend in der »Juniusbroschüre«, dass es immer zwei historische Notwendigkeiten im Streit miteinander gibt, eine kapitalistische und eine sozialistische; die kapitalistische mag oft mächtiger sein, unsere hat »einen längeren Atem« und wird sich schließlich durchsetzen. Den Einwand, der Marxismus stelle sich ein Armutszeugnis aus, wenn er bekennt, die sogenannten »revolutionären Methoden« nicht dort anwenden zu können, wo Stalin sie einsetzte, braucht man nicht einmal zu berücksichtigen, denn für das Kapital kann der Marxismus doch nichts anderes bedeuten als ein Joch; das Kapital muss eine marxistische Politik abschütteln, sie ist für seine Zwecke »unbrauchbar«. Dies nebenbei. Der Marxismus ist die Theorie der sozialistischen Revolution und kein Entwicklungsrezept für rückständige Länder: Dass andere politische und soziale Strömungen sich bei der Erledigung dieser Aufgabe einer jeglichen »Überlegenheit« rühmen können, ist uns absolut egal. Der einzige wirkliche Verrat am Marxismus besteht allerdings darin, dieser Aufgabe eine sozialistische Bedeutung zuzuerkennen, ob es sich nun um die stalinistische Modernisierung Russlands oder um die maoistische Modernisierung Chinas handelt.

(26) Ein guter Beobachter Russlands (wo er sich während der »Zwangskollektivierung« aufhielt) und objektiver Geschichtsschreiber, aber verheerend als Politiker und erbärmlich als Theoretiker, der Stalino-Trotzkist Isaac Deutscher, ruft irgendwo aus, dass er gar nicht mehr wüsste, was eine »soziale Revolution« sei, wenn man die Umwälzung der Produktionsweise von Hunderten Millionen Menschen im Laufe weniger Jahre nicht als soziale Revolution bezeichnen könnte. OK. Die IKP hat niemals bestritten, dass sich in Russland ab 1927 eine kapitalistische Revolution vollzogen hat, ebensowenig dass diese Revolution einer historischen Notwendigkeit entsprach. Aber die Umgestaltung der Landwirtschaft von 1929-30 hat dieser Revolution einen rückständigen Charakter verliehen, selbst vom kapitalistischen Standpunkt aus. Das beweisen alle Zahlen über die bedauerliche Rentabilität der landwirtschaftlichen Produktion in Russland. Diese Zahlen selbst verurteilen die Kolchose, die sogar von einem den Russen wohlgesonnene Beobachter, wie dem Ökonomen Chombart de Lauwe sehr treffend »die abartige Kolchose« genannt wird.

(27) Auch 1928 weiß Bucharin noch nicht, dass die vereinigte Linke Opposition und Stalin nicht so sehr zwei Fraktionen derselben Partei darstellen, sondern vielmehr zwei verschiedene Parteien, die gegensätzliche Klasseninteressen vertreten, und dass er, Bucharin, derselben Klassenpartei wie die vereinigte Opposition und nicht der Partei Stalins angehört. Er wendet sich daher an Stalin; die stalinistische Fraktion will er überzeugen, weil sie ihm als ein nützlicher Verbündeter erscheint, um einen Sieg der Linken zu vereiteln. Nicht die Auffassungen der Linken über die Parteifrage nehmen Bucharin gegen sie ein, auch nicht ihre Kritik am »Sozialismus in einem Land«, denn seine Übernahme dieser »Theorie« hatte im Grunde nur den Charakter eines politischen Manövers: Berücksichtigt man in der Tat seine eigenen politischen Oberzeugungen einerseits, seine Haltung in der Frage der Autarkie oder Nichtautarkie der russischen Wirtschaft andererseits, so muss man ausschließen, Bucharin hätte den »Sozialismus in einem Land« beim Wort genommen, und vor allem er hätte die nationalistischen Implikationen dieser »Theorie« geteilt. Was Bucharin gegen die Linke einnimmt, d.h. genau was ihn zum tödlichen Bündnis mit dem stalinistischen Zentrismus verleitete, war seine Überzeugung, der Sieg der wirtschaftspolitischen Auffassungen der Linken würde zu einer völligen Entartung des Arbeiterstaates führen; das ist in der Tat auch durch die »Linkswendung« Stalins geschehen. Es ist aber vollkommen klar, dass, wenn jemand die Warnung - als es noch Zeit war - hätte verstehen können, dann auf keinen Fall Stalin als potenzieller Führer der entstehenden neuen Partei, sondern nur die bolschewistische Linke.

(28) Seit 1921 war die Partei in der Auffassung der Bedeutung des »Bündnisses mit der Bauernschaft« erzogen worden, seit 1923 außerdem noch in der Überzeugung, dass die »Feindseligkeit gegenüber dem Muschik« eine trotzkistische Abweichung darstelle. So haben die Militanten und selbst die Funktionäre der Partei die Wendung nicht ohne weiteres hingenommen; sie stellten sich vielmehr gegen die Notstandsmaßnahmen oder kritisierten sie. Die Repression und die »ideologische Kampagne« gegen sie machte vor nichts halt, und dennoch wurde die Fiktion der Einstimmigkeit des Politbüros bis Januar 1929 beibehalten (waren Bucharin, Rykow und Tomski mitschuldig waren). Im Oktober 1928, mitten im Kampf gegen Bucharin, verstieg sich Stalin noch zur Behauptung: »Es gibt keine Rechten im Politbüro. Wir sind im Politbüro einig und werden es bis zum Ende bleiben«. Unverzeihlicherweise widersprach die Rechte ihm nicht und lieferte die eigenen Militanten seinen Schlägen aus; sie glaubte, Stalins Sturz sei unvermeidlich und werde einen kritischen Augenblick der Revolution darstellen, und sie dürfe sich deshalb nicht von der Führung wegjagen lassen.

(29) Trotzki ist überzeugt, dass der Sieg der Recht endgültig ist und spricht von der »letzten Phase des Thermidor«.

(30) Bucharin war soeben öffentlich angegriffen worden.

(31) Stalin betonte wohl gemerkt den spontanen Charakter der Kolchosenbewegung. Das lieferte ihm außerdem den Anlass, eine dieser »Theorien« zu fabrizieren, die einen Schlag ins Gesicht des Marxismus darstellen. In einem Artikel vom August 1930 kritisierte Trotzki die stalinistische These wie folgt:

»Warum lässt sich bei uns, unter den Bedingungen der Nationalisierung des Bodens, so leicht (?! IKP) nachweisen, dass die Kolchose gegenüber dem kleinen Einzelhof überlegen ist? fragt Stalin seine unglücklichen Hörer. Hier zeige sich die große revolutionäre Bedeutung der sowjetischen Agrargesetze, die mit der Nationalisierung des Bodens (...) gleichzeitig die absolute Grundrente abgeschafft haben sollen.« Und Trotzki fährt selbstzufrieden fort: »Stalin beruft sich auf den dritten Band des »Kapitals« bzw. auf Marx’ Theorie über die Grundrente (den Agrarmarxisten - Trotzki meint die Bucharinisten, deren Bündnis mit Stalin er brandmarken will - empfiehlt sich nicht, Blicke zu wechseln, verlegen zu husten oder gar sich unter dem Tisch zu verstecken); Stalin zufolge soll der Bauer im Westen durch die absolute Grundrente an den Boden gefesselt sein. Wir hätten dieses Tier jedoch geschlachtet, und damit wäre auf einen Schlag die verdammte Macht des Bodens über den Bauern endgültig vernichtet (...) Unter den Bedingungen des Handels und des Marktes stellt die Grundrente den Gesamtanteil des Grundbesitzers an dem Gesamtanbauertrag dar (...) Von einer wirklichen Abschaffung der absoluten Rente konnte man erst nach der Vergesellschaftung des Bodens auf dem ganzen Erdball reden, d.h. erst nach dem Sieg der Weltrevolution. Der arme Stalin mag sagen, was er will: Im nationalen Maßstab ist es nicht nur unmöglich, den Sozialismus aufzubauen, sondern selbst die absolute Rente abzuschaffen (...) Die Grundrente kommt auf den Weltmarkt in den Preisen der Agrarprodukte zum Ausdruck. Die Sowjetregierung ist ein Exporteur solcher Produkte, sie verfügt über das Außenhandelsmonopol und tritt somit auf den Weltmarkt als Grundbesitzer auf (...) Ihre Grundrente ist im Preis dieser Produkte enthalten und wird mit deren Verkauf realisiert. Wäre unsere Landwirtschaft auf demselben technischen Niveau der kapitalistischen Lander, dann würde die absolute Rente gerade bei uns in der UDSSR die offensichtlichste und schärfste Form annehmen. Stalin prahlt damit, die absolute Rente abgeschafft zu haben; was in Wirklichkeit geschieht, ist, dass er sie auf dem Weltmarkt nicht realisiert«. Und der Grund dafür liegt »in der heutigen Schwäche unseres Exports und in dem irrationalen Charakter unseres Außenhandels: Nicht nur die absolute Grundrente verschwindet darin spurlos, sondern auch manches andere mehr. Diese Seite des Problems steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Kollektivierung der Bauernhöfe; sie beweist jedoch wieder einmal, dass ein Wesenszug unserer nationalen sozialistischen Philosophie in der Idealisierung unserer ökonomischen Rückständigkeit und unserer Isolation liegt«. So widerlegt Trotzki den absurden Versuch Stalins, »eine zwar sehr breite, aber äußerst schwankende und dem Inhalt mach äußerst primitive Kollektivierungsbewegung« für eine kommunistische Bewegung auszugeben. Was den primitiven Charakter dieser Bewegung angeht, so haben wir bereits darauf hingewiesen, dass sie die Flucht eines Tells der Parzellenbauernschaft vor einem im Westen damals nicht mehr bekannten Elend darstellte. »Wenn die russischen Bauern - schreibt Trotzki weiter - sich von ihrer jeweiligen Scholle relativ leicht trennen, so hat das nichts damit zu tun, sie hätten sich durch das neue Argument Stalins überzeugen lassen, demzufolge sie von der absoluten Grundrente befreit worden seien; sie werden vielmehr von denselben Ursachen getrieben, die vor der Oktoberrevolution periodische Umverteilungen des Bodens hervorriefen Mit anderen Worten, sie konnten sich keiner Differenzialrente erfreuen. Diese wird erst von den landwirtschaftlichen Betrieben realisiert, die eine maximale Rentabilitätsstufe erreicht haben. Gerade diese Differenzialrente erklärt auch die konservative Haltung der ländlichen Kleinbesitzer Im Westen, deren Bindung an den eigenen Hof im selben Verhältnis wie die akkumulierten Arbeits- und Geldausgaben seiner Vorfahren und seiner selbst wächst. Im Gegensatz zu seinen degenerierten Schülern idealisierte Trotzki also keineswegs die Kolchosenbewegung, sondern erkannte als Marxist vielmehr deren ruckständigen Charakter.

(32) Ein amerikanischer Zeuge der »beschleunigten Kollektivierung« schrieb 1932: »Eine Gruppe von 25.000 Arbeitern wurde gebildet, um die neuen Kollektivhöfe zu organisieren. Um diese Gruppe zu stärken, mobilisierte man mit allen Mitteln so viel Stadtbewohner wie möglich, um sie ins Dorf zu schicken. In Moskau wurden die Studenten der Musikhochschulen mobilisiert, um die Kulturrevolution in die Kolchosen zu tragen; Ärzte und Krankenschwestern wurden den Moskauer Kliniken und Hospitälern entzogen, um die Kolchosen medizinisch zu versorgen; eine wachsende Anzahl Lehrer (...) Agronomiestudenten wurden mobilisiert. Die Bauern neigten dazu, alle Leute, die von der Stadt kamen, als Agenten der Sowjetregierung zu betrachten (...) In den Gebieten, die von nationalen Minderheiten bevölkert waren, führten aufständische Bauern Jagdzüge gegen die Russen und ermordeten sie alle, ohne Rücksicht auf deren politischen Standpunkt. Um sein Leben zu retten, musste jeder Städter, der ins Dorf geschickt wurde, sich in einen Soldaten der kommunistischen Sache verwandeln« (der Autor ist kein Marxist und weiß überhaupt nicht, was »kommunistische Sache« ist: Damit bezeichnet er die Regierungsoffensive, IKP). » (...) Viele Arbeiter, die von den Städten gekommen waren, um die Kolchosen zu führen, wurden ermordet. Die Regierung ließ solche Geschichten nur selten in der Presse erscheinen, und so flüsterte man sich die schrecklichsten Gerüchte ins Ohr über Folterungen von Arbeitern durch Bauern (...) und viele Gerüchte über Bauern, die nachts die Arbeiterhäuser umstellten und in Brand steckten.« (Calvin Hoover, »Des Wirtschaftsleben in Sowjetrussland«, zitiert nach der französischen Ausgabe).

(33) Hoover erzählt im zitierten Werk: »Insbesondere hat es Aufstände gegeben im Nordkaukasus, in den kleinen Republiken der kaukasischen Föderation, im Turkestan und selbst im Gebiet von Riazan, einige Stunden von Moskau entfernt. Diese Meutereien erfolgten im allgemeinen in den von nationalen Minderheiten bevölkerten Gebieten, wo die Tradition der bewaffneten Verteidigung der Freiheit noch lebendig war und das Gefühl der nationalen Solidarität es verhindert hatte, die Biedniaki für die Sache der Kollektivierung zu gewinnen; sie beschränkten sich aber nicht auf diese Gebiete.«

(34) Es soll einen Fall von Gehorsamsverweigerung in der Armee gegeben haben, nachdem befohlen worden war, auf Bauernmassen zu schießen. Deutscher schildert andererseits die Verwirrung eines GPU-Offiziers, den er in dieser Zeit in Russland getroffen hat: Es handelte sich um einen alten Militanten aus der Zeit des Bürgerkrieges von 1918-21, der »über die jüngsten Erfahrungen auf dem Lande völlig verzweifelt war.« Dieser Gemütszustand dürfte kein Einzelfall gewesen sein.

(35) Unzählige Leser werden diese »Erklärung« in der Schrift »Die unvollendete Revolution« des »Marxisten« Isaac Deutscher gefunden haben (S. 27 der Taschenbuchausgabe in der Fischer Bücherei, Frankfurt 1970). Man muss Deutscher das »Verdienst« zugutehalten, die unhaltbarsten Thesen des Opportunismus in aller Reinheit zu formulieren und auf den üblichen Rückgriff auf die Demagogie, mit welcher sie im Allgemeinen umgeben werden, zu verzichten

(36) Die weiter oben zur einfacheren Beweisführung zitierte These impliziert ja, dass die Zerstörung der bolschewistischen Partei ( die nur von ausgekochten Stalinisten geleugnet wird) keine Zerstörung der proletarischen Klassenpartei bzw. keine Entfernung des Proletariats von der macht bedeutet habe, sondern lediglich die Beseitigung der bis dahin vorherrschenden Strömung, die durch eine Mischung aus Kommunismus und bürgerlich-revolutionärem Demokratismus gekennzeichnet sei. Behalten wir einen klaren Kopf und schauen wir uns an, was daraus folgt. Wenn das stimmen sollte, dann hätte die politische Konterrevolution von 1927-29 im Hinblick auf den Sozialismus keine größere Tragweite gehabt als z.B. die Ablösung der Jakobinerrepublik (politische Form der demokratischen Revolution durch das bürgerliche Empire Napoleons - man kann hier von den Übergangsstufen absehen). Man könnte dann zwar in beiden Fällen diejenigen, die über die Geschichte zu meditieren pflegen, ruhig dem Gedanken nachgehen lassen, ob diese politische Änderung nun »bedauernswert« war oder nicht; in keinem der beiden Falle hätte diese Änderung jedoch die ökonomische und soziale Revolution (d.h. der Sozialismus im Falle des stalinistischen Russlands und der Kapitalismus in Napoleons Frankreich) daran gehindert, ihren Siegesmarsch fortzusetzen, was ebenso für alle Nachfolgeregimes einschließlich des heutigen poststalinistischen gelten müsste. Aber dann könnte man den weltweiten revolutionären Internationalismus der bolschewistischen Partei nicht mehr als eine unabdingbare Charakteristik der Klassenpartei, d.h. als ein unantastbares Prinzip des kommunistischen Programms betrachten. Der revolutionäre Internationalismus wäre damit eine Art Schmuckgegenstand der Lenin’schen Republik gewesen, dasselbe, was die jakobinische Tugend in der Republik Robespierres bedeutet hatte und so überflüssig wie diese: Der Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale; der Misskredit, in den der Kommunismus weltweit geraten ist; der zweite imperialistische Krieg und die Unfähigkeit des Proletariats, ihm ein Ende zu setzen; die ein Vierteljahrhundert danach immer noch herrschende politische Desorganisation des Proletariats, die dem zeitgenössischen Kapitalismus die schönsten Tage beschert - das alles soll nichts zählen oder wird als nebensächlich betrachtet. Es fragt sich nur, welche Doktrin, so konservativ und traditionalistisch sie auch sein mag, erbärmlicher als eine solche mondäne Verwässerung des revolutionären Marxismus sein könnte.

(37) Deutscher offenbart seinen unglücklichen Lesern (die durch keine Parteitradition und keine Klassentheorie vor seiner Sophistik geschützt werden, da ja die Klassenpartei heute extrem schwach ist und mit ihrer Propaganda nur eine verschwindende Anzahl Proletarier erreichen kann), dass Eugen Varga, der offizielle Ökonom des Regimes, sich in den 30er Jahren nicht davor scheute, im privaten Kreise zuzugeben, die Theorie des »Sozialismus in einem Land« sei eine »Trosttheorie«. Damit soll der Leser offenkundig zur Schlussfolgerung ermuntert werden, dass es schließlich egal ist, wie man darüber denkt, da das vollbrachte Werk ja sowieso proletarisch war. Das heißt so viel, als dass die Rolle der Partei nichts zählt, welche nicht nur die Arbeiterklasse, sondern tendenziell die ganze Gesellschaft erziehen und emanzipieren soll, statt sie - wie bisher alle Klassenherrschaften - zu belügen und zu betrügen. Das heißt so viel, als die in Wirklichkeit grundlegende Bedeutung der Theorie des »Sozialismus in einem Land« bei der Zerschlagung der internationalen proletarischen Bewegung (der im Namen dieser »Theorie« die verheerendsten politischen Wenden aufgezwungen wurden) Völlig zu leugnen. Nun war diese Frage seit dem XIV. Parteitag von 1925 sehr deutlich gestellt worden. Obwohl er niemals ein Nationalkommunist gewesen ist, entgegnete Bucharin der Linken in übelster opportunistischer Manier: »Man will den neuen Schichten der Arbeiterklasse erklären, dass wir nicht den Sozialismus sondern den Staatskapitalismus aufbauen, dass wir es nicht fertigbringen werden, die Schwierigkeiten, die sich aus unserer mangelhaften Technik und aus der Verspätung der Weltrevolution ergeben, zu überwinden - gerade diese Geistesstimmung müssen wir zurückweisen und bekämpfen.« Sinowjew gab darauffolgende schöne Antwort, die noch deutlicher ist als viele Ausführungen des großen Trotzki, leider aber nicht so bekannt wie diese: »Die Arbeiter haben nicht das Bedürfnis, durch schöne Phrasen ermuntert zu werden. Sie kennen sehr gut die starken und die schwachen Seiten unserer Wirtschaft, insbesondere der Staatsindustrie. Sie wissen genau, dass wir diese Betriebe erobert und ihre Ausbeuter verjagt haben (...) aber sie wissen ebenso gut, dass ihre Fabriken an den Markt gebunden sind. Sie erkennen sehr deutlich alle Schatten des Bildes, und es ist nutzlos, ihnen die Pille zu vergolden (...) Es ist klar, dass es bei uns einen Kapitalismus und einen Staatskapitalismus gibt. Man muss das den Arbeitern offen sagen. Wenn wir das nicht tun, dann werden wir ihnen als Lügner vorkommen, und damit werden sie Recht haben. Das ist eine ernste politische Frage, über die man nicht hinweggehen kann. auf diesem Gebiet wird es niemandem gelingen, den Leninismus so schnell zu revidieren

(38) 1929 betrug die Investition in der Industrie 7,6 Milliarden, eine im Übrigen äußerst niedrige Summe. Wir wissen nicht, welcher anteilige Investitionsumfang erforderlich wäre, um die Landwirtschaft mit den 250.000 Traktoren zu versehen, die damals für notwendig erachtet wurden. Der Besitz des Kulakentums in Höhe von 400 Millionen Rubel war in dieser Beziehung jedoch auf jeden Fall unbedeutend.

(39) Von diesem graben und verteilerischen Kommunismus sagt Marx, sein Wesen sei der Neid, also die Kehrseite und nicht die Negation des bürgerlichen Eigentums.

(40) Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die hysterischen Ausrufe zur »Ausrottung« der Kulaken (die man übrigens, wie Trotzki erzählt, ins Zuchthaus steckte, überall verfolgte und denen man keine ökonomische Aktivität, nicht einmal als Industriearbeiter erlaubte, so dass sie mitunter zu Banditen wurden) mit den klaren Argumenten zu vergleichen, mit denen Lenin 1921-22 die Verpachtung der russischen Betriebe an ausländische Kapitalisten verteidigte, die bereit wären, ihr Kapital in Russland anzulegen, oder mit seinen sarkastischen Bemerkungen gegen die Genossen, die damit prahlten, den »Kommunismus mit ihren eigenen Händen aufbauen« zu können. Lenins Antikapitalismus steht über jedem Verdacht: Es handelt sich um einen modernen und proletarischen Antikapitalismus und nicht um eine Ideologie utopischen oder reaktionären Gehalts.

(41) Zitiert nach P. Broué »Parti bolchévique«.

(42) Die Ironie richtet sich selbstverständlich gegen den stalinschen Voluntarismus, der sich einbildete, allein dank der Staatsgewalt eine gesellschaftliche Kontrolle über die Produktion durchsetzen zu können. Diese Kontrolle ist andererseits im Gegensatz zu den impliziten oder expliziten Auffassungen der poststalinistischen Sowjetreformer keineswegs ein an sich unmögliches Ding; sie setzt aber eine Verallgemeinerung der assoziierten Arbeit und das Aufhören des vom Bedürfnis erzwungenen Kampfes Aller gegen Alle voraus.

(43) Daraus geht klar hervor, dass Trotzki sich nicht einbildet, die Bolschewiki würden, wären sie noch an der Macht, die gesellschaftliche Kontrolle der Warenproduktion durchführen können. Trotzki richtet sich in seiner Kritik gegen die Illusion, die der Stalinismus verbreiten möchte.

(44) 1932, als der zitierte Artikel geschrieben wurde, erkannte Trotzki bekanntlich nicht, dass die proletarische Diktatur gestürzt worden war. Das mindert aber nicht den Wert seiner Kritik an den Prahlereien des »Sozialismus in einem Land«.

(45) Die Lebensmittelproduktion gehört zum Sektor B. Wir werden sie gesondert behandeln, weil sie, nicht nur alle Fragen, die sich aus der obigen Tabelle ergeben, wieder stellt, sondern auch die Frage der Reaktion der Kolchosbauern auf die ökonomische Unterdrückung durch das staatseigene industrielle Großkapital.

(46) Nach 1929 hat man mit einer neuen Arbeiterklasse zu tun, die absolut nicht mehr mit dem Proletariat des Oktobers identisch ist, jenem »Wonder der Geschichte«, wie es Preobraschenski einmal in einem Augenblick der Rührung zu Recht bezeichnete. Um den ungeheuerlichen politischen wie sozialen Rückschritt der Arbeiterklasse nach den Bürgerkriegsjahren zu verstehen, muss man sich diese gigantische Mutationserscheinung stets vor Augen halten.

(47) Man muss darauf hinweisen, dass Lenin, der in seinem »Testament« Trotzki eben dessen »übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen« vorwarf, einer Erweiterung der Befugnisse des Gosplans (die von Trotzki gefordert wurde) sehr lange widerstand. In seiner Kritik der stalinistischen Planung wird Trotzki selbst später die mutmaßlichen Beweggründe Lenins untersuchen: Keine behördliche Autorität ist imstande, über den Rahmen der tatsächlich gegebenen Ökonomischen Bedingungen zu gehen, der Wille allein kann noch keine sozialistische Kontrolle der Volkswirtschaft durchsetzen. In seinem Kampf gegen die »Planer« stand Bucharin deshalb der Position Lenins und dem Marxismus näher als Trotzki selbst: Andererseits darf man nicht vergessen, dass Trotzki in seiner Kritik an den Ungereimtheiten des ersten stalinistischen Fünfjahresplanes den Kern der Argumente Bucharins übernahm. Wie wir im Hinblick auf die Auseinandersetzeng von 1923 bemerkten, hat Trotzki der Staatsplanung niemals jene magischen Eigenschaften zugeschrieben, die der Stalinismus darin sah. Der in der Folge zitierte Artikel Trotzkis markierte also keine »Wende« im eigentlichen Sinne des Wortes: Er blieb nach wie vor im Rahmen des marxistischen Determinismus.

(48) Wenn man bedenkt, dass nach der »kühnen« Konstruktion Deutschers die demokratisch-bürgerliche Revolution »zerstört« wurde, um dem Fortschritt der »rein kommunistischen« Revolution Platz zu machen, mutet es etwas merkwürdig an, dass die Sowjetherren selbst ganz offen zugeben, die Oktoberrevolution habe schließlich vor allem der Bauernschaft materiell »genutzt«, deren Lebensstandard sich um 11% erhöht haben soll, wohingegen die Arbeiterschaft mit 7% vorliebnehmen musste.

(49) Der Sozialismus wird zugleich eine Rationalisierung und eine Erhöhung der Konsumtion bringen; infolge der Abschaffung der Klassen mit auseinandergehenden Interessenwird er jedoch vor alles eine Harmonisierung des gesellschaftlichen Lebens bedeuten. Zweifellos erhöht der Kapitalismus in seiner letzten und parasitären Phase zeitweise den Massenverbrauch; allerdings werden solche Perioden von anderen abgelöst, wo die Konsumtion infolge von Kriegen und Krisen wieder sehr tief sinkt. Man darf auch nicht vergessen, dass der Kapitalismus die Bedürfnisse noch mehr erhöht als die wirkliche Konsumtion. Andererseits, wenn er in einem bestimmten Maße die Arbeitermassen korrumpiert, so unterscheiden sich Bedürfnisse und Verbrauchsstruktur dieser Massen immer sehr deutlich von den in derselben Zeit vorhandenen Bedürfnissen und der Verbrauchsstruktur der Großbourgeoisie, ja selbst der Mittelklassen, denn in diesen beiden letzten Fällen steht die schamlose Verschwendung in einem direkten Zusammenhang mit der Sorge um das soziale Ansehen. Betrachtet man sie mit den Maßstäben der Jahrhundertwende, so können die heutigen Bedürfnisse der Arbeitermassen und selbst deren Konsumtion wohl »bürgerlich« erscheinen, ein solcher Vergleich hat aber kaum einen Sinn. Was hier zählt, ist, dass der bürgerliche Fortschritt den ökonomischen Antagonismus zuspitzt und nicht abstumpft, sowie dass die heutigen Arbeiter keineswegs eine Kopie der Bourgeois der Jahrhundertwende sind, sondern mit oder ohne Autos, Kühlschränken und dergleichen Bagatellen die Unterdrückten und Ausgebeuteten von heute. Jede andere Erwägung ist an sich schon verdächtig. Was soll man aber erst sagen, wenn zum einen beschleunigte Mechanisierung mit Sozialismus, zum anderen Konsumtionserhöhung mit ... Kapitalismus gleichgestellt werden? Eine solche Gleichstellung ist, gelinde gesagt, eine Gemeinheit. Nebenbei gesagt bildet die »beschleunigte Mechanisierung« lediglich einen Aspekt der Entwicklung der Produktivkräfte; in der marxistischen Auffassung bestehen diese im Wesentlichen in den Produktionsfähigkeiten der Menschen, die der Kapitalismus infolge der Abstumpfung und der Fachidiotie auf einem niedrigen Niveau hält.

(50) Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Herr Bettelheim hat sich inzwischen dem Druck der Tatsachen gebeugt, freilich um sich noch besser dem Druck der bürgerlichen Ideologie beugen zu können. Siehe seine »Klassenkämpfe in der UdSSR«, deren erster Teil bereits in Deutsch vorliegt und deren zweiter Teil vor kurzem in Frankreich erschien.

(51) Für die Produktion von Pflanzenölen, Nahrungsfetten und Fleisch geht der Satz von 33% bis 88%; bei Tabak und Branntwein beträgt er 100%, das ist aber nicht weiter anstößig.

(52) Der zaristische Imperialismus ist infolge seiner halbkolonialen Abhängigkeit gegenüber den Ententeländern und des unglaublich archaischen Charakters seiner Armee keineswegs als ein moderner Imperialismus zu betrachten!

(53) Diese Zahlen wurden von J. Chombart de Lauwe in seinem gut dokumentierten Werk »Les paysans soviétiques« (1961) veröffentlicht. Wir haben diesem Werk die Angaben über die Hektarerträge und die qualitative Struktur der russischen Landwirtschaft entnommen.

(54) Für1965 haben wir folgende Zahlen (Indexe): Rinder 110 (+10%), Kühe 95 (-5%), Schafe 103 (+3%), Schweine 180 (+80%).

(55) Die ausserökonomische und aussergeschichtliche Auffassung, derzufolge diese Revolution - die die Fleischnahrung zusätzlich zur überlieferten Getreidenahrung eingeführt und dann verallgemeinert hat - verheerende Folgen für die Gesundheit der Menschen hatte, kann man hier getrost beiseitelassen: Es handelt sich um die Theorie der »Vegetarier«, eine Variante des »bürgerlichen Sozialismus«, über die sich schon Marx und Engels lustig machten.

(56) Die andere Reihe liefert folgende Zahlen für die Investitionen in der Industrie: 1929 = 7,6 Milliarden (gegen 2,615 in der obigen Tabelle) - 1930 = 18,7 - 1931 = 18,4 - 1932 = 21,6 - 1933 = 18 - 1934 = 23,7 - 1935 = 27,8 - 1936 = 33,8 - 1937 = 38,1 (anstelle von 13,928!) - 1939 = 40,8 - 1940 = 43,2 Milliarden. Die Quellen für beide Zahlenreihen sind sowjetisch, und der Grund für die riesigen Abweichungen ist uns nicht bekannt.

Bettelheim, des seine Zahlen einem Werk von 1936 (SSSR Strana sotsializma) entnahm, nennt selbst einen Anteil von 25% für das Jahr 1931, bzw. 20% für 1932 und 18% für 1935, also Anteile, die deutlich hinter denen zurückliegen, die man anhand der Zahlen ausrechnen kann. Der Grund für die Abweichung scheint darin zu liegen, dass es die Investitionen in der Landwirtschaft nicht mit den Investitionen in der Industrie allein vergleicht, sondern mit den Gesamtinvestitionen (also einschließlich Transportwesen und Handel).

(57) Die Progression der Kolchosen geht ausfolgender Zahlenreihe sowjetischen Ursprungs hervor (es handelt sich um den Kolchosenanteil an der Saatfläche): 1929 = 3,9% (vor der Herbstoffensive, wohlgemerkt!) - 1930 = 52,7% - 1932 = 61,5% - 1937 = 93%.

(58) Chombart de Lauwe bezieht sich hier auf ein »unveröffentlichtes Dokument«, das ihm wahrscheinlich von einem Mitglied eines von ihm aufgesuchten wissenschaftlichen Instituts gezeigt wurde. Dass die pseudokommunistische Partei kein Interesse an der Verbreitung eines solchen Dokuments haben kann, liegt auf der Band, denn daraus geht eine der Ursachen ihres landwirtschaftlichen Misserfolges hervor. Chombart de Lauwe selbst wurde dessen nicht gewahr, und das ist nicht verwunderlich. Er ist ein naiver französischer Fachmann, der Stalinismus mit Kommunismus in einen Pott wirft. So kann er, ganz in der offiziellen Optik der Sowjetregierung, dazu schreiben: »wenn man von der Optik der sowjetischen Agrarpolitik ausgeht, der ja der Fortschritt zum Kommunismus zugrunde liegt«, dann kann man an der absoluten Priorität für die Industrie »keinen Anstoß nehmen«!!! Schon wieder einer, der nicht verstanden hat, dass der »Fortschritt zum Kommunismus« der Prozess der Emanzipation des Proletariats ist, ein Prozess, der sich wohlgemerkt nicht auf eine gute Lebensmittelversorgung beschränkt, diese allerdings - zumal für ein kommunistisches Regime, das angeblich seit fünfzig Jahren besteht – voraussetzt!

(59) In seiner Stalinbiografie schreibt I. Deutscher, dass Stalin im Januar 1934 (also als der Höhepunkt der »Entkulakisierungs«- Krise und der Hungersnot vorüber war) auf einer Vollversammlung des ZK erklärte, nunmehr sei die »mörderische Gefahr« auf dem Lande überwunden, andererseits werde der erste Fünfjahresplan nicht erfüllt werden. Deutscher fährt fort: »Einige Tage später stand er schon wieder auf der Rednertribüne, um die Gefahren an die Wand zu malen, die nach wie vor in dem Agrarproblem steckten. Er setzte die Partei mit der Feststellung in Erstaunen, dass die Kollektivfarmen unter Umständen für das Regime eine roch viel größere Gefahr darstellen könnten als die private Landwirtschaft. In den Tagen von einst sei die Bauernschaft zerstreut und isoliert gewesen. Man hätte sie nur schwer in Bewegung bringen können. Damals habe ihr die Fähigkeit zum politischen Zusammenschluss gefehlt. Seit der Kollektivierung seien die Bauern in Gruppen organisiert. Sie könnten die Sowjetregierung unterstützen, sich aber ebenso gut auch gegen sie wenden, wobei ihre Tätigkeit wirkungsvoller sein würde als die einer unorganisierten, privaten Bauernschaft. Um eine scharfe Aufsicht der Partei über die Kolchosen zu gewährleisten, wurden jetzt die »Politischen Abteilungen auf dem Lande« eingerichtet.« (deutsch bei Kohlhammer, Stuttgart 1962, S. 358f, Unterstreichungen IKP). Der Unterschied zur bolschewistischen Phase zeigt sich hier am Beispiel der Parteirolle mit aller Deutlichkeit: Früher hatte man die schwache politische Verankerung der kommunistischen Partei Russlands im Dorfe als ernstes Problem angesehen, weil darin gerade zum Ausdruck kam, wie schwach der proletarische und kommunistische Einfluss noch war. 1934 geht es hingegen schlicht und einfach um die polizeiliche Staatsaufsicht auf dem Lande!

(60) Diese Zahlen lieferte Chombart de Lauwe in »Paysans soviétiques«. Dieser Autor hat das Verdienst, nachdrücklich auf das Fortbestehen der privaten Kleinwirtschaft innerhalb der Kolchose hinzuweisen, während die Sowjetregierung ihrerseits vermeidet, das erdrückende Gewicht dieser privaten Kleinhöfe herauszustreichen. Das ist auch verständlich, denn der schreiende Widerspruch zu der Auffassung, die dem Statut der Kolchose von 1935 und der Verfassung von 1936 zugrunde liegt, würde sonst in aller Schärfe auftreten. (Die Kolchose ist demnach bekanntlich eine »gesellschaftliche Form der sozialistischen Wirtschaft«, der »Weg des allmählichen Übergangs zum Kommunismus«, gar eine »Schule des Kommunismus für die Bauernschaft«). Nach den zwei erwähnten Denkmälern opportunistischer Niederträchtigkeit mussten die Kolchosbauern sich verpflichten, »ihre Kolchose zu festigen, gewissenhaft zu arbeiten, den Ertrag nach der Arbeitsleistung zu verteilen, Staats- und Kolchoseigentum zu bewahren, die Pferde sorgfältig zu pflegen, die vom Arbeiter- und Bauernstaat erteilten Aufgaben durchzuführen« usw. usf., wobei sie ihrer Kolchose einen »wahrhaft bolschewistischen Charakter« verleihen und zugleich den eigenen »Wohlstand« sichern würden. Da nun der »Wohlstand« sich allerdings nicht so bald zu kommen bequemte, taten die Bauern nichts von alledem (wobei all diese schönen Aufgaben mit »Bolschewismus« nichts zu tun hatten).

(61) Quelle, »Recueil statistique de l’économie nationale de l’URSS«, 1957 und »Étude sur la situation économique de l’Europe en 1958« (UNO, 1959), zitiert von Chombart de Lauwe im mehrfach erwähnten Werk.

(62) Diese klare Schilderung befindet sich auch in »Paysans soviétiques« von Chombart de Lauwe.

(63) So belegen die Tatsachen wieder einmal die Richtigkeit der Marxschen Kritik an der utopischen Vorstellung, die Arbeiter könnten sich durch die Bildung von Genossenschaften, die an die Stelle der traditionellen kapitalistischen Unternehmen treten würden, emanzipieren.

(64) Chombart de Lauwe, »Paysans soviétiques«.

(65) Für das Jahr 1938 liefert Bettelheim folgende Zahlen: Anteil der einzelnen Kolchosbauern an dem Kolchoshandel: 73%; Anteil der Kolchosen: 3/5 der verbleibenden 27%; die restlichen 2/5 lagen in den Händen der »letzten Mohikaner« der freien Kleinbauernschaft.

(66) Chombart de Lauwe, ein sehr guter Beobachter, schreibt dazu: »Ein Landwirt des Pariser Beckens wäre äußerst verlegen, wenn man ihm sagen würde, er könne über zwanzig Arbeiter für den Anbau seiner 200 Hektar verfügen, es sei jedoch nicht möglich zu erfahren, ob jeder Arbeiter ihm 1.500 oder 3.000 Arbeitsstunden liefern werde. Nun, der Vorsitzende der Kolchose befindet sich in einer ähnlichen Lage, weil der Kolchosbauer seine Zeit zwischen seinem Einzelhof und der Kolchose aufteilt (...) Das Fernbleiben von der Arbeit gehört zu den ernsten Krankheiten der Kolchose«. Er zitiert ein Beispiel aus der sowjetischen Wirtschaftsliteratur: »Die zweite Anbaubrigade einer Kolchose im Gebiet von Kaluga erfasst 63 arbeitsfähige Personen. Ein großer Teil davon hat 1955 an der kollektiven Produktion nicht teilgenommen. Im Januar haben 26 Personen nicht gearbeitet, im Februar waren es 31, im März 32, im April 26, im Mai 29, im Juni 23, im Juli 15, im August 11, im September 23, im Oktober 20, im November 27 und im Dezember 25. Doch hatte die Kolchose Arbeit für alle Kolchosmitglieder. Sie besitzt genügend Land, um ihren Viehbestand um ein Mehrfaches zu vergrößern, den Kolchosmitgliedern mehr Arbeit in der Kollektivwirtschaft zu geben und die ganze Produktion zu steigern.« Warum dieser Aderlass von Arbeitskräften? »Wenn die Preise auf dem Kolchosmarkt hoch sind, arbeitet das Kolchosmitglied zunächst für sich und dann für die Kolchose Eine »abartige Kolchose« in der Tat! Noch abartiger ist allerdings die Einbildung Stalins, den Markt auf administrativem Weg abschaffen zu können, oder seine Absicht, eine schnellere Entwicklung der russischen Gesellschaft durch eine Überzogene Auspressung von Arbeit und Produkten zugunsten der Industrialisierung zu gewährleisten (wobei klar ist, dass keine Macht von einer Betonung des Industrialisierungsanstrengungen hätte absehen können).

(67) Zumal wenn man bedenkt, dass dieser Sozialismus entsprechend der These von der »rein kommunistischen Revolution« in den Jahren 1929-30 nunmehr 28 Jahre als sein soll!

(68) Bei Deutscher und Lauwe wird die erstaunliche Zahl von 17-18 Millionen Kolchosarbeitern gegeben. Das ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass nur die Familienoberhäupter gezählt werden.

(69) Die in dieser Zahl enthaltene Anzahl reiner Arbeiter ist nicht genau zu ermitteln.

(70) Deutscher, »Die unvollendete Revolution«, 1967, S.45 der deutschen Taschenbuchausgabe in der Fischer-Bücherei.

(71) Alle anderen Erwägungen beiseitegelassen, liegt hier der Grund dafür, dass Linke wie Rechte dem Stalinismus entgegenhielten, der Stolz über die »prächtige Ökonomische Isolierung« Russlands käme dem Stolz über dessen Rückständigkeit gleich.

(72) Dieser Punkt wurde in allen unseren Parteiarbeiten über Russland ausführlich behandelt, und wir werden nicht erneut bei ihm verweilen. Für den Leser, der unsere sonstigen Publikationen nicht kennt, dürfte folgender Hinweis zunächst genügen: Während das kapitalistische Russland Nr. 2 endlos hinter dem amerikanischen Konkurrenten herläuft, wartet dieser nicht ganz ruhig, bis er eingeholt wird: Er läuft selber auch in der Geschwindigkeit, die ihm seine Macht und sein Alter gestatten, und er hat den Vorteil eines beachtlichen Vorsprungs. Russland wurde sehr lange durch die höheren Jahreswachstumsraten, die für jüngere kapitalistische Lander charakteristisch sind, begünstigt, aber auch Russland leidet unter dem Gesetz der Abnahme der Wachstumsraten; darin äußert sich das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, und das ist in allen Ländern feststellbar. Mit einfacheren Worten: Der Konkurrent, der später auftrat, wird auch älter und wächst dementsprechend immer langsamer. Seine Chancen, den mächtigeren Rivalen einzuholen, werden damit geringer, selbst wenn auch dieser immer langsamer fortschreitet. Dieses Gesetz der Abnahme findet in folgenden Zahlen eine gute Illustration:

 

Wachstumsraten der russischen Industrie (durchschnittliches Jahreswachstum)
 Periode ver den Plänen (1922-28): 23%
 Fünfjahresplan (1929-32): 19,2%
 Fünfjahresplan (1933-37): 17,1%
 Fünfjahresplan (1938-40): 13,2%
 Kriegsperiode (1941-46):
 (durchschn. Jahressenkung)
-4,3%
 Jahre des 4. Plans (1947-51): 22,6% 
 Fünfjahresplan (1951-55): 13,1% 
 Fünfjahresplan (1956-58): 10,3%
 Siebenjahresplan (1959-65): 9,1%

 

Ergänzung zur deutschen Ausgabe:

Sieht man von den im Krieg eroberten Gebieten ab, die äußerst rückständig waren und damit unverhältnismäßig hohe Wachstumsraten erlaubten, so beträgt die Wachstumsrate für die Wiederaufbauperiode (1946-50): 13,5% im Jahresdurchschnitt. Nach neueren Angaben betrug die jährliche Wachstumsrate im Laufe des Siebenjahresplanes für die Jahre 1961-65: 8,6%. Zwischen 1966-70 (8. Plan) betrug sie 8,4%, zwischen 1971-75;7,4%. Für den 10. Plan (1976-80) werden amtlicherseits 6,5% erwartet, diese Zahl wird jedoch - so viel steht schon jetzt fest - nicht erreicht werden können. Diesbezüglich siehe auch »Der Mythos der »sozialistischen Planung« in Russland« im Bulletin der IKP Nr. 11, Juli 1976.

 

 

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